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Weshalb Koalitions-Fragen nerven

Der verstorbene frühere FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff nannte einmal ein hübsches Beispiel für eine Journalistenfrage, die Politiker besser nicht beantworten sollten: „Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ Sagt der Politiker darauf ohne Nachzudenken „Ja“, bestätigt er indirekt, dass er ein gewalttätiger Ehemann ist. Sagt er hingegen „Nein“, weil er die Frage für absurd hält, outet er sich erst recht als Schläger.

Ähnlich verhält es sich mit dem in Wahlkampfzeiten beliebten Fragespiel: „Schließen Sie eine Koalition mit der Partei XY aus?“ Was soll ein Politiker, der halbwegs bei Trost ist, dazu anderes sagen außer einer Standard-Floskel in der Art: „Wir streben eine Koalition mit der Partei Z an. Aber wenn der Wähler anders entscheidet, werden wir uns Gesprächen mit anderen demokratischen Parteien nicht verschließen.“ Nur Politiker, die eigentlich gar nicht regieren wollen, werden die Frage bejahen.

Auf diese Weise kamen dieser Tage mal wieder Schlagzeilen zustande, Kanzlerin Merkel und Politiker der SPD schlössen eine Große Koalition im Fall der Fälle nicht aus, und führende Grünen liebäugelten heimlich mit Schwarz-Grün. Ja, was denn sonst? Sollen sie behaupten, sie gingen auf jeden Fall in die Opposition, wenn es für Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün bei der Bundestagswahl nicht reicht? Besonders der SPD würde man eine solche „Auschließeritits“ angesichts ihrer bescheidenen Umfragewerte als Realitätsverweigerung auslegen.

Also hat sich im Grunde nichts geändert: Die Wähler werden am 22. September nicht über eine Koalition entscheiden, sondern über die Zusammensetzung des Parlaments. Die Parteien werden dann versuchen, aus den entstandenen Mehrheitsverhältnissen eine Regierung zu formen. Das kann kompliziert werden, erst recht, wenn fünf, sechs oder sieben Parteien in den Bundestag einziehen. Deshalb sind alle Parteien gut beraten, sich andere als nur ihre Wunschoptionen offen zu halten, falls sie mitregieren möchten, und sich nicht an eine Partei zu ketten wie die FDP, die vor der Wahl eine Ampelkoalition formell ausschließen will. Und deshalb sollten Politiker bis dahin die unsinnige „Schließen-Sie-aus?“-Frage am besten nicht mehr beantworten. Die Wähler wissen es ohnehin besser.

 

Kohls Kurzzeit-Heimkehr

Da sitzt er also, der Altkanzler. Der Übervater. Der Ausgestoßene und doch Verehrte. Mit den Augen versucht Helmut Kohl zu lächeln, sich zu bedanken für den langen, warmen Applaus, den ihm die Bundestagsfraktion der Union spendet. Deutlichere Gesten fallen dem 82-jährigen seit seinem schweren Sturz vor einigen Jahren schwer, längst sitzt er im Rollstuhl, sind seine seltenen Reden nur noch undeutlich zu verstehen. Aber heute ist all das egal.

Heute ist Kohl in den Bundestag gekommen, um seiner Unionsfraktion den Glanz seiner historischen Größe zu spenden, für ein paar Minuten wenigstens. Am 1. Oktober vor 30 Jahren wurde Kohl Kanzler, und seine Partei feiert das in dieser Woche gleich mit einer Reihe von Veranstaltungen. Neben Fraktionschef Volker Kauder und Kanzlerin Angela Merkel, die ja mal sein „Mädchen“ war, sitzt er nun, und die beiden applaudieren ihm stehend. Davor rangeln die Fotografen um das beste Bild, bis Kauder sie hinausscheucht. „Ihr sollt jetzt rausgehen!“, meckert er sie an.

Was dann passiert? Man erfährt es nachher von Teilnehmern, die sich durch die Bank „bewegt“ zeigen von Kohls Auftritt. „Besonders für die Jungen war das ein Ereignis“, schwärmt Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). „Hier ist meine Heimat, die Fraktion der CDU und CSU, hier bin ich zu Hause“, erklärte der Altkanzler. Er wolle nicht viel sagen, so Kohl – und richtete dann doch deutliche Worte an seine ehemaligen Mitstreiter. „Wir werden den Frieden nur erhalten, wenn wir Bereitschaft zum Miteinander haben“, sagte er zur Europapolitik. Man müsse „einander ernst nehmen“. Und der Altkanzler lobte die Fraktion, die ehemalige wie die heutige: „Ohne uns hätte es dieses Deutschland nicht gegeben.“

Volker Kauder, der die Moderatoren-Rolle übernahm, malte das Verhältnis der Partei zu ihrem Altkanzler in rosigsten Tönen. „Der herzliche Applaus zeigt: Sie gehören ganz fest in unsere Mitte“, sagte er in Kohls Richtung. Diejenige, die ihn einst im Zuge des Spendenskandals aus dieser Mitte gestoßen hatte, Kanzlerin Merkel, schwieg dazu. Überhaupt ergriff Merkel bei Kohls Rückkehr nicht einmal das Wort. Das sei aber gar kein schlechtes Zeichen, beeilten sich CDUler nachher zu versichern, schließlich rede sie ja schon beim großen Festakt für den Altkanzler an diesem Donnerstag. Mehr Kohl als nötig will Merkel sich dann doch nicht antun.

Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten redet Kohl, und danach schwirren zweischneidige Komplimente durch den Reichstag. Seine „geistige Frische“ lobt die Staatsministerin Maria Böhmer, ein anderer seine „inhaltliche Klarheit“. Sie hatten anscheinend Schlimmeres befürchtet. Nur ein bisschen unverständlich sei er an manchen Stellen gewesen. „Irgendwas war mit Griechenland“, rätselt ein Teilnehmer, „aber was, hab ich nicht richtig mitbekommen“.

Nach kaum einer halben Stunde ist alles vorbei. Fraktionschef Kauder verlässt als einer der ersten den Saal, ein wenig später kommt Kohl herausgerollt. Eine Etage tiefer gibt es jetzt noch einen Empfang für ihn, „es gibt Herzhaftes“, heißt es. Seine Begleiter rollen ihn also in einen der großen Bundestagsaufzüge. Da kommt Angela Merkel herbei und quetscht sich als eine der letzten noch hinein in den Raum. So fahren sie gemeinsam hinab, der alte Kanzler und die nicht mehr ganz so neue Kanzlerin.

 

Große Koalition an der Saar, oder was nun?

Die Parteien sind schon dabei, die Weichen für 2013 zu stellen: Im Saarland möchte die Bundes-SPD nach dem Ende des Jamaika-Bündnisses, als neueste Variante, allenfalls eine Koalition mit der CDU auf begrenzte Zeit. Denn die Führungsgenossen im Willy-Brandt-Haus wissen, dass Große Koalitionen in aller Regel bei den nächsten Wahlen dem Juniorpartner mehr schaden. Und das wäre im Moment die SPD.

Deshalb drängt die strategisch vorausdenkende Generalsekretärin Andrea Nahles auf möglichst baldige Neuwahlen im kleinsten Bundesland. Die SPD liegt nämlich in Umfragen dort derzeit (noch) vorne und kann daher hoffen, nach einer Art Übergangsregierung mit der CDU künftig den Ministerpräsidenten zu stellen – egal in welcher Konstellation.

Der Landesvorsitzende Heiko Maas dagegen möchte eine Neuwahl eigentlich meiden: Er ist schon zweimal als Spitzenkandidat gescheitert (2009 an den Grünen, die sich statt für Rot-Rot-Grün für Jamaika entschieden) und fürchtet, eine dritte Niederlage wäre sein politisches Ende. Daher möchte er lieber die Chance ergreifen, jetzt wenigstens Vize und „Superminister“ unter der CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer zu werden. Nach dem Motto: Besser der Spatz in der Hand…

Die Linie gibt aber ganz offensichtlich nicht er vor, sondern die Parteizentrale in Berlin. Und die hat aus den eingangs genannten Gründen – mit Blick auf die Bundestagswahl 2013 – kein Interesse, ein Signal für Schwarz-Rot zu senden. Sondern, wenn schon, für Rot-Schwarz.

An einer Großen Koalition wird die SPD an der Saar allerdings wohl so oder so nicht vorbeikommen, auch nicht nach Neuwahlen. Denn Oskar Lafontaine, der Landesfraktionschef und immer noch un-heimliche Vorsitzende der Linken, hat klargestellt, seine Partei stehe für ein rot-rot-grünes Bündnis nicht mehr zur Verfügung. Auch er will offenkundig für 2013 schon mal ein Zeichen setzen. Seine Rache an der SPD, seiner alten geliebt-gehassten Partei, währt ewig.

All das bestätigt meine Prognose: 2013 wird es auch im Bund wahrscheinlich nur um die Frage gehen: Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz, Merkel oder Steinbrück/Steinmeier/Gabriel.

 

"Honeymoon" is over

Für die Medien ist es ein gefundenes Fressen: Gesundheitspolitik in der Krise, Umfragetief für die FDP, Einbußen für die wichtigsten Regierungspolitiker. Im Politbarometer der vergangenen Woche erhält die schwarz-gelbe Regierung erstmals negative Beurteilungen, im Deutschland-Trend der ARD gaben Befragte in den vergangenen Tagen an, die jetzige Regierung sei schlechter als die Vorgängerregierung. Die Koalition, so scheint es, befindet sich in einer echten Krise. Tatsächlich?

Fakt ist, dass es in der Regierung noch nicht rund läuft. Einiges ist durch den Regierungswechsel bedingt. Selbst Wunschkoalitionen müssen sich erst einmal finden. Man denke zurück an den Regierungsantritt von Rot-Grün 1998: Von Dezember 1998 an ging es mit der Unterstützung für die neue Regierung bergab. Ein erster Schock war die verlorene Landtagswahl in Hessen am 7. Februar 1999, die auch die Mehrheit im Bundesrat kostete. Es folgte ein Stimmungstief im März 1999, der absolute Tiefpunkt im September 1999, und erst die CDU-Spendenaffaire (Winter 1999/2000) führte zu erheblichen Verbesserungen der Bewertungen für Rot-Grün.

Insofern ist das, was derzeit in Berlin passiert, nicht neu. Und es ist durchaus typisch für die erste Phase einer Legislaturperiode. Neu gewählte Regierungen erhalten in der Regel kurz nach einer Wahl die besten Bewertungen, was Bestätigungseffekt im „Honeymoon“ genannt wird. Doch Flitterwochen dauern nie lange. Im Anschluss muß dann nicht mehr nur – wie im Wahlkampf und während der Koalitionsverhandlungen – geredet, sondern regiert werden. Und die ersten wichtigen und für Teile der Bevölkerung harten Politikentscheidungen müssen früh, wenn auch nicht sofort getroffen werden. Am Ende einer Legislaturperiode ist dies weitaus schwieriger, denn da muss der Souverän wieder gewonnen und keinesfalls vergrätzt werden.

Doch wie steht es im Lichte dieser Erfahrungen um die Lage der Koalition im Februar 2010? Gemessen an den ersten Monaten der letzten Regierungen, geht es Schwarz-Gelb „den Umständen entsprechend“. Das bedeutet, dass man nicht von einer Krise der Regierung sprechen kann, auch wenn die Holperer doch recht zahlreich sind. Aus der Perspektive einer ganzen Legislaturperiode hat die Regierung noch genug Zeit, in Tritt zu kommen. Ein wenig problematisch ist allerdings der Wahltermin in Nordrhein-Westfalen. Geht es „normal“ weiter, also für Schwarz-Gelb bis auf weiteres nach unten, dann wird es für Union und FDP schwierig werden, die Landtagswahl im größten deutschen Bundesland am 9. Mai 2010 zu gewinnen.

Landtagswahlen weisen allerdings ein paar Spezifika auf, die schwer kalkulierbar sind. Es wird vor allem darum gehen, welche Lager und Parteien ihre Klientel bei einer vermeintlich weniger wichtigen Wahl besser moblisieren können. Ist der Bundestrend für Schwarz-Gelb weiter negativ, dann sind Mobilisierungsdefizite für Union und FDP sehr wahrscheinlich, zumal die Regierungskonstellation im Bund und in NRW die gleiche ist. Allerdings werden Landtagswahlen auch von landesspezifischen Faktoren beeinflusst. Hier wird es um die Zufriedenheit der Bürger NRWs mit den Politikergebnissen, mit ihrem Ministerpräsidenten und um politische Alternativen gehen. Letzteres könnte zum Problem für die Opposition werden. Rot-Grün liegt derzeit klar hinter Schwarz-Gelb zurück und hat damit keine eigene Machtperspektive. Insofern wird es spannend werden: Wer „könnte“ mit wem, zu welchem Zweck und vor allem mit welchen Erfolgsaussichten? Wird es zu bunt und unübersichtlich, bliebe der Rückgriff auf ein bekanntes, bestenfalls auch bewährtes Koalitionsmodell.

 

Personalisierung vs. Volksnähe – Die Plakatkampagnen von Union und SPD

Mittlerweile ist es für jeden sichtbar: Die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes 2009 ist eröffnet. An strategisch wichtigen Punkten in jeder Stadt prangen die Wahlkampfplakate der beiden Volksparteien. Das kennt jeder, das ist bei jeder Bundestagswahl so. Auffällig ist jedoch, dass die beiden großen Parteien mit vollkommen unterschiedlichen Strategien die Motive und Slogans ihrer Werbeträger ausgewählt haben. Während von den Plakaten der Union die Spitzenkandidatin Angela Merkel oder andere Spitzenpolitiker von CDU und CSU so wie Wolfgang Schäuble oder Karl-Theodor zu Guttenberg „herablächeln“, sind auf den Plakaten der SPD Menschen wie Du und ich abgebildet. Doch nicht nur visuell, sondern auch inhaltlich weisen die Plakate der beiden großen Parteien verschiedene Schwerpunkte auf. Die CDU verweist auf die Kernkompetenzen der dargestellten Spitzenpolitiker (Plakat Schäuble: Wir haben die Kraft für Sicherheit und Freiheit; Plakat Ilse Aigner: Wir haben die Kraft für die Zukunft unserer Bauern), die SPD hingegen wirbt mit Kernkompetenzen der Partei und Sachthemen. Sympathisch anmutende Menschen, die wirken, als seien sie aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft, fungieren als testimonials und sollen den Wählern die Stärken der SPD näherbringen. Die SPD setzt auf thematischen „Zugpferde“, und so werden „soziale Gerechtigkeit“, „Solidarität“ und „erneuerbare Energien“ beworben mit Slogans wie „Bildung darf nicht von Konto der Eltern abhängen“, „Die SPD kämpft für Arbeitsplätze. Für meinen und auch für Ihren.“ oder „Atomkraft war gestern. Saubere Energie ist die Zukunft.“

Betrachtet man sich die Umfragen, kann man sowohl der Union zu ihrer Personalisierungsstrategie, als auch der SPD zur ihrer Strategie, die auf Volksnähe und Sachlichkeit setzt, sagen: aufs richtige Pferd gesetzt! Der SPD werden von den anderen Parteien die Themen „abgegraben“, deshalb tut sie gut daran, ihre thematischen Stärken herauszustellen. Im Gegensatz zur Union verfügt die SPD nicht über starke Spitzenpolitiker, die sich zur Personalisierung eignen würden. Frank-Walter Steinmeier rangiert auf der Beliebtheitsliste der Spitzenpolitiker lediglich im Mittelfeld, wohingegen Angela Merkel und Karl-Theodor zu Guttenberg das Feld weiterhin anführen. Die CDU hat ihre personelle Stärke in diesem Wahlkampf erkannt und strategisch richtig gehandelt. Die Personalisierung der CDU und die Volksnähe der SPD: Kampagnenstrategien, die vollkommen entgegengesetzt sind, und dabei optimal von beiden Parteien, passend für ihre jeweilige Situation, gewählt wurden. In puncto Kampagnenstrategie „Plakate“ haben die beiden Volksparteien ihre Hausaufgaben gemacht!

 

Der Kirchhof-Komplex (und -Reflex)

Wahlkampf 2005 – alles läuft gut für die Union. Bis Kirchhof kommt. Das ist mehr als Folklore, sondern lässt sich auch mit Zahlen untermauern: Je bekannter Kirchhof in der Bevölkerung wurde, desto unbeliebter wurde er auch, wie die folgende Grafik zeigt (die auf täglichen Interviews in der heißen Phase des Wahlkampfs 2005 basiert):

Innerhalb kürzester Zeit sank das Ansehen Kirchhofs auf der etwa aus den ZDF-Politbarometern bekannten Skala von -5 bis +5 um annähernd zwei Punkte. Da sonst schon Verschiebungen in der Größenordnung von wenigen Zehntelpunkten als bemerkenswert gelten, ist dies ein dramatischer Einbruch.

Darauf hat die Union jetzt reagiert und im laufenden Wahlkampf Steuersenkungen für die Zukunft angekündigt. Ob das den Wähler allerdings mehr überzeugt als die Strategie 2005 – wo doch Wirtschaftswissenschaftler nahezu unisono mit dem Gegenteil rechnen?

 

Das letzte Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2009: Die Union rutscht in die Mitte

CDU und CSU als letzte der im Bundestag vertretenen Parteien haben heute ihr Wahlprogramm für die kommende Bundestagswahl vorgelegt und damit der Wählerschaft als auch ihren parteipolitischen Mitbewerbern ihre inhaltlichen Vorstellungen für die nächste, bis 2013 reichende Legislaturperiode offeriert. Die Debatte um Forderungen innerhalb der CDU nach Steuererhöhungen wurden offenbar in der am 28. Juni veröffentlichten finalen Version des Regierungsprogramms nicht aufgenommen. So heißt es in Kapitel I.1 („Verantwortungsbewusste Steuerpolitik für Leistungsgerechtigkeit“) des CDU/CSU-Wahlprogramms, dass Steuererhöhungen abgelehnt werden. Diese Aussage mag nicht nur aufgrund des entschiedenen Widerstandes gegenüber Steuererhöhungen seitens der CSU in das Programm eingefügt worden sein, sondern auch aufgrund der harschen Reaktion des von den Unionsparteien präferierten Koalitionspartners FDP. Doch wie sieht die allgemeine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ausrichtung der Union im Jahr 2009 aus? Hat sich die programmatische Ausrichtung signifikant von der vor vier Jahren formulierten Haltung verschoben? Löst man sich also von dieser einen kurzen Satz umfassenden Aussage zu Steuererhöhungen und betrachtet das Wahlprogramm der Union und die der anderen Bundestagsparteien insgesamt, so haben CDU und CSU einen deutlichen Wandel gegenüber ihrem letzten Manifest aus dem Jahr 2005 durchgemacht.

Die in der Grafik abgetragenen Positionen der endgültigen Versionen der Wahlprogramme der momentan und – wenn man den Demoskopen glaubt – auch sicher nach dem 27. September im Bundestag vertretenen Parteien zeigen, dass in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen lediglich die Union ihre Position signifikant verschoben hat, und zwar in die Mitte der wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension (Die Technik zur Gewinnung der Positionen ist wie in früheren hier präsentierten Analysen das auf relativen Worthäufigkeiten beruhende „wordscore“-Verfahren, das auch Standardfehler der geschätzten Positionen ermittelt). Das heißt, dass CDU/CSU im Vergleich zu 2005 nunmehr stärker auf den Staat als Korrektiv setzen und damit den freien Markt stärker in seine Grenzen weisen wollen, was sicherlich eine Reaktion auf die globale Wirtschaftskrise und ihre auch in Deutschland spürbaren Folgen ist und bei einem großen Teil der Wählerschaft gut ankommt. Doch auch gesellschaftspolitisch ist die Union in ihrem Wahlprogramm 2009 deutlich weniger konservativ ausgerichtet als noch vier Jahre zuvor. Dieser Wandel kommt mit Hinblick auf die durchaus reformorientiert-progressive Familienpolitik von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) trotz parteiinterner Kritik vom konservativen Parteiflügel nicht ganz unerwartet.

Was implizieren diese Positionsverschiebungen der Union nun aber für den nach der Wahl einsetzenden Koalitionsbildungsprozess? Wie die Reaktion der Liberalen auf die Forderungen nach höheren Steuern bereits gezeigt hat, so dürfte diese programmatische Verschiebung der Unions-Position auf dem zentralen Politikfeld „Wirtschaft und Soziales“ die Koalitionsverhandlungen mit der FDP nicht unbedingt einfacher machen. Mit der SPD, die wie Liberale und die Grüne lediglich ihre gesellschaftspolitische Position gegenüber 2005 deutlich verändert haben, dürfte sich eine Einigung auf ein weiteres Koalitionsabkommen nun weitaus unkomplizierter gestalten als noch in der Konstellation vier Jahre zuvor. Doch diese rein inhaltlich-programmatisch ausgerichtete Interpretation des am 28. September einsetzenden Koalitionsspiels vernachlässigt natürlich zentrale Faktoren wie die Sitzstärke oder auch die Koalitionsaussagen der im Parlament vertretenen Parteien. Bezieht man aber lediglich die Information mit ein, dass CDU/CSU und Sozialdemokraten sich zwar eine erneute große Koalition nicht unbedingt wünschen, eine Neuauflage jedoch auch nicht ausschließen, so bleibt festzuhalten, dass die Inhalte des 2009er Wahlprogramms der Union offensichtlich nicht dazu dienen, einem neuen schwarz-roten Bündnis große Steine in den Weg zu legen.

 

Wo sind all die Themen hin, wo sind sie geblieben? Die SPD im Kampf um ihre Kernkompetenzen

Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit sind gerade in Zeiten der Finanzkrise Themen, wenn nicht sogar die Themen, die Bürger bewegen. Für diesen Bundestagswahlkampf ist es für Parteien folglich wichtig, gerade diese Themen zu besetzen und von den Wählern als kompetent angesehen zu werden.

Aus der Wahlkampfkommunikationsforschung wissen wir, dass Parteien besonders erfolgreich bei der Vermittlung von Themen sind, wenn es ihnen gelingt diese mit „Köpfen“, d.h. mit Spitzenpolitikern, zu verbinden. Werden Spitzenpolitiker als Experten für bestimmte Themen von den Wählern wahrgenommen, ist es für eine Partei einfacher, diese Themen als ihre Kompetenzen zu verkaufen. Das Thema „Wirtschaft“ wurde traditionell immer eher der CDU/CSU als Kompetenz zugeschrieben, selbst Schröder gelang es rückblickend nicht, die Wähler davon zu überzeugen, dass er bzw. seine Partei die richtige Wahl für die Lösung wirtschaftlicher Fragen sei: Nur 19% der Wähler gaben beispielsweise im Politbarometer Juni 2002 an, Schröder sei kompetenter im Bereich Wirtschaft, wohingegen 29% Stoiber für den Kompetenteren in diesem Bereich hielten.

Blickt man auf die Sympathiewerte für den christsozialen Wirtschaftsminister zu Guttenberg, der im Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen im Juni 2009 gleichauf mit Kanzlerin Merkel auf dem ersten Platz liegt, so dürfte es für die SPD auch in diesem Wahlkampf kaum möglich sein, das Thema Wirtschaft für sich zu entscheiden. Auch die Kompetenzzuweisung für den Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier spiegelt dies nur all zu deutlich wieder, lediglich 10% halten ihn für kompetent wirtschaftliche Probleme zu lösen, im Vergleich dazu kommt Angela Merkel auf 25%.

Quelle: ZDF-Politbarometer Juni 2009

Hier lässt sich die CDU also nicht die Butter vom Brot nehmen. Noch kein Grund zur Panik, denn es bleibt ja noch das Thema „Soziales“, das traditionell der SPD zugeschrieben wird. Hier müsste die SPD eigentlich punkten. Eigentlich… denn auch bei der Kenkompetenz „Soziales“ hat es die CDU scheinbar geschafft, den Sozialdemokraten den Rang abzulaufen: 26% der Wähler vertrauen auf die Kanzlerin Merkel, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, nur noch 20% der Wähler sehen Steinmeier kompetenter auf diesem Gebiet.

Betrachtet man die Beliebtheitsliste der Spitzenpolitiker in Deutschland, lässt auch diese keinen Zweifel zu: Mit 2,0 Punkten führt die Kanzlerin zusammen mit ihrem Wirtschaftsminister das Ranking an, der CDU ist es also gelungen, ihre Spitzenpolitiker mit den zentralen Wahlkampfthemen zu verknüpfen. So gut, dass selbst die Kernkompetenz der SPD nun der Kanzlerin zugeschrieben wird. Das Worst-case-Szenario: Die beiden großen Themen „Wirtschaft“ und „Soziales“ sind von den Spitzenpolitikern der CDU besetzt, wovon eines ein Kernthema der SPD ist. Ohne die wichtigen Wahlkampfthemen besetzen zu können und vor allem ohne das Vertrauen der Wähler in ihre Kernkompetenzen wird es für die SPD jedoch schwer, bei der Bundestagswahl zu punkten. Jetzt gilt es für die Genossen, ihren Kanzlerkandidaten Steinmeier in eine Linie mit den traditionellen Themen zu bringen. Gelingt dies, ist das zwar eine notwendige Bedingung für einen Wahlsieg, jedoch noch lange keine hinreichende…

 

Bayern gegen Bremen

Duelle zwischen Bayern und Bremen kennt man vor allem im Fußball. Doch auch bei der Europawahl gibt es dieses Duell, vor allem im Unionslager. Während alle anderen Parteien mit bundesweit einheitlichen Listen zur Europawahl antreten, tritt die Union mit Landeslisten (also einer eigenen Kandidatenliste pro Bundesland) an. Dieser Umstand ist der CSU geschuldet – da sie in Bayern (und nur dort) antritt, muss auch die CDU in jedem einzelnen der übrigen 15 Länder mit einer eigenen Liste antreten.

Die Vergabe der Sitze erfolgt am Sonntag zweistufig: Zunächst auf die CDU insgesamt, dann – nach der Anzahl der pro Bundesland erhaltenen Stimmen – auf die einzelnen Landeslisten der CDU. Nun wird die CDU, das dürfte eine nicht allzu kühne Prognose sein – rund 35 der 99 deutschen Sitze am kommenden Sonntag gewinnen können. Dass einer davon von einem bremischen Kandidaten besetzt werden wird, ist aber nahezu ausgeschlossen. Zu klein ist der Anteil Bremens an der deutschen Bevölkerung (und damit auch innerhalb der CDU-Wählerschaft), nur 0,8 Prozent der Wahlberechtigten leben dort. Die CDU-Liste Bremens wird nicht zum Zuge gekommen, selbst ihr Spitzenkandidat wird nicht ins EP einziehen. Und das alles nur (ein wenig überspitzt formuliert) wegen der CSU. Bayern gegen Bremen – manchmal auch abseits des Platzes.

 

Das Schicksal der CSU hängt an der Wahlbeteiligung – einige Szenarien

Am kommenden Sonntag findet bekanntlich die Europawahl statt. Dass die Wahlbeteiligung dabei von entscheidender Bedeutung ist, wurde sowohl hier als auch in der breiteren Öffentlichkeit schon ausführlich diskutiert. Von besonderer Bedeutung ist die Wahlbeteiligung aber für eine Partei – die CSU. Ihr Schicksal am kommenden Sonntag hängt nämlich genau von ihr ab.
Warum? Die CSU tritt – natürlich – nur in Bayern an. Gleichwohl muss sie alleine mit ihren bayrischen Stimmen die Fünf-Prozent-Hürde überspringen, sonst ist sie zukünftig im Europäischen Parlament nicht mehr vertreten. Die Fünf-Prozent-Hürde bezieht sich dabei auf die Zahl der bundesweit abgegebenen gültigen Zweitstimmen: Fünf Prozent aller bundesweit abgegebenen gültigen Stimmen müssen ein Kreuzchen bei „CSU“ haben. Zwei Dinge sind also entscheidend für die CSU: Die Zahl der bundesweit abgegebenen Stimmen und die Zahl der für die CSU in Bayern abgegebenen Stimmen.
Der Bundeswahlleiter hat kürzlich die Zahl der Wahlberechtigten pro Bundesland veröffentlicht , demnach leben 15 Prozent der wahlberechtigten Deutschen in Bayern. Auf dieser Basis lassen sich nun einige Szenarien (samt ihrer Konsequenzen für die CSU) durchspielen:

Szenario 1: Die Wahlbeteiligung beträgt in allen Bundesländern einheitliche 43 Prozent (dem Durchschnitt von 2004)
In diesem Fall würden insgesamt 26,703 Millionen Deutsche (und 4 Millionen Bayern) ihre Stimme abgeben. Um die 5%-Hürde zu überspringen, muss eine Partei 1,335 Millionen Stimmen erhalten, was für die CSU einem Stimmenanteil von 33,4 Prozent der bayrischen Stimmen entspricht. Erreicht die CSU in Bayern 33,4 Prozent der Stimmen, ist sie drin, gelingt ihr das nicht, ist sie draußen aus dem EP.

Szenario 2: Die Wahlbeteiligung beträgt in Ländern, in denen nicht zeitgleich eine Kommunalwahl stattfindet, 33 Prozent; in Ländern mit paralleler Kommunalwahl 53 Prozent
In diesem Fall würden insgesamt 24,553 Millionen Deutsche (und 3,07 Millionen Bayern) ihre Stimme abgeben. Um die 5%-Hürde zu überspringen, muss eine Partei 1,228 Millionen Stimmen erhalten, was für die CSU einem Stimmenanteil von 40,0 Prozent der bayrischen Stimmen entspricht.

Szenario 3: Die Wahlbeteiligung beträgt in Ländern, in denen nicht zeitgleich eine Kommunalwahl stattfindet, 33 Prozent; in Ländern mit paralleler Kommunalwahl 53 Prozent, in Bayern aber wegen schönen Wetters nur 30 Prozent
In diesem Fall würden insgesamt 24,274 Millionen Deutsche (und 2,79 Millionen Bayern) ihre Stimme abgeben. Um die 5%-Hürde zu überspringen, muss eine Partei 1,214 Millionen Stimmen erhalten, was für die CSU einem Stimmenanteil von 43,5 Prozent der bayrischen Stimmen entspricht – einem Zehntelprozentpunkt mehr, als sie bei der Landtagswahl 2008 erhielt.

Es verspricht ein spannender Wahlsonntag zu werden, allen voran für die CSU.

PS: Eine andere Kuriosität im Zusammenhang mit dem Antreten der CSU bei der Europawahl ist inzwischen hier diskutiert.