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Die doppelte relative Mehrheit: Wie der Vertrag von Lissabon Juncker zum Kommissionpräsidenten macht

Renke Deckarm, Sebastian Fietkau

„Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament.“

Dieser Satz im Artikel 17 des EU-Vertrages ist dieser Tage in Europa wohl entscheidend. Denn nach den Europawahlen am 25. Mai ist es nun an den 28 europäischen Staats- und Regierungschefs einen neuen Präsidenten der Europäischen Kommission vorzuschlagen. Wird es Jean-Claude Juncker, Martin Schulz, oder doch jemand ganz anderes? Die Berücksichtigung der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) bringt eine neue Facette in die ohnehin schon komplexe Ernennung des Kommissionspräsidenten. Bis 1993 hatte das EP keinerlei Mitspracherecht und die Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat entschieden alleine über die Zusammensetzung der Kommission. Danach konnte das EP zum Vorschlag der Mitgliedsstaaten über den Kommissionspräsidenten eine Meinung abgeben und schließlich über die Kommission als Ganze abstimmen. Seit 2003 stimmt das Parlament über den Vorschlag des Europäischen Rates ab und nach dieser Europawahl muss der Vorschlag zum ersten Mal die Mehrheitsverhältnisse im EP berücksichtigen. Geändert hat sich auch die Verfahrensregel im Europäischen Rat: War bis 2003 noch Einstimmigkeit sowohl bei der Entscheidung über den Präsidenten als auch über die ganze Kommission notwendig, reicht seit 2003 dafür die qualifizierte Mehrheit.

Die Entscheidungsfindung kann dabei mit der Prinzipal-Agenten Theorie erklärt werden. Die Prinzipale (bisher der Europäische Rat) wählen ihren Agenten (den Kommissionspräsidenten) so aus, dass dieser ihre Interessen bestmöglich vertritt. Die Parteizugehörigkeit des jeweiligen Präsidenten und die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat sind also entscheidend. Wie wurden also die Präsidenten seit 1992 ausgewählt? Die Grafik stellt die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat und im EP bei der Ernennung der jeweiligen Präsidenten seit 1992 dar. Der Franzose Jacques Delors wurde wohl wegen seines großen Einflusses auf die europäische Politik als Sozialist trotz gegenteiliger Mehrheitsverhältnisse im Rat für eine dritte Amtszeit wiedergewählt – diese war ohnehin nur auf zwei Jahre angelegt, um künftige Kommissionen direkt nach den Wahlen zum EP ernennen zu können. Die Parlamentsmehrheit wurde zu der Zeit noch kaum berücksichtigt. Der konservative, luxemburgische Politiker Jacques Santer folgte 1994 auf Delors; gemäß dem inoffiziellen Turnus, der bis dahin gegolten hatte: Konservativer (bzw. Liberaler) aus kleinem Mitgliedsstaat folgt auf Sozialist aus großem Mitgliedstaat. Santer hatte jedoch auch eine absolute Mehrheit konservativer Staats- und Regierungschef im Rat hinter sich. Romano Prodi, der bei seiner Ernennung als Kommissionspräsident einer liberalen italienischen Partei angehörte, erhielt 1999 sowohl die Unterstützung der konservativen als auch der dominierenden sozialistischen Parteien. Fünf Jahre später hatten die Konservativen im Parlament ihre Mehrheit zurückgewonnen. Diese standen jedoch den einflussreichen sozialistisch regierten Ländern Spanien, Deutschland und dem Vereinigten Königreich gegenüber. Nach mehreren gescheiterten Vorschlägen konnten die Konservativen schließlich ihre Mehrheit im Parlament nutzen und wählten den Portugiesen José Manuel Barroso zum neuen Kommissionspräsidenten. Hier wird erstmals die wachsende Relevanz der Mehrheit im EP deutlich, die vom Europäischen Rat berücksichtigt wurde. Barroso wurde 2009 einstimmig vom Europäischen Rat wiedergewählt, stieß aber auf großen Protest der sozialistischen und grünen Parteien im Parlament. Mit der konservativ-liberalen Mehrheit wurde sein Mandat schlussendlich jedoch im EP bestätigt.

Wie sieht die aktuelle Lage nach den Wahlen zum Europäischen Parlament nun aus? Im Rat stehen zwar elf sozialistischen Staats- und Regierungschef elf Konservativen gegenüber, doch haben die Volksparteien nach dem 2003 eingeführten gewichteten Stimmrecht knapp 44% der Stimmen. Doch selbst mit Hinzunahme der drei liberal geführten Regierungen reicht dies nicht für eine qualifizierte Mehrheit. Hinzu kommen verschiedene Koalitionskonstellationen in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Unter diesen Gesichtspunkten spräche für die Fortführung der einstimmig getroffenen Entscheidungen im Europäischen Rat. Dieses Jahr wird die Lage jedoch etwas komplexer: Die Rolle des EPs wird durch den Vertrag von Lissabon so gestärkt, dass es als zweiter Prinzipal verstanden werden kann. Die europäischen Parteien haben es sehr gut verstanden, die im Vertrag verankerte „Berücksichtigung der Wahlergebnisse“ für sich zu nutzen: Durch die Nominierung von Spitzenkandidaten wurde Europas Wählern suggeriert, dass diese danach automatisch eine Mehrheit im Parlament zu bilden hätten. Damit ginge das Vorschlagsrecht von den Staats- und Regierungschef auf die Wähler über. Diese offensive Lesart wurde natürlich von ersteren nicht begrüßt – lauter Widerspruch regte sich in Europas Hauptstädten auch nicht. Eine Abkehr von den Spitzenkandidaten nach der Wahl und eine Ernennung einer Person, die nicht „zur Wahl“ stand, ist schwer denkbar. Denn neben dem erwartbaren öffentlichen Aufschrei wäre dann eine Wahl durch das Parlament mehr als ungewiss: Schließlich wollen das EP und die darin vertretenen Parteien ihre teils vertraglich zugesicherte und teils hinein interpretierte Macht nutzen. Es sieht also nicht nach einem aus dem Hut gezauberten Kompromisskandidaten à la Barroso aus.

Sehr vieles spricht also für den Spitzenkandidaten der Europäischen Volksparteien, dem Luxemburger Jean Claude Juncker. Seine Partei konnte die Mehrheit der Sitze im Parlament gewinnen. Zudem haben die konservativen und liberalen Staats- und Regierungschef zumindest eine relative Mehrheit im Rat, darunter durch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Dagegen spricht fast nur der Premierminister des Vereinigten Königreiches, David Cameron. Dieser setzt sich mit wenigen Verbündeten gegen die Wahl Junckers ein. Doch die doppelte relative Mehrheit in den Institutionen, die sich für Juncker ausspricht, macht seinen Kampf zu einem beinahe aussichtslosen. Womöglich riskiert Cameron sogar den Bruch mit dem Konsensprinzip. Auf den Verhandlungsführer Herman van Rompuy wartet nun keine einfache Aufgabe: Es sieht so aus, dass entweder einige Mitgliedsstaaten oder das EP als Verlierer des Prozesses dastehen könnten.

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Der Sympathiemalus der FDP

Marc Debus und Jochen Müller

Die Aussage des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofers nach der Unterzeichnung des Koalitionsabkommens zwischen SPD und Union am 27. November, dass er „diese große Koalition von Beginn an“ wollte, deutet auch darauf hin, dass Seehofer dem Bündnis mit der FDP nicht wirklich hinterher trauert. Generell hat der Ausgang der Bundestagswahl 2013 gezeigt, dass die Liberalen – im Gegensatz zu früheren Bundestagswahlen und auch Landtagswahlen – nicht im gewohnten Ausmaß auf Anhänger der Union zählen konnten, die ihre Zweitstimme aufgrund des Wunsches auf Fortführung der christlich-liberalen Koalition der FDP gegeben haben. Dies mag – wie auch das schlechte Abschneiden der FDP 2013 insgesamt – auch damit zusammenhängen, dass die Liberalen und ihre Repräsentanten im Laufe der Legislaturperiode von 2009 bis 2013 von den Wählern insgesamt als nicht besonders sympathisch angesehen wurden.

Betrachtet man die Sympathiewerte, die die Anhänger der Union anderen Parteien und damit auch dem 2009 explizit gewünschten Koalitionspartner FDP im Zeitverlauf zugewiesen haben, dann wird eine Ursache für den Auszug der Liberalen aus dem Bundestag deutlich. Auf der Basis der seit 1977 erhobenen Daten des Politbarometer (ZA-Nr. 2391) lassen sich die seitens der Wähler den Parteien zugewiesenen Sympathien nachzeichnen. Abbildung 1 weist die Parteisympathien von Befragten mit CDU-Parteiidentifikation von 1977 bis 2011 aus. Nicht überraschend sind CDU und CSU von Befragten mit einer subjektiv empfundenen Nähe zur Union die als am sympathischsten eingestuften Parteien. Die FDP gewinnt nach der Bonner Wende 1982 deutlich an Sympathie unter den Unionsanhängern hinzu und ist im Laufe der großen Koalition von 2005 bis 2009 den CDU/CSU-Anhängern beinahe genauso sympathisch wie die CSU. Dieses Bild wendet sich dramatisch nach der Bildung der schwarz-gelben Bundesregierung 2009: Die FDP wird von den Anhängern des eigenen Koalitionspartners im Jahr 2010 und 2011 weniger sympathisch als die Oppositionsparteien SPD und Grüne eingeschätzt. Unter der Annahme, dass die Sympathie gegenüber Parteien nicht nur das Wahlverhalten beeinflusst, sondern auch ein Indikator für die Zustimmung der jeweiligen Parteianhänger zu möglichen Koalitionen ist, so wundert auf Basis dieser Ergebnisse weder die Bildung der großen Koalition im Bund noch von Schwarz-Grün in Hessen.

Abbildung 1: Partysympathien von Befragten in Westdeutschland mit CDU/CSU-Parteiidentifikation, 1977-2011
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Wie dramatisch die Lage der Liberalen ist, macht auch ein Blick auf die Entwicklung der Parteiensympathien der Befragten mit FDP-Parteiidentifikation deutlich. Bis einschließlich 2009 ist die FDP – wenn auch mit einigen Schwankungen – aus Sicht der eigenen Anhänger die klar sympathischste Partei. 2010 und damit nach der Bildung der Regierung mit CDU und CSU geht die Sympathie der FDP-Anhänger gegenüber der eigenen Partei drastisch zurück. 2011 findet sich kein Unterschied mehr in der Parteiensympathie der Anhänger der Liberalen zwischen CDU und FDP. Dies zeigt, mit welchen Problemen die FDP während der letzten Legislaturperiode zu kämpfen hatte: Die Liberalen wurden nicht nur von den Anhängern der anderen Parteien und dabei selbst von denjenigen des Koalitionspartners als immer unsympathischer eingeschätzt, sondern auch von der eigenen Kernwählerschaft. Wenn die FDP wieder auf die bundespolitische Bühne zurückkehren will, dann muss sie nicht nur programmatisch neue Ansätze entwickeln, sondern sich vor allem auch so verhalten, dass sie seitens der potentiellen Wählerschaft wieder als sympathische Partei wahrgenommen wird.

Abbildung 2: Partysympathien von Befragten in Westdeutschland mit FDP-Parteiidentifikation, 1977-2011
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Referenzen:

Müller, Jochen und Marc Debus. 2014. Koalitionsoptionen und Lagerdenken aus Wählerperspektive. Eine Analyse anhand der Parteiensympathien der Bundesbürger von 1977 bis 2011. In: Sigrid Roßteutscher, Thorsten Faas und Ulrich Rosar (Hrsg.): Bürger und Wähler im Wandel der Zeit: 25 Jahre Wahl- und Einstellungsforschung in Deutschland. Wiesbaden : Springer VS (im Erscheinen).

 

Undurchsichtig, aber folgenreich: Warum sich Norbert Lammert beim Wahlrecht irrte, und wie es wirklich zu 631 Bundestagsmandaten kam

Von Valentin Schröder
Der Bundestagspräsident ließ die günstige Gelegenheit nicht verstreichen. Direkt in seiner Antrittsrede mahnte Norbert Lammert eine erneute Änderung des neuen Bundestagswahlrechts an. Er sei besorgt, denn „ganze vier Überhangmandate (…) und die neuen Berechnungsmechanismen, die für die meisten Wahlberechtigten übrigens ziemlich undurchsichtig sind“ ließen bei schon jetzt 29 Ausgleichsmandaten „die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten.“

Wir erinnern uns: Überhangmandate verzerrten bislang das Mandatsverhältnis zugunsten von Parteien, die in einzelnen Bundesländern mehr Direktmandate erzielten als ihnen dort nach ihrem Zweitstimmenanteil zustanden. Diese Verzerrung wird im neuen Wahlrecht durch Ausgleichsmandate für andere Parteien beseitigt. Tatsächlich gab es bei der Wahl 2013 die besagten vier Überhangmandate. Und in der Tat erhöhte sich die Mandatszahl im Bundestag von 598 auf 631. Aber diese Erhöhung lag nicht an den vier Überhangmandaten, die Lammert vermutlich meinte. Dazu wäre es auch gekommen, wenn kein einziges dieser Überhangmandate angefallen wäre. Um diesen überraschenden Wahlregeleffekt zu verstehen, ist ein genauerer Blick auf die Details der Stimmenverrechnung nötig. Deshalb wird es nun etwas technischer.

In Deutschland gibt es regulär (also ohne Überhang und Ausgleich) 598 Bundestagsmandate. Sie werden nach dem neuen Wahlrecht vor der Wahl auf die 16 Länder verteilt, und zwar nach deren Bevölkerungsanteil – so erhielten z.B. Bayern mit 11 Millionen Einwohnern 92 Mandate und Niedersachsen mit 7,4 Millionen 59. Nach der Wahl erhält jede Bundestagspartei von jedem dieser 16 Kontingente so viele Mandate, wie ihrem Zweitstimmenanteil im Land entspricht, oder, falls sie mehr Direktmandate erzielte, diesen Anteil plus der „überhängenden“ Direktmandate. Dies sind die altbekannten Überhangmandate. Die Mandate aus den Länderkontingenten werden für jede Partei zu ihrer sog. „Mindestsitzzahl“ aufsummiert. Das heißt „Erste Stufe der Mandatsverteilung“.

Damit ist die Verteilung aber noch nicht abgeschlossen, denn nun werden die Mindestsitzzahlen der Parteien mit den bundesweiten Zweitstimmenanteilen der Bundestagsparteien verglichen. Bestenfalls entspricht die Mindestsitzzahl jeder Partei genau ihrem Stimmenanteil. So war es 2013 aber nicht: die CSU hatte drei Mindestsitze „zu viel“, SPD und Grüne je einen „zu viel“ und die Linke einen „zu wenig“. Nur die CDU-Mindestsitzzahl entsprach dem CDU-Stimmenanteil.
Laut Wahlgesetz ist jeder Partei ihre Mindestsitzzahl garantiert. Aber außerdem muss das Mandatsverhältnis dem Stimmenverhältnis zwischen den Parteien entsprechen. Bei Abweichungen davon werden in der „Zweiten Stufe“ zusätzliche Mandate verteilt, bis die beiden Verhältnisse übereinstimmen. Das sind die Ausgleichsmandate. 2013 wich die Mindestsitzzahl der CSU am weitesten von diesem Proporz ab. Deshalb wurde der Ausgleich entlang der CSU-Mindestsitzzahl vorgenommen. Sie betrug 56. Damit diese Zahl mit dem CSU-Stimmenanteil (8,9%) bezogen auf alle Bundestagsparteien übereinstimmte, mussten insgesamt 631 Mandate verteilt werden. So kam es zu der Mandatserhöhung.

Aber wie kam es nun zu den jeweils „zu vielen“ oder „zu wenigen“ Mindestsitzen? Das lag an der Verteilung der Mandate zuerst auf die Länder. Regionale Unterschiede im Wahlverhalten führten nun zu Unterschieden bei Wahlbeteiligung und Stimmenanteil der mandatsmäßig zu berücksichtigenden Parteien zwischen den Ländern. Erstere schwankte 2013 vor Ort zwischen 62 und 73 Prozent und letzterer zwischen 81 und 88 Prozent. In Ländern mit unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung und/oder unterdurchschnittlichem Anteil mandatsrelevanter Stimmen waren für die Bundestagsparteien folglich weniger Stimmen pro Mandat nötig als in Ländern mit hoher Wahlbeteiligung und/oder vielen zu berücksichtigenden Stimmen. So erhielt beispielsweise die SPD in Niedersachsen 22 Mandate mit 1,4 Mio. Stimmen. In Bayern kam sie wiederum bei 1,3 Mio. Stimmen auf 23 Mandate. Sie erhielt dort also mit weniger Stimmen mehr Mandate als in Niedersachsen. Diese Unterschiede führten in der Summe bei manchen Parteien zu den „zu vielen“ (oder eben zu wenigen) Mindestsitzen.

Diese Unterschiede haben nichts mit den Direktmandaten zu tun. Aber sie haben die gleichen Konsequenzen wie die bisherigen Überhangmandate: sie lösen Ausgleichsmandate aus.

Um das zu erklären, tun wir erst einmal so, als würden die 598 regulären Mandate genau nach dem Stimmenverhältnis auf Parteien und Länder verteilt. Dann ergibt sich die Mandatsverteilung, wie sie in Abbildung 1 durch die gelben Säulen dargestellt ist. Die blauen Säulen dort zeigen die echte Mandatsverteilung nach der Ersten Stufe. Die Abweichungen zwischen den Balken sind zwar klein. Aber sie haben eine große Wirkung.

Abbildung 1: Ideale Mandatsverteilung und Mandatsverteilung nach der Ersten Stufe

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Das ist in Abbildung 2 dargestellt, wo jeweils nur die Abweichungen der echten gegenüber der idealen Verteilung erscheinen.

So gibt es bei der CDU beispielsweise in fünf Ländern fünf „überzählige“ Mandate – in Brandenburg, dem Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Baden-Württemberg. Die ersten vier davon sind die erwähnten Überhangmandate durch zu viele Direktmandate. Das Mandat im Ländle jedoch kam durch einen hohen Anteil nicht in die Mandatsberechnung eingehender Stimmen zustande und fiel als Listenmandat an. Man könnte es deshalb „Listen-Überhangmandat“ nennen. Zufällig führten insgesamt ebenfalls fünf „Listen-Unterhangmandate“ in Bremen, Niedersachsen und NRW bei der CDU-Mindestsitzzahl aber wieder zu einem Saldo von Null. Die klassischen Überhangmandate der CDU allein führten deshalb zu keiner Mandatserhöhung. Wäre der Saldo aller anderen Parteien ebenfalls Null gewesen, hätte es am Ende sogar genau 598 Mandate und damit überhaupt keine Bundestagsvergrößerung gegeben.

Abbildung 2: Überhang- und Unterhangmandate

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So war es bei den anderen Parteien aber eben nicht, wie man an den Salden in Abbildung 2 sieht. Besonders deutlich ging es bei der CSU daneben, die als Ein-Land-Partei natürlich auch keine Möglichkeit zum Ausgleich durch Aufsummieren hatte. Unterm Strich kam es damit bei den Mindestsitzzahlen zu vier Mandaten zu viel (0 CDU + 3 CSU + 1 SPD + 1 Grüne – 1 Linke = 4). Das erhöhte die Bundestagsgröße schon einmal auf (598 + 4 =) 602 Sitze, denn die Mindestsitzahlen sind ja garantiert. Die Zweite Stufe der Verteilung brachte dann die besagten 29 Ausgleichsmandate und damit (598 + 4 + 29 =) 631 Sitze.

Indem er selbst zu ihrem Opfer wurde, hatte der Bundestagspräsident also auf geradezu unheimliche Weise Recht, als er die Undurchsichtigkeit des geltenden Wahlrechts rügte. Aber mit Blick auf dessen beachtliche Mandatsfolgen bleibt Lammert zumindest ein Trost: beim nächsten Mal winkt ihm die Aussicht auf eine zumindest ähnlich große Zuhörerschaft im Bundestagsplenum.

Valentin Schröder ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der
Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Sozialpolitik an der
Universität Bremen.

 

Regierungsbildung in Hessen: Warum Schwarz-Rot und Schwarz-Grün in Hessen plötzlich realistische Optionen sind

Der hessische Landtag gilt als eines der Landesparlamente in Deutschland, in dem die Parteien und ihrer Vertreter sich am härtesten bekämpfen und in denen daher Kompromisse, die über die Lagergrenzen hinaus gehen, eher eine Seltenheit darstellen. Eine Ursache dafür lag unter anderem in dem explizit konservativen Kurs, den die CDU seit Beginn der 1970er Jahre in diesem Bundesland gefahren ist und der durch Persönlichkeiten wie Alfred Dregger, Manfred Kanther und Roland Koch nach außen repräsentiert wurde. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass sich Sozialdemokraten als auch Grüne nunmehr gegenüber einer möglichen Koalitionsregierung mit der Union nach der Landtagswahl vom September 2013 durchaus offen zeigen.

Was könnte eine Ursache dafür sein? Neben der Tatsache, dass die Bildung einer großen Koalition aus CDU und SPD oder einer schwarz-grünen Koalition der einzige Weg sind, kurz- oder mittelfristig Neuwahlen zu vermeiden – es sei denn, SPD und Grüne wagen eine Kooperation mit der Linken trotz anderweitiger Aussagen im Wahlkampf –, spricht eine computergestützte quantitative Analyse der Wahlprogramme der hessischen Parteien dafür, dass die Union ihre durchaus konservative Ausrichtung zur Wahl 2013 aufgegeben hat. Unten stehende Abbildung, in der die Positionen der hessischen Parteien auf der Grundlage ihrer Wahlprogramme zu den Landtagswahlen 2009 und 2013 auf den zwei relevanten, den deutschen Parteienwettbewerb strukturierenden Politikdimensionen abgetragen sind, zeigt eine deutliche Verschiebung der Position der CDU. So haben die hessischen Christdemokraten zwar ihre moderat wirtschaftsliberale Haltung im Vergleich zu 2009 beibehalten, nahmen jedoch 2013 eine wesentlich progressivere Position in innen-, rechts- und gesellschaftspolitischen Fragen ein, die denen von SPD, FDP und auch den Grünen in Hessen überraschend nahekommt.

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Zwar ist – auf der Grundlage der hier ermittelten ideologischen Positionen der hessischen Parteien 2013 – zwar noch immer ein programmatischer „Graben“ zwischen der CDU auf der einen und SPD sowie Grünen auf der anderen Seite deutlich erkennbar. Jedoch haben sich die hessischen Christdemokraten bei der Verfassung ihres Wahlprogramms zur diesjährigen Landtagswahl offenbar einige Mühe gegeben, zumindest in gesellschaftspolitischen Fragen die inhaltlichen Distanzen zu Grünen und SPD zu minimieren. Es bleibt abzuwarten, ob sich dies positiv auf die Bildung einer Koalitionsregierung – entweder aus CDU und SPD oder aus Union und Grünen – auswirken wird.

Weiterführende Literatur:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus (unter Mitarbeit von Jochen Müller). 2012. Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Debus, Marc und Jochen Müller. 2013. The programmatic development of CDU and CSU since reunification: Incentives and constraints for changing policy positions in the German multi-level system. German Politics 22, 151-171.

 

Koalitionsbildung im Bundestag: Höhere Chancen für Schwarz-Rot als für Schwarz-Grün

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 hat zu keinem Sieg eines der beiden klassischen „Lager“ – Schwarz-Gelb oder Rot-Grün – geführt. Entsprechend kompliziert gestaltet sich momentan die Suche nach einer tragfähigen Koalitionsregierung auf Bundesebene. Neben Einschätzungen und Spekulationen seitens der Beobachter des politischen Prozesses in Berlin kann auch die empirisch-analytische Politikwissenschaft helfen, Licht ins Dunkel zu bringen. Theorien der Koalitionsbildung unterstellen Parteien und ihren Repräsentanten zum einen, dass sie Bündnisse mit programmatisch ähnlich ausgerichteten Akteuren bevorzugen. Dies führt dazu, dass die Koalitionspartner jeweils ein Höchstmaß ihrer eigenen inhaltlichen Positionen in der Regierung umsetzen können. Zudem sollten politische Parteien solche Regierungskoalitionen bevorzugen, die ihnen einen möglichst hohen Anteil an Posten innerhalb einer Regierung versprechen. Umso mehr Ministerien von einer Partei kontrolliert werden, desto eher kann die entsprechende Partei ihre Politikziele implementieren und zudem Posten an Mitglieder der Parteispitze verteilen.

In Deutschland spielen noch weitere Faktoren für die Regierungsbildung auf Bundes- und Landesebene eine entscheidende Rolle. Neben den Koalitionsaussagen der Parteien, durch die manche Bündnisse von vorneherein ausgeschlossen werden – wie etwa die Zusammenarbeit mit der Linken seitens der SPD –, hat die Kräftekonstellation im Bundesrat einen nicht unbedeutenden Einfluss auf das Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses. Wenn eine Bundesregierung eine Mehrheit der Stimmen in der Länderkammer kontrolliert, dann lässt es sich in der Regel leichter regieren, da – trotz Föderalismusreform – noch immer ein Anteil von rund 40% aller Gesetzesinitiativen der Zustimmung einer Mehrheit des Bundesrates bedarf.

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der Informationen zu den 97 Regierungsbildungsprozessen in Bund und Ländern seit Januar 1990 umfasst und auf dessen Grundlage es möglich ist, in 78 Fällen (81,3%) das Ergebnis der Regierungsbildung korrekt vorherzusagen, können wir mit Hilfe statistischer Analysetechniken die Wahrscheinlichkeiten ermitteln, die jede theoretisch denkbare Koalition (hierzu zählen etwa auch Einparteien-Minderheitsregierungen) nach der Bundestagswahl 2013 aufweisen (siehe Bräuninger und Debus 2009, 2012; Debus 2011).

Selbst wenn man nicht berücksichtigt, dass die CSU sich skeptisch bis ablehnend gegenüber einer Koalition aus Union und Grünen zeigt und dass eine Mehrheit der Wähler eine große Koalition statt Schwarz-Grün befürwortet, so ergibt sich bereits eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Bildung einer schwarz-roten Koalition (51,8%) gegenüber einem schwarz-grünen Bündnis, für das eine Wahrscheinlichkeit von 39,1% ermittelt werden kann. Die Chancen für die Bildung einer Minderheitsregierung der Union liegen den Schätzungen zufolge bei 5%, für die Etablierung einer rot-grünen Minderheitsregierung bei 2,9%.

Warum sind die Chancen für eine große Koalition höher als die für Bildung eines schwarz-grünen Bündnisses? Ein Grund liegt – neben der Mehrheitssituation im Bundesrat – schlichtweg darin, dass die programmatische Distanz zwischen Union und Grünen, die auf der Grundlage ihrer Wahlprogramme ermittelt werden kann, auf dem alles entscheidenden Politikfeld Wirtschaft, Arbeit und Finanzen größer ist als zwischen CDU/CSU und SPD. Die beiden großen Parteien sollten sich also leichter auf inhaltliche Kompromisse einigen können und müssten – im Vergleich zu einer Koalition aus Union und Bündnis 90/Die Grünen – weniger stark von ihren eigenen Positionen abrücken, wenn sie eine Koalition eingehen. Auch wenn es lange und zähe Verhandlungen zwischen den Parteien in Berlin geben wird, vieles spricht aus diesem Blickwinkel für eine Neuauflage einer Koalition aus CDU, CSU und Sozialdemokraten und einer Bundeskanzlerin Merkel.

Literatur:

Bräuninger, Thomas und Marc Debus. 2009. “Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Jamaika oder die Ampel? Koalitionsbildungen in Bund und Ländern im Superwahljahr 2009.” Zeitschrift für Politikberatung 2 (3): 563-567.

Bräuninger, Thomas/Marc Debus. 2012. Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Debus, Marc. 2011. “Parteienwettbewerb, Regierungsbildung und Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2009.” In: Oskar Niedermayer (Hrsg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften: 281-306.

 

Ihr Wahl-O-Mat-Ergebnis, Herr Steinbrück: Bilden Sie eine rot-rot-grüne Regierung oder gar eine Minderheitsregierung!

Von Christian Stecker

Dass bei der Regierungsbildung die Inhalte im Vordergrund stehen werden, gehörte zu den oft wiederholten Beteuerungen von Spitzenpolitikern im zurückliegenden Bundestagswahlkampf. Ließe sich die SPD beim Wort nehmen, müsste sie zügig Koalitionsgespräche mit den Grünen und der Linken aufnehmen oder gar die Bildung einer Minderheitsregierung anstreben. Einen aussagekräftigen Blick auf die inhaltliche Übereinstimmung zwischen den Positionen der Parteien bietet der „Wahl-O-Mat“. Betrachtet man diese Übereinstimmungen (repräsentiert durch gekreuzte Kästchen) zwischen den im 18. Bundestag vertretenen Parteien anhand der 38 „Wahl-O-Mat“-Fragen zeigt sich, dass Rot-Rot-Grün, die meisten Überschneidungen (21) aufweist. Insbesondere in den zentralen Themen wie der Einführung eines Mindestlohnes, der Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der Einführung einer Bürgerversicherung, der Abschaffung des Betreuungsgeldes oder dem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare wollen SPD, Grüne und Die Linke die Politik in dieselbe Richtung verändern.

Für eine einträchtige Wiederauflage der Großen Koalition spricht dagegen weniger. Sieht man von den Bereichen (unterhalb der gestrichelten Linie) ab, in denen ohnehin ein Allparteienkonsens herrscht, beschränkt sich die Einigkeit der potentiellen Partner darauf, bestehende Gesetzeslagen beizubehalten, etwa zu Rüstungsexporten, (kein) Tempolimit und Sanktionen für sogenannte Jobverweigerer. Schmerzhafte Kompromisse oder gar Nichteinigung drohen CDU/CSU und SPD dagegen (erneut) in wichtigen Fragen wie Mindestlohn und Bürgerversicherung. Noch kärger ist die Menge an Gemeinsamkeiten zwischen CDU/CSU und Grünen.

Es zeigt sich auch, dass eine SPD-geführte Minderheitsregierung von deutlich mehr Übereinstimmungen profitieren könnte, als es einer starren CDU/CSU/SPD- oder SPD/Grüne/Die Linke-Koalition möglich wäre. Ließen sich alle Parteien darauf ein, in einzelnen Sachfragen bei gegebener Übereinstimmung miteinander zu kooperieren, könnte die SPD aufgrund ihrer mittigen Lage im politischen Spektrum wechselnde parlamentarische Mehrheiten in ganzen 28 Themenbereichen (7 mit der CDU/CSU, 21 mit Grünen und Die Linke) anführen. Nebenbei bemerkt, bräuchte eine solche Konstellation auf längere Sicht auch keine gegnerischen Mehrheiten im Bundesrat fürchten.

Zugegeben, das bloße Ankreuzen von Übereinstimmungen zwischen den Parteien in (vereinfachten) Themenbereichen vergisst neben wahlstrategischen Überlegungen der Parteien mindestens zwei Praktiken des politischen Spiels in Deutschland, die die Regierungsbildung entscheidend beeinflussen. Da ist zum einen die Tendenz von Parteien (insbesondere von Die Linke) auf Maximalforderungen zu beharren und darüber selbst mögliche Verbesserungen gegenüber der bestehenden Gesetzeslage auszuschlagen. Solch fehlende Bereitschaft zum Kompromiss könnte auch einen rot-rot-grünen Mindestlohn scheitern lassen. Zum anderen schnüren Regierungskoalitionen immer ein gesamtes Politikpaket, das alle Themenbereiche beinhalten muss und auch an Dissens in einzelnen Fragen (Stichwort Nato-Austritt) platzen kann. Minderheitsregierungen, die wechselnde Mehrheiten entlang verschiedener Politikbereiche bilden könnten, sind durch die Fixierung der Parteien auf stabile Mehrheitskoalitionen auf Bundesebene bisher ausgeschlossen.

Übereinstimmungen innerhalb der verschiedenen möglichen Mehrheitskoalitionen im 18. Deutschen Bundestag (nach Auswertung des Wahl-O-Mat)

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Auch Bundeskanzlerin Merkel hat das alternative Format einer Minderheitsregierung in der ElefantInnen-Runde auf ARD/ZDF am Wahlabend lachend abgetan. Aus ihrer Sicht verständlich – hat die Union auch als stärkste Partei aufgrund ihrer relativ rechten Position im politischen Spektrum nur wenig Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Parteien, um eigene Anliegen mit parlamentarischen Mehrheiten umzusetzen (sieben Bereiche mit der SPD, vier mit den Grünen und sechs mit potentiell allen Parteien). Angesichts des deutlich größeren Handlungsspielraums einer SPD-geführten Minderheitsregierung ist die kategorische Ablehnung dieser Option durch die SPD dagegen unverständlich. Mindestens wäre es aus Sicht der Sozialdemokraten taktisch klug, Frau Merkel und Herrn Seehofer in anstehenden Koalitionsverhandlungen gelegentlich daran zu erinnern, dass für sozialdemokratische Kernanliegen im Bundestag alternative Mehrheiten bereit stünden.

Zahlreiche Gründe mögen auf Bundesebene in Deutschland gegen eine solche Minderheitsregierung sprechen – in erster Linie wohl aber „nur“ die normative Kraft des faktisch jahrzehntelang eingeübten Spiels von stabilen Mehrheitskoalitionen. Bei allen echten Problemen, die Minderheitsregierungen mit sich bringen, lehrt der Blick nach Dänemark, Neuseeland, Schweden und NRW jedoch, dass sich diese Probleme nicht nur zum Teil lösen lassen, sondern Minderheitsregierungen auch zahlreiche demokratietheoretisch wünschenswerte Dinge mit sich bringen – insbesondere dann, wenn es dem politischen Personal in erster Linie auf die Inhalte ankommt.

Weiterführende Literatur:

Steffen Ganghof, Christian Stecker, Sebastian Eppner und Katja Heeß (2012). Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43 (4), S. 887-900.

Alexander Preker und Christoph M. Haas (2012). Flexibilität und Effektivität vor Stabilität. Ein Beitrag zur Diskussion von Minderheitsregierungen auf Bundesebene am Beispiel der politischen Praxis Dänemarks. Zeitschrift für Politik, 59 (4), S. 453-483.

Christoffer Green-Pedersen (2001). Minority Governments and Party Politics: The Political and Institutional Background to the “Danish Miracle”. Journal of Public Policy, 21 (1), S. 53-70.

Tim Bale und Torbjörn Bergman (2006). Captives no longer, but servants still? Contract Parliamentarism and the new minority governance in Sweden and New Zealand. Government and Opposition, 41 (3), S. 422-449.

Martin Delius, Michael Koß und Christian Stecker (2013). „Ich erkenne also Fraktionsdisziplin grundsätzlich auch an…“ – Innerfraktioneller Dissens in der SPD-Fraktion der Großen Koalition 2005-2009. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44 (3).

Stephan Klecha (2010). Minderheitsregierungen in Deutschland (Hannover: Friedrich-Ebert-Stiftung).

Christian Stecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Integration am Geschwister Scholl-Institut an der Ludwig Maximilians-Universität München.

 

AfD-Schock durchkreuzt Prognose des Kanzlermodells

Von Thomas Gschwend und Helmut Norpoth
Die Prognose des Kanzlermodells von 51,2% für Schwarz-Gelb weicht deutlich vom kombinierten Stimmenanteil von 46,3% dieser Parteien am Wahlabend ab. Scheint das erfolgreiche Kanzlermodell plötzlich auf dem Holzweg zu sein? Die eigentliche Stärke des Kanzlermodells, das es Prognosen schon lange vor der Wahl erlaubt, konnte bei dieser Wahl durch einen Schock wie dem plötzlichen Aufstieg der AfD nicht zum tragen kommen.

Für jede Vorhersage müssen Annahmen getroffen werden, ob es jetzt Volkswirtschaftler sind, die das Bruttoinlandsprodukt oder das Wirtschaftswachstum schätzen, oder eben Politikwissenschaftler, die den Wahlausgang vorhersagen. Das liegt in der Natur der Sache. Sind dann diese Annahmen nicht gegeben, kann es zu fehlerhaften Prognosen kommen.

Für das Kanzlermodell müssen wir etwa annehmen, dass diese Wahl sich nicht systematisch von anderen Bundestagswahlen unterscheidet, sofern das nicht über unsere drei erklärenden Faktoren, den längerfristigen Wählerrückhalt der Regierungsparteien, den Abnützungseffekt der Regierung sowie die KanzlerInnenpopularität hinreichend genau beschrieben werden kann. Wir hatten zwar darauf hingewiesen, dass es der Union alleine zu einer Mehrheit nicht reichen wird, falls die FDP nicht in den Bundestag einziehen würde. Freilich haben wir das nicht für wahrscheinlich gehalten, nach allem was wir aus der Geschichte von Bundestagswahlen wissen. Das besondere am gestrigen Wahlergebnis ist die Tatsache, dass es rechts von der Union ein Partei dabei ist sich zu etablieren, die AfD, die wie Phönix aus der Asche in den letzten Wochen vor der Wahl aufgestiegen ist und nun stolz sein kann, die üblichen Annahmen zur Wahlarithmetik, auch die unseres Modells, ordentlich durcheinander zu wirbeln.

In 2005 hatte das Kanzlermodell mit einer ähnlichen Herausforderung zu kämpfen. Links von SPD und den Grünen hatte sich eine neue Partei formiert, die Linken. Allerdings konnten wir aufgrund der Umfragen diese Entwicklung besser abschätzen und letztlich den Wert für den längerfristigen Wählerrückhalt dafür erfolgreich korrigieren. Diese Möglichkeit gab es diese Mal nicht. Als wir am 24. August, etwa vor einem Monat, unsere Prognose auf diesem Blog veröffentlichten, wurde die Unterstützung für die AfD noch nicht zuverlässig mittels Umfragen gemessen und folglich von den Umfrageinstituten nicht extra ausgewiesen. Daher haben wir in unserem Wert für den längerfristigen Wählerrückhalt von Schwarz-Gelb auch fälschlicherweise das Wählerreservoir der AfD abgebildet – ohne es zu wissen. Insofern deckt unsere Vorhersage von 51,2 % eigentlich das gesamte konservativ-liberale Lager, einschließlich der AfD ab – und diese Parteien kommen zusammen übrigens auf 51% der Zweitstimmen. Das zeigt, dass die Logik des Kanzlermodells auch bei dieser Wahl funktionierte. Das Modell konnte nur nicht mehr kurzfristig eine politisch relevante Prognose für Schwarz-Gelb bei gleichzeitigem Auftreten der AfD formulieren. Solche kurzfristigen Entwicklungen können nicht systematisch in Vorhersagemodelle integrierte werden, wenn diese den Wahlausgang nicht erst am Wahlabend um 18 Uhr vorhersagen sollen sondern möglichst lange vor einer jeden Wahl formuliert werden.

 

Lernen aus der Bundestagswahl

Damit wäre also die Bundestagswahl 2013 Geschichte. Schreibt sie auch Geschichte? Ja, die altehrwürdige FDP als Gründungsmitglied im Deutschen Bundestag ist erstmals nicht mehr im Parlament vertreten. Ja, die AfD hätte fast den Einzug in den Bundestag geschafft. Ja, die Union stand kurz vor der absoluten Mehrheit. Aber nun steht uns doch ein vertrauter Prozess der Koalitionsbildung bevor. Und eine Große Koalition könnte das Ergebnis sein.

So weit, so bekannt. Einige Aspekte rund um die Wahl 2013 aber werden bedeutsam bleiben:

1. Die Wahlbeteiligung

Irritierend genug waren am Wahlabend die „Entwarnungssignale“, als noch Zahlen von rund 73 Prozent Wahlbeteiligung kursierten. Konnte das wirklich schon zufriedenstellen? Geradezu absurd erscheint die öffentliche Beruhigung aber im Lichte der 71,5 Prozent, die das vorläufige amtliche Endergebnis als Wahlbeteiligung ausweist.

Denn klar ist damit: Die 70,8 Prozent Wahlbeteiligung von vor vier Jahr waren eben kein einmaliger Ausreißer, der nur eine Folge der Großen Koalition gewesen ist. Offenkundig müssen wir uns – selbst bei Bundestagswahlen – an Zahlen um die siebzig Prozent gewöhnen.

Wer aber macht die 30 Prozent aus, die nicht wählten? Wo war die Wahlbeteiligung besonders niedrig? Jedenfalls nicht dort, wo die Herren Welzer, Precht und Steingart wohnen. Die Wahlbeteiligung in Deutschland ist zunehmend ungleich verteilt; die unteren Schichten der Gesellschaft beteiligen sich immer weniger an der Abstimmung. Wenn wir also zukünftig über Gerechtigkeit sprechen, dann sollten wir auch über „gerechte“ politische Beteiligung sprechen.

2. Das hohe Ergebnis der Union

Mehr als 40 Prozent der Stimmen sind ein beeindruckendes Ergebnis für die Union, das steht völlig außer Frage. Tatsächlich schienen die Tage, in denen absolute Mehrheiten möglich sind, für viele (nicht für alle!) unvorstellbar. Gut: Man hätte nach Hamburg schauen können, wo die SPD mit absoluter Mehrheit regiert. Oder nach Bayern. Aber trotzdem war das Staunen ob der Zahlen der Union groß.

Doch ähnlich absurd wie die vielfach zelebrierten Requiems für die Volkspartei in der Vergangenheit waren, muten jetzt die Phoenix-Metaphern an. Die Volksparteien (wenn überhaupt reden wir ohnehin nur von der Union) sind nicht automatisch wieder da. Die Lehren der jüngeren Wahlen sind doch viel mehr: Die Stärke der politischen Beben hat zugenommen, die Veränderungsbalken an Wahlabenden sind länger denn je. Das gilt für Ausschläge nach oben (CSU, CDU, AfD), aber auch nach unten (FDP). Der Trend zu weniger Selbstverständlichkeiten ist es, der Wahlen heutzutage auszeichnet, nicht das Verschwinden oder Wiederauferstehen der Volksparteien.

3. Die FDP

Gerade die FDP ist eine Partei gewesen, die sich zu keinem Zeitpunkt auf eine allzu große Stammwählerschaft verlassen konnte. Sie war immer schon davon abhängig, dass ihr zusätzliche Unterstützung aus dem Moment heraus erwuchs. Deren jeweiliger Ursprung mag höchst unterschiedlich gewesen sein: Inhaltliche Überzeugungen und Positionen, Personal, taktische Überlegungen. Nichts davon gab es 2013. Insofern ist das Ergebnis der FDP konsequent. Aber auch hier gilt: Das Totenglöcklein sollte erst mal in der Schublade bleiben. Andere Parteien sind ebenfalls schon tief gestürzt, sind aber immer noch da.

4. Die Umfragen

Natürlich muss man auch über die Rolle von Umfragen sprechen. Sie waren präsenter denn je, sogar am Wahltag selbst ist noch eine Umfrage veröffentlicht worden. Für die FDP hatten sie unisono diese Botschaft: Wenn es auch knapp wird, die Liberalen werden in den Bundestag einziehen.

Welcher Unionsanhänger aber möchte seine Stimme unter diesen Umständen (und noch dazu nach den Erfahrungen von Niedersachsen) an die FDP verleihen? Am Ende könnten die Umfragen selbst – am Sonntag noch stand die FDP bei sechs Prozent – dazu beigetragen haben, dass sie sich selbst ad absurdum und die FDP aus dem Bundestag geführt haben. Das heißt keineswegs, dass man diese Umfragen verbieten sollte. Aber es heißt schon, dass man noch transparenter machen muss, wie sie entstehen und wo die Grenzen ihrer Aussagekraft liegen. Und wir alle müssen lernen, damit entspannter umzugehen.

5. Die Medien

Dass Umfragen nicht verschwinden werden, dafür werden die Medien dennoch sorgen. Die amerikanischen Kollegen sprechen von horse race journalism – über den Wahlkampf wird berichtet, als sei er ein Pferderennen. Oder zumindest ein Sportereignis. Beispiele gefällig? TV-Duell. TV-Dreikampf. Wahlarena. Wer hat gewonnen? Wer holt auf? Da passen Umfragen einfach zu gut ins Schema.

Dass insgesamt wenig über Themen gesprochen wurde, sondern eben über Umfragen, Koalitionen und Strategien (und am Ende sogar in einer Metaperspektive über diese Metaperspektive), passt ins Bild. Da sprechen Amerikaner auch von hostile media – feindlich gesinnten Medien –, die Politik als zynisches Machtspiel darstellen. An vielen Stellen mag das zutreffen, aber die eine oder andere Kritik von politischer Seite an den Medien mag dann doch zugetroffen haben.

6. Peer Steinbrück

Ob Peer Steinbrück der richtige oder falsche Kandidat für die SPD gewesen ist, darüber wird sich noch lange trefflich streiten lassen. Eines scheint gleichwohl bemerkenswert: Steinbrück war vor seiner Kandidatur ein elder statesmen. Vielleicht nicht ganz in der Liga von Helmut Schmidt, aber er war raus dem politischen Tagesgeschäft. Warum das relevant ist? Damit einher ging eine überparteiliche Wahrnehmung seiner Person, die ihm hohes Ansehen auch über Parteigrenzen hinweg einbrachte.

Mit seiner Kandidatur aber war Steinbrück zurück im Tagesgeschäft. Damit musste sein Ansehen in Kreisen des politischen Gegners zwangsläufig sinken. Denn den Politiker des Gegners mag man nicht. Sein Start war von vielem gekennzeichnet: eine überstürzte Präsentation, eine langwierige Diskussionen um seine Vortragstätigkeit. Aber auch von sinkenden Umfragewerten. Die waren aber „logisch“. Seine ursprünglich guten Umfragewerte, gerade in der berühmt-berüchtigten Mitte, waren trügerisch und seiner Rolle als elder statesman geschuldet. Als er das nicht mehr war, gingen auch die Zahlen runter.

7. Wer wird regieren?

Wer wird die nächste Bundesregierung bilden? Wir wissen es nicht. Die Koalitionsfrage ist offen und schwierig. Die Situation ist geradezu paradox. Wir alle als Wählerinnen und Wähler produzieren ein Wahlergebnis, das unübersichtlich ist, jedenfalls keine klaren und einfachen Koalitionen erlaubt. Aber gerade diese klaren und einfachen Koalitionen sind zugleich das, was sich die Bürger wünschen. Experimente am Koalitionsmarkt sind unbeliebt.

Vielleicht sollten wir uns alle im Vorfeld einer Wahl mehr miteinander unterhalten, um uns besser abzustimmen. Das ist aber natürlich schwierig bei 60 Millionen Wahlberechtigten. Und so müssen wir lernen, mit den neuen Gegebenheiten zu leben. Keine Experimente? Wohl doch.

 

Die Grünen machen es richtig – und du?

Als ich mich heute früh noch aus dem Bett quälte, hatte Priska Hinz offensichtlich schon einen anstrengenden, aber erfüllenden Morgen hinter sich. „Nach zwei Stunden Bahnhofsaktion bin ich richtig wach #UndDu?“ twitterte die wahlkämpfende Grünen-Abgeordnete um 8.14 Uhr. Ich hingegen war noch nicht annähernd wach, hatte noch nicht mal den ersten Kaffee intus, und in diesem Moment ging mir endgültig auf, warum mir die „und du?“-Wahlkampagne der Grünen seit Wochen so übel aufstößt. Die Grünen sind ausgeschlafen, voll dabei, immer im Dienst der guten Sache, und von mir erwarten sie das gleiche. „Und du?“ fragen sie halb fordernd, halb tadelnd, bist du auch schon so weit wie wir?

Der Spruch, mit dem sie das Land plakatieren, bringt unfreiwillig all das auf den Punkt, was der Partei seit langem, teils zu Recht, teils zu Unrecht vorgeworfen wird: Dass sie den Wählern das richtige Leben vorschreiben wollten, sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen, und überhaupt schrecklich überheblich seien.

Auf einem steht: „Mit Essen spekulier ich nicht – und du?“ und man hat dann sofort ein schlechtes Gewissen, ob man nicht über die unübersichtlichen Verzweigungen des Finanzmarkts doch mal ein paar Cent an steigenden Getreidepreisen verdient hat. Auf dem weg zur Arbeit komme ich an einem Plakat vorbei: „Was der Bauer nicht kennt, fress ich nicht – und du?“ Und eigentlich müsste ich jetzt umdrehen und nachsehen, ob nicht in meinem Kühlschrank oder den Regalen irgend etwas steht, was Spuren von Gentechnik enthalten könnte. So funktioniert die ganze Plakatkampagne. Die Grünen machen ihren Wählern keine Vorschläge, sie stellen Ansprüche.

Das ist fatal, weil es ja eigentlich nicht stimmt. Das Problem ist die Werbekampagne, nicht die Politik der Partei. Die Grünen haben ziemlich ausgefeilte Konzepte zu Finanzpolitik und Sozialpolitik zu bieten, zur Energie- und Umweltpolitik sowieso. Sie sind nicht die Zeigefinger-Partei, zu der vor allem die FDP sie machen will. Doof nur, dass ihre „Und du?“ Plakate davon so wenig erzählen und so viel vom moralischen Anspruch dieser Partei an ihre Wähler.

So stellen sich die Grünen als Partei der Selbstoptimierung dar. Die englische Band Radiohead hat dazu ein Lied geschrieben, „fitter, happier, more productive“ heißt es, es handelt von den vielen unerfüllbaren Ansprüchen an sich selbst. Kein Mikrowellenessen mehr, regelmäßig zum Sport, immer nett zu den Kollegen sein, und bloß nicht in der Öffentlichkeit weinen. Es ist natürlich ein ziemlich trauriges Lied.

 

Wie Peer Steinbrück beinahe etwas irre Lustiges gesagt hätte

Wenn Peer Steinbrück zurzeit nur ansatzweise so etwas wie Alltag erlebt, dann muss das so aussehen wie an diesem Dienstagabend in Berlin-Rudow. Noch am Morgen hat der Kandidat sich im Bundestag mit Angela Merkel duelliert, erst zwei Tage ist sein recht erfolgreicher Fernsehauftritt her. Und nun empfängt ihn der Direktkandidat Fritz Felgentreu zu einem Auftritt in der alten Dorfschule.

Viel ist nicht los. Es gibt Bratwürste, Trommelkapelle und bierselige Kumpeleien. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite aber hat sich eine kleine Truppe NPDler breitgemacht. Vor ihnen hängt ein Plakat mit einem Slogan, auf den sie sehr stolz sein müssen: Maria statt Scharia.

Dann beginnt der Vormann der Rechtsextremen zu reden. „Peer Steinreich hält es also einmal wieder für nötig, sich beim Wahlvolk sehen zu lassen“, beginnt er und führt den Zuhörer durch sein Menschenbild. Der deutsche Durchschnitts-IQ sei unter 100 gefallen, seit die Zuwanderer da seien, beklagt er sich. Vorm SPD-Stand nicken sie fröhlich: Schön, dass da einer so eindringlich auf sein Problem hinweist.

Peer Steinbrück schaut da nicht drauf, als er mit Blaulicht und Personenschützer anrauscht. Skeptisch-anpackend halboffener Mund, Händeschütteln und rein ins Bratwurstparadies. Die Neonazis versuchen es noch einmal in Anwesenheit des Kandidaten: „Da hält es also Peer Steinreich mal wieder für nötig…“ Doch ein Linienbus hupt und versperrt ihnen die Sicht auf den SPD-Kandidaten. Kurz darauf sind sie allein.

Es heißt immer, Peer Steinbrück wirke bei seinen Klartext-Veranstaltungen wie ein Tiger im Käfig, gestikuliere, scherze und poltere. An diesem Abend wirkt er wie ein müder Kater nach schlechten Brekkies (Zugegeben: Bei Angela Merkel würde man das für den Normalzustand halten). Als er gebeten wird, etwas gegen die Neonazis draußen zu sagen, zählt er auf, was seine Regierung alles tun will: NPD-Verbot, zivilgesellschaftliches Engagement stärken und den Rest habe ich vergessen.

Die Zeit neigt sich, die Zuschauerfragen sind beantwortet, Steinbrück hält seine Schlussansprache. „Was“, fragt er irgendwann ins Publikum, „hat diese Regierung Ihnen wirklich gebracht?“ Und da ruft doch tatsächlich jemand: „Elektroautos!“ Geraune. Und ein anderer: „Das Aquädukt!“ Gekicher.

Steinbrück hätte jetzt ein paar Lacher eingeheimst, hätte er geantwortet: „Also schön, also schön. Aber was außer den Elektroautos und dem Aquädukt?“ Er tat es nicht. Weil auch ein Kandidat irgendwann einmal schlafen muss. Und weil die Welt nicht so schön ist wie bei Monty Python. Aber beinahe hätte er es getan.