Lesezeichen
 

Wie Peer Steinbrück beinahe etwas irre Lustiges gesagt hätte

Wenn Peer Steinbrück zurzeit nur ansatzweise so etwas wie Alltag erlebt, dann muss das so aussehen wie an diesem Dienstagabend in Berlin-Rudow. Noch am Morgen hat der Kandidat sich im Bundestag mit Angela Merkel duelliert, erst zwei Tage ist sein recht erfolgreicher Fernsehauftritt her. Und nun empfängt ihn der Direktkandidat Fritz Felgentreu zu einem Auftritt in der alten Dorfschule.

Viel ist nicht los. Es gibt Bratwürste, Trommelkapelle und bierselige Kumpeleien. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite aber hat sich eine kleine Truppe NPDler breitgemacht. Vor ihnen hängt ein Plakat mit einem Slogan, auf den sie sehr stolz sein müssen: Maria statt Scharia.

Dann beginnt der Vormann der Rechtsextremen zu reden. „Peer Steinreich hält es also einmal wieder für nötig, sich beim Wahlvolk sehen zu lassen“, beginnt er und führt den Zuhörer durch sein Menschenbild. Der deutsche Durchschnitts-IQ sei unter 100 gefallen, seit die Zuwanderer da seien, beklagt er sich. Vorm SPD-Stand nicken sie fröhlich: Schön, dass da einer so eindringlich auf sein Problem hinweist.

Peer Steinbrück schaut da nicht drauf, als er mit Blaulicht und Personenschützer anrauscht. Skeptisch-anpackend halboffener Mund, Händeschütteln und rein ins Bratwurstparadies. Die Neonazis versuchen es noch einmal in Anwesenheit des Kandidaten: „Da hält es also Peer Steinreich mal wieder für nötig…“ Doch ein Linienbus hupt und versperrt ihnen die Sicht auf den SPD-Kandidaten. Kurz darauf sind sie allein.

Es heißt immer, Peer Steinbrück wirke bei seinen Klartext-Veranstaltungen wie ein Tiger im Käfig, gestikuliere, scherze und poltere. An diesem Abend wirkt er wie ein müder Kater nach schlechten Brekkies (Zugegeben: Bei Angela Merkel würde man das für den Normalzustand halten). Als er gebeten wird, etwas gegen die Neonazis draußen zu sagen, zählt er auf, was seine Regierung alles tun will: NPD-Verbot, zivilgesellschaftliches Engagement stärken und den Rest habe ich vergessen.

Die Zeit neigt sich, die Zuschauerfragen sind beantwortet, Steinbrück hält seine Schlussansprache. „Was“, fragt er irgendwann ins Publikum, „hat diese Regierung Ihnen wirklich gebracht?“ Und da ruft doch tatsächlich jemand: „Elektroautos!“ Geraune. Und ein anderer: „Das Aquädukt!“ Gekicher.

Steinbrück hätte jetzt ein paar Lacher eingeheimst, hätte er geantwortet: „Also schön, also schön. Aber was außer den Elektroautos und dem Aquädukt?“ Er tat es nicht. Weil auch ein Kandidat irgendwann einmal schlafen muss. Und weil die Welt nicht so schön ist wie bei Monty Python. Aber beinahe hätte er es getan.

 

Weshalb Koalitions-Fragen nerven

Der verstorbene frühere FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff nannte einmal ein hübsches Beispiel für eine Journalistenfrage, die Politiker besser nicht beantworten sollten: „Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ Sagt der Politiker darauf ohne Nachzudenken „Ja“, bestätigt er indirekt, dass er ein gewalttätiger Ehemann ist. Sagt er hingegen „Nein“, weil er die Frage für absurd hält, outet er sich erst recht als Schläger.

Ähnlich verhält es sich mit dem in Wahlkampfzeiten beliebten Fragespiel: „Schließen Sie eine Koalition mit der Partei XY aus?“ Was soll ein Politiker, der halbwegs bei Trost ist, dazu anderes sagen außer einer Standard-Floskel in der Art: „Wir streben eine Koalition mit der Partei Z an. Aber wenn der Wähler anders entscheidet, werden wir uns Gesprächen mit anderen demokratischen Parteien nicht verschließen.“ Nur Politiker, die eigentlich gar nicht regieren wollen, werden die Frage bejahen.

Auf diese Weise kamen dieser Tage mal wieder Schlagzeilen zustande, Kanzlerin Merkel und Politiker der SPD schlössen eine Große Koalition im Fall der Fälle nicht aus, und führende Grünen liebäugelten heimlich mit Schwarz-Grün. Ja, was denn sonst? Sollen sie behaupten, sie gingen auf jeden Fall in die Opposition, wenn es für Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün bei der Bundestagswahl nicht reicht? Besonders der SPD würde man eine solche „Auschließeritits“ angesichts ihrer bescheidenen Umfragewerte als Realitätsverweigerung auslegen.

Also hat sich im Grunde nichts geändert: Die Wähler werden am 22. September nicht über eine Koalition entscheiden, sondern über die Zusammensetzung des Parlaments. Die Parteien werden dann versuchen, aus den entstandenen Mehrheitsverhältnissen eine Regierung zu formen. Das kann kompliziert werden, erst recht, wenn fünf, sechs oder sieben Parteien in den Bundestag einziehen. Deshalb sind alle Parteien gut beraten, sich andere als nur ihre Wunschoptionen offen zu halten, falls sie mitregieren möchten, und sich nicht an eine Partei zu ketten wie die FDP, die vor der Wahl eine Ampelkoalition formell ausschließen will. Und deshalb sollten Politiker bis dahin die unsinnige „Schließen-Sie-aus?“-Frage am besten nicht mehr beantworten. Die Wähler wissen es ohnehin besser.

 

Mal wieder eine Unterschriftenaktion in Hessen

Für einen Landespolitiker ist es natürlich nicht so einfach, wenn die eigene Wahl am gleichen Tag stattfindet wie die alles überschattende Bundestagswahl. Beim Getöse um Berlin gehen die kleineren Fragen gerne man unter und man wird mitgerissen, in Sieg oder Niederlage – und wenn man Kandidat der SPD ist, sieht es vieles nach Niederlage aus. Man muss sich noch mehr abstrampeln als sonst, um gehört zu werden.

Thorsten Schäfer-Gümbel hat jetzt also den Steuerhinterziehern und Steuerumgehern den Kampf erklärt. Er hat einen Gesetzentwurf vorbereitet, der die Verjährung nach fünf Jahren abschaffen würde und die bequeme Möglichkeit zur Selbstanzeige gleich auch. Vor allem aber hat Schäfer-Gümbel eine Unterschriftenaktion angekündigt. Am kommenden Montag soll es losgehen in Frankfurt. Die Bürger sollen dann bitte unterschreiben für eine „Null-Toleranz-Strategie“. Das klingt richtig, das klingt gut, denn wer will schon Toleranz für Steuersünder, das sind ja Verbrecher!

Die hessischen Politiker scheinen es überhaupt zu haben mit Unterschriftenaktionen. Natürlich ist der jetzige SPD-Versuch nicht gleichzusetzen mit der infamen Kampagne Roland Kochs (CDU), der einst einfach mal Unterschriften gegen „kriminelle Ausländer“ sammelte. Eines aber haben solche Aktionen dann doch stets gemein: Es geht weniger um konkrete Politik (Steuergesetze sind kaum Ländersache, Schäfer-Gümbel könnte nach einem möglichen Wahlsieg lediglich mehr Kontrolleure einstellen), sondern darum, Stimmungen für sich zu nutzen. Davon könnten am Ende vielleicht sogar die großen Mitstreiter in Berlin profitieren. Schließlich war es Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der einst die Kavallarie auf die renitenten Schweizer und ihr Bankgeheimnis loslassen wollte. Man hört, Schäfer-Gümbel käme bald auch nach Berlin.

 

Kanzlermodell sagt Wiederwahl von Merkel voraus

Von Thomas Gschwend und Helmut Norpoth

 
Bei der Bundestagswahl im Herbst zeichnet sich eine Wiederwahl der amtierenden Regierungskoalition ab. Die amtierende Regierungschefin konnte im Vergleich zur letzten Bundestagswahl ihre Popularität noch einmal steigern. Die aktuellen Popularitätswerte von Angela Merkel sind im Vergleich zu denen ihres Herausforderers Peer Steinbrück wirklich historisch hoch. Nur Willy Brandt 1972 im Vergleich zu Rainer Barzel sowie Konrad Adenauer 1953 im Vergleich zu Erich Ollenhauer genossen einen noch deutlicheren Ansehensvorsprung in der Geschichte der Bundesrepublik. Sofern der derzeitige Popularitätsvorsprung von Angela Merkel über den Sommer stabil bleibt, wird das ihrer CDU/CSU-FDP-Koalition eine absolute Mehrheit der Zweitstimmen am 22. September sichern.

Diese Einsicht verdanken wir einem von uns entwickelten Vorhersagemodell, das sich bei den letzten drei Bundestagswahlen bewährte. Abgeleitet von theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten haben wir ein Prognosemodell entwickelt, dass jeweils im Sommer vor den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 bereits den jeweiligen Sieger richtig vorhersagte. Ob auf einen Sieg der amtierenden Regierungskoalition gehofft werden darf, erklären wir mit dem Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Einflussfaktoren. Da ist zunächst erstens der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Hinzu kommt zweitens der mittelfristig wirksame Prozess der Abnutzung im Amt – gemessen durch die Zahl der Amtsperioden der Regierung. Drittens geht die Popularität des amtierenden Kanzlers ein, gemessen als mittlerer Wert jeweils ein und zwei Monate vor einer Bundestagswahl. Dennoch ist die historische Popularität der Kanzlerin trügerisch, da mittlerweile am rechten Spektrum eine neue Partei aussichtsreich um den Einzug in den Bundestag kämpft, die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Anhänger dieser Partei werden sich eher für Merkel statt für Steinbrück als Kanzlerin aussprechen, ohne aber letztlich die jetzige Regierung bei den Wahlen zu unterstützen. Eine solche Situation korrigieren wir – übrigens wie bei Gerhard Schröder 2005 mit der Linken -, indem wir einfach die Unterstützungswerte dieser Parteien vom langfristigen Wählerrückhalt der jeweiligen Regierungsparteien abziehen. Auf solche Wähler kann sich die Regierungskoalition wahrlich nicht verlassen. Mit Hilfe statistischer Analyseverfahren können wir schließlich das Zusammenwirken dieser drei Faktoren und deren Gewichtung für die Stimmabgabe zu Gunsten einer Regierungskoalition äußerst genau bestimmen.

Bis auf den Wert der Kanzlerunterstützung kurz vor der Wahl liegen alle benötigten Modellwerte bereits vor. Es ist jedoch noch nicht möglich, schon heute eine exakte Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl im Herbst zu erstellen. Die kann es nach der Logik unseres Modells erst Mitte August geben. Allerdings können wir auf Grund hypothetischer Popularitätswerte der Bundeskanzlerin, die sie kurz vor der Wahl im Vergleich zu ihrem Herausforderer genießen könnte, schon heute sehen welches Ergebnis unser Modell dann vorhersagen würde.

Nach den letzten veröffentlichten Politbarometern vom Juli, bereinigt um die Unentschlossenen, liegt die Zustimmungsrate für Merkel bei 68 Prozent. Bliebe es dabei, würde unser Prognosemodell komfortable 49,7 Prozent für das schwarz-gelbe Lager vorhersagen. Damit wird es zu einer Wiederwahl der von Merkel geführten CDU/CSU-FDP-Koalition nach der Wahl im September kommen.

 

 

Steuern und Gegensteuern: Uli Hoeneß als Wahlkampfrisiko

Eigentlich hat Uli Hoeneß Glück: Angela Merkel distanziert sich von ihm. Damit sind seine weiteren Karriereaussichten deutlich besser, als die all jener, denen die Bundeskanzlerin in letzter Zeit in kritischen Momenten ihr Vertrauen ausgesprochen hat. Egal ob Christian Wulff, Annette Schavan oder Karl-Theodor zu Guttenberg – sie alle sind kurz nach der öffentlichen Vertrauensbekundung der Kanzlerin von ihren Ämtern zurückgetreten.

Nun hat die Bundeskanzlerin aller offenkundigen Fußballbegeisterung zum Trotz natürlich keinerlei Einfluss auf die Geschäfte des FC Bayern. Aber die Tatsache, dass sie sich in der Causa Hoeneß so schnell und eindeutig positioniert hat, lässt dennoch tief blicken – auf die Geschäfte ihrer Partei. Gerade erst wurde das Image der Kanzlerin als ruhige, moderierende, über den Dingen stehende Stimme der Vernunft durch den Vorstoß ihrer Arbeitsministerin in Sachen Frauenquote angekratzt. Hier konnte Angela Merkel nicht wie sonst üblich dem Konflikt in ihrer Partei Raum geben, sich dabei selbst zurückhalten und erst eine Entscheidung treffen, nachdem sich diese bereits abgezeichnet hatte. Sondern sie musste sich positionieren – in diesem Fall gegen Ursula von der Leyen.

Warum sie sich nun auch in der Debatte um Uli Hoeneß so schnell zu Wort gemeldet hat, kann unterschiedliche Gründe haben. Nicht auszuschließen ist jedenfalls, dass auch der nahende Bundestagswahlkampf eine Rolle spielt. Denn gerade dann, so zeigt eine Vielzahl von Forschungsergebnissen, ist die Personifizierung von politischen Fragestellungen ganz besonders wichtig. Das Thema Steuergerechtigkeit hat durch den Bayern-Präsidenten ein Gesicht bekommen, und so distanziert sich Angela Merkel nicht nur von der Person Hoeneß, sondern auch von der Haltung, für die er steht: Es geht um das berühmte „Wasser predigen und Wein trinken“.

Welche Auswirkungen es haben kann, wenn eine Person, die untrennbar mit einem Thema verbunden ist, öffentlichen und medialen Gegenwind bekommt, hat Angela Merkel auf dem Weg zu ihrer ersten Kanzlerschaft selbst schmerzhaft erlebt. Der von ihr mit der Reform des deutschen Steuerwesens beauftragte und als Finanzminister ins Schattenkabinett berufene Verfassungsrechtler Paul Kirchhof wurde im Wahlkampf insbesondere vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder immer wieder hart attackiert. Die so erzeugte Stimmung gegen „den Professor aus Heidelberg“ zahlte sich aus – um ein Haar hätte die CDU ihren Vorsprung noch verspielt.

Ob Uli Hoeneß das Potenzial hat, der Paul Kirchhof des diesjährigen Wahlkampfes zu werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorhersehbar. Die Kanzlerin scheint sich jedenfalls der Gefahr bewusst zu sein.

Vielleicht hat sie bei ihrer Äußerung zu Uli Hoeneß auch den erwartbaren Nebeneffekt dankend in Kauf genommen, dass die Debatte um Steuermentalitäten das für sie unbequeme Thema Frauenquote medial überlagern würde – eben auch, weil sie sich selbst dazu zu Wort gemeldet und der Angelegenheit dadurch eine besondere politische Note verliehen hat. Als Wahlkämpferin wird sie schließlich seit jeher gerne unterschätzt.

 

Politiker müssen Anti-Sexismus-Rhetorik Taten folgen lassen

Betrachtet man die deutsche Sexismus-Debatte mit einer gewissen Distanz, etwa aus der Perspektive der USA, so wird deutlich, welche Auswirkungen derartige gesellschaftspolitische Diskussionen hier wie dort haben können. Man darf allerdings hoffen, dass die dortigen Regeln der „political correctness“ nicht bald auch hier gelten. Sie entstanden sicherlich mit besten Intentionen. Inzwischen aber haben sie Dimensionen angenommen, die für keinen der Beteiligten hilfreich sind. Statt Respekt und Verständnis füreinander zu fördern, verhärten sie die Fronten bisweilen eher noch.

Am Beispiel Rainer Brüderle zeigt sich: In Deutschland geht man mit solchen Anlässen durchaus anders um als in den USA. Er steht ganz persönlich in der Kritik, doch viele Kommentatoren haben längst und mit Recht angemerkt, dass die Debatte nicht anhand einer bestimmten Person geführt werden sollte. Denn die Beobachtungen, um die es geht, treten im Alltag zuhauf und an ganz unterschiedlichen Stellen auf. Die politische Dimension für Brüderle und die FDP ist verglichen damit zweitrangig.

In den USA hingegen sind gesellschaftspolitische Debatten noch stärker mit Personen verknüpft. Das hat einen bemerkenswerten Effekt: Insbesondere Politiker der Republikanischen Partei „üben“ in diesen Tagen verstärkt das politisch korrekte Auftreten. Der lange Wahlkampf im vergangenen Jahr hat viele unbedachte oder auch tatsächlich respektlose Äußerungen zutage gebracht, die der Partei in der öffentlichen Wahrnehmung und damit auch in der harten politischen Währung der Wählerstimmen nachhaltig geschadet haben.

Rhetorik und politisches Handeln klaffen auseinander

Den Republikanern geht es nun darum, mittelfristig wieder Wählerschichten für sich zu gewinnen, ohne die in Zukunft keine Präsidentschaftswahl mehr zu gewinnen ist: etwa Hispanics, Asiaten – oder eben Frauen. Über diese Gruppen will man nicht mehr herablassend sprechen, einem „Sensitivitätstraining“ sollten sich die Politiker unterziehen, heißt es. Und die selbst auferlegte Maßregelung nimmt absurde Züge an: Beispielsweise ist doch tatsächlich mit Blick auf mittel- und südamerikanische Einwanderer der Ratschlag zu hören: „Don’t use phrases like ’send them all back‘.“ oder; „Don’t characterize all Hispanics as undocumented and all undocumented as Hispanics.“ Dies nur als kleine Kostprobe.

Über diese republikanische Rhetorik wird in den USA gerade viel berichtet. Das politische Handeln auf diesen Themenfeldern findet dagegen oft unterhalb des nationalen (kritischen) medialen Radars statt. So werden etwa in den Staaten, in denen Republikaner reagieren, Abtreibungskliniken geschlossen. Die Amtsträger dort vertreten auch vielfach deutlich frauenfeindliche Standpunkte zu Verhütung oder Gesundheitsvorsorge. Gleichzeitig spricht die Struktur der Abgeordneten im Kongress nicht gerade dafür, dass aktiv Frauen rekrutiert werden. Die Republikaner haben sehr viel weniger weibliche Abgeordnete im Repräsentantenhaus als die Demokraten: Von den 234 Mitgliedern sind lediglich 20 Frauen; bei den Demokraten sind es immerhin 61 von 201 (mehr dazu auch in einer aktuellen Ausgabe der Rachel Maddow Show).

Über konkrete Veränderungen nachdenken

Die Diskrepanz zwischen Rhetorik und tatsächlichen politischen Positionen mag in Deutschland weniger drastisch sein, allerdings besteht sie auch hierzulande. Mit Blick auf die Sexismus-Debatte sollte man vor allem die Politik nicht nur an Worten, sondern auch an Taten messen. Wo bleiben die Frauen in den Aufsichtsräten? Wo bleibt die Quote? Wie steht es mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Warum haben wir im Jahre 2013 immer noch zu wenige Kita-Plätze? Auch dies sind Fragen, die im Zusammenhang mit alltäglichem Sexismus gestellt und beantwortet werden müssen.

Die derzeitige Debatte ist wichtig. Aber ihr ganzes Potenzial entfaltet sie erst, wenn wir sie zum Anlass nehmen, über konkrete Weichenstellungen zu sprechen. Nur dann kann es nachhaltige Veränderungen für unser Miteinander geben. Lasst uns über gesellschaftspolitische Positionen sprechen!

 

Machst du Peer mal auf? Die Wahlkampfstrategie der SPD auf dem Prüfstand

Die SPD stellt die Weichen für den Wahlkampf 2013. Hierbei gilt es, zwei zentrale Botschaften zu vermitteln: Peer Steinbrück muss als Person für Wähler attraktiv(er) dargestellt werden; dabei müssen jedoch auch die Inhalte in den Vordergrund gestellt werden. Der jüngste DeutschlandTrend hat klar gezeigt, dass Wählerinnen und Wähler die SPD primär aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung wählen würden.

Steinbrück hat die soziale Gerechtigkeit, das „Wir-Gefühl“ in der Gesellschaft, in den Mittelpunkt seiner Parteitagsrede gestellt. Angegriffen hat er die regierende Koalition gleich in mehreren Punkten: Familienpolitik, Betreuungsgeld, Frauenquote, Rente und die Europapolitik. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss das Programm, für das Steinbrück und die SPD in den Wahlkampf ziehen als klare inhaltliche Alternative zu Union und FDP.

Nun möchte Steinbrück sich und sein Programm den Wählerinnen und Wählern am liebsten persönlich vorstellen. Die SPD setzt auf Sofagespräche: Peer bei uns zu Hause, im Wohnzimmer. Wie ist das aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu beurteilen? Wir wissen aus der Wahlkampfforschung, dass die interpersonale Kommunikation verglichen mit anderen Instrumenten den größten Effekt auf die Wählerinnen und Wähler haben kann. Dies wurde in einer nach wie vor beeindruckenden Studie von Paul Lazarsfeld, Bernard Berelson und Hazel Gaudet aus dem Jahr 1944 nachgewiesen, zahlreiche neuere Studien bestätigen dies. Über persönliche Gespräche können Bürgerinnen und Bürger am ehesten für Politik begeistert werden, ihre Meinungen zu bestimmten Themen bilden oder gar ihre Meinung ändern – und dann wiederum andere überzeugen. In Zeiten, in denen Bürgerinnen und Bürger weniger über Politik sprechen, sich weniger dafür interessieren und auch in den Massenmedien weniger Politik verfolgen, kann das eine gewinnbringende Strategie sein.

Genau hier lag auch der Schlüssel zum Erfolg des Obama-Wahlkampfs in diesem Jahr: Das „get out the vote“ war eine Priorität der Kampagne, also die direkte Ansprache von Wählerinnen und Wählern, die möglicherweise noch nicht entschieden hatten, ob (und wenn ja, für wen) sie zur Wahl gehen würden. In einem ausgefeilten „ground game“, das in den letzten vier Wochen vorbildlich orchestriert wurde, nahm das Obama-Team persönlichen Kontakt auf – sei es telefonisch, via E-Mail oder eben auch durch Hausbesuche. So hatte das Obama Team beispielsweise in den Regionen, in denen die Wahl vermutlich entschieden werden würde, eine deutlich breitere Organisation in Form von „field offices“ vorzuweisen. In Ohio standen den 123 der Obama-Kampagne gerade einmal 40 aus dem Romney-Lager gegenüber, auch in Colorado war der Unterschied mit 59 zu 15 deutlich. Korrespondierend damit waren in den letzten Wochen vor der Wahl Sozialwissenschaftler und Internet-Experten in der Wahlkampfzentrale damit beschäftigt, große Datenmengen zu analysieren (Stichwort: „data mining“) und so die unentschlossenen Wählerinnen und Wähler auszumachen, um sie mit zielgruppengenauen Botschaften ansprechen zu können.

Kann das auch für die SPD funktionieren, können die angekündigten Hausbesuche ähnlich viele Stimmen bringen? Die Situation hinsichtlich der Verfügbarkeit von Daten und deren Nutzung ist in Deutschland sicher eine andere als in den USA. Somit sind die entscheidenden Haushalte schwieriger zu ermitteln. Auch die Finanzierung der Wahlkämpfe funktioniert hierzulande anders. Aber: Deutsche Parteien punkten verglichen mit den amerikanischen Pendants ganz stark in Sachen Infrastruktur. Insbesondere die beiden großen Parteien sowie auch die Grünen sind flächendeckend organisiert – das „ground game“ lässt sich somit ganz anders orchestrieren.

Der entscheidende Vorteil hierbei sind die Parteimitglieder. Im Gegensatz zu Wahlkampfhelferinnen und -helfern in den USA, die vorzugsweise für bestimmte Personen und somit oft einmalig aktiv sind, bekennen sich Parteimitglieder in Deutschland dauerhaft. Nicht zuletzt zahlen sie jeden Monat einen Mitgliedsbeitrag. Das ist nicht unwichtig, ist doch aus der Partizipationsforschung bekannt, dass Bürgerinnen und Bürger deutlich eher bereit sind, sich zu engagieren, wenn sie bereits einen Einsatz gelistet haben und sodann eine klare Aufgabe zugeteilt bekommen.

Natürlich wird dies nicht ausreichen. Moderne Kampagnen müssen unterschiedliche Instrumente integrieren: Hausbesuche, TV-Werbung, Plakate und Botschaften in den sozialen Medien müssen aufeinander abgestimmt sein. Dann können sie die kommunikativen Stützen des Wahlkampfes sein, die Kernbotschaften vermitteln, welche die Wählerinnen und Wähler mobilisieren können.

Steinbrück und der SPD kann zugutegehalten werden, dass sie in Zeiten medialer Dauerbeschallung den Wert des direkten Gesprächs erkannt haben. Allerdings wird entscheidend sein, wie dieser Gedanke umgesetzt und in die Wahlkampfstrategie integriert werden kann. Hier ist mit Blick auf die doppelte Zielsetzung der persönlichen und thematischen Profilbildung ein kluges Vorgehen gefragt. Am Ende wird es darum gehen, zu mobilisieren um zu mobilisieren. Davor müssen aber Botschaften entwickelt werden, die den Kandidaten und seine Partei unterscheidbar machen und im Wohnzimmer auf dem Sofa vermittelt werden können.

 

Beck, P./Dalton, R./Greene S. und Huckfeldt, R. (2002): The social Calculus of Voting: Interpersonal, Media, and Organizational Influences on Presidential Choices, in: American Political Science Review 96, S. 57-74.

Lazarsfeld, P./Berelson, B./Gaudet, H. (1944): People’s Choice. How Voters Make up their Mind in a Presidential Campaign. Sloan and Pearce, New York.

Römmele, A. (2005, 2. Auflage): Direkte Kommunikation zwischen Parteien und Wählern. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag.

 

 

Amerika nach den Parteitagen

Die Show ist den Demokraten gelungen. In Charlotte tagte vier Tage lang die Democratic National Convention und hielt beeindruckende Reden bereit, allen voran die des ehemaligen Präsidenten Bill Clinton. Seine Rede bewegte nicht nur Parteianhänger, sie war auch darüber hinaus das zentrale Gesprächsthema in den USA. Clinton gelang es damit stellvertretend für Präsident Obama, die Mitte der Gesellschaft anzusprechen.

Den Höhe- und Schlusspunkt der Veranstaltung setzte Barack Obama mit einer engagierten Rede selbst. Es war die Rede eines Amtsinhabers, der in den letzten vier Jahren einen harten und steinigen Weg gegangen ist. Der in Zeiten wirtschaftlicher Krisen beileibe nicht alle seine Versprechen eingehalten hat und der um mehr Zeit bittet. Die Themen und der Rahmen des Wahlkampfes der Demokraten sind klug und klar abgesteckt: Es geht um Unterschiede in der Innenpolitik (Bildung und Gesundheit) und in der Außenpolitik. Im Gegensatz zu seinem Herausforderer Mitt Romney und dessen Vize Paul Ryan haben sowohl Bill Clinton als auch Barack Obama die amerikanischen Soldatinnen und Soldaten erwähnt, ihnen Respekt gezollt und große Anerkennung und ihnen Unterstützung bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft zugesichert – eine wichtige Geste, die in Tampa bei den Republikanern ausblieb.

Clinton und Obama entwarfen stellvertretend für die Partei, die sich als das „big tent“ begreift (das große Zelt, in dem alle Platz finden), ein Gesellschaftsbild, das sich klar von dem der Republikaner absetzt. Es geht darum, in welcher Gesellschaft die Amerikaner leben möchten: in einer, in der das „Wir“ großgeschrieben wird, oder in einer, in der das Individuum an erster Stelle kommt. Das Mantra des Bill Clinton hat Barack Obama leiser, aber nicht weniger nachdrücklich fortgesetzt. Es geht um mehr als parteipolitische Auseinandersetzung. Es geht um gemeinsames Lösen der anstehenden Probleme. Der Parteitag hat so gesehen gezeigt, worum es in einer Demokratie eigentlich geht.

Dabei soll freilich auch die andere Seite der demokratischen Auseinandersetzung zwischen Republikanern und Demokraten nicht unerwähnt bleiben, die ebenso zu Spiel gehört. Obama konnte in seiner derzeitigen Position keine Rede halten wie noch 2008, deren Botschaft einzig seine Vision war. Vier Jahre später musste er sich an der politischen Realität abarbeiten – und auch an seinem Konkurrenten. Kampagnenstrategie und Umfrageergebnisse ließen es nicht zu, Mitt Romney zu ignorieren; stattdessen wurde er attackiert. Dies könnte der zweite Teil der Lehren sein, die gezogen werden können: Ambitionierte Ziele sind wichtig, aber man muss sie auch durchboxen.

Amerika nach den Parteitagen, was bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung? Ein leerer Stuhl für die Republikaner auf der einen Seite und eine Vision gepaart mit einer klugen Strategie der Demokraten auf der anderen. Dieser erste wichtige Schlagabtausch ging klar an die Demokraten.

 

Merkel spielte gestern auf Größe, nicht auf Sieg!

Christian Wulff hat am Wochenende nicht nur sein Amt verloren, sondern nachträglich auch die Bundespräsidentenwahl 2010. Er ist der doppelte Verlierer des gestrigen Abends – und Angela Merkel? Auf den ersten Blick scheint auch sie verloren zu haben, musste sie doch ihre Position aufgeben, einen anderen Kandidaten als Joachim Gauck zu nominieren. Allerdings hat sie sich dabei zugleich auch als die präsidiale, überparteiliche Kanzlerin präsentiert. Sie hat gezeigt, dass sie lernfähig ist, und nicht nur das: Durch ihre Entscheidung, direkt nach Wulffs Rücktritt zu verkünden, dass man den nächsten Kandidaten in Absprache mit SPD und Grünen suchen werde, hat sie Gaucks zweite Kandidatur überhaupt erst ermöglicht. Die FDP mag gestern einen großen Moment gehabt haben; einen, der der Partei Selbstbewusstsein geben kann. Aber überbewerten sollte man die überraschende Initiative der Liberalen nicht – die Entscheidung lag bei der Kanzlerin.

Natürlich stellt sich die Frage, warum Angela Merkel nicht schon vor knapp zwei Jahren der Nominierung von Joachim Gauck zugestimmt hat. Wr erinnern uns: Merkel war im Sommer 2010 in einem beachtlichen Stimmungstief, die Bevölkerung war mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden. In diesem Moment war Angela Merkel mehr Partei- als Regierungschefin – und musste somit in der Bundespräsidentenfrage eine parteipolitische Entscheidung treffen.

Heute liegen die Dinge anders: Merkel ist durch ihr Krisenmanagement dem Parteienstreit ein wenig entrückt. Sie wird als Staatsfrau wahrgenommen, die auf internationaler Ebene für die Interessen aller Deutschen eintritt. Der daraus resultierende Effekt ist nicht neu: In Krisenzeiten vertraut die Bevölkerung den Amtsinhabern, sofern diese keine offensichtlichen Fehlentscheidungen treffen. Daher reicht derzeit in Umfragen niemand an die Kanzlerin heran.

Ist dies bereits ein Vorbote für die Strategie im Jahr 2013? Bundestagswahlen müssen immer auf ein klares Ziel ausgerichtet sein und natürlich müssen auch alle Koalitionsoptionen durchgespielt werden, um einen geeigneten Wahlkampf anzulegen. Allerdings wird 2013 einmal mehr die Amtsinhaberin im Mittelpunkt stehen. Sie kann mit dem Thema Wirtschaft und Finanzkrise punkten – gerade auf Grund ihrer Rolle im europäischen Krisenmanagement kann sie über dieses Thema viele Wähler erreichen, die keine Unionsanhänger sind.

Der Reiz ist daher groß, auf dieses Thema zu setzen und einen weiteren Wahlsieg einzufahren. Die Einschränkung dabei: Wenn die Krise künftig noch stärker als bisher die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und damit den Geldbeutel der Bürger betreffen sollte, könnte sich auch die Meinung zur Regierung um Angela Merkel massiv ändern – und die Kanzlerin hätte kein Gewinnerthema mehr. Die Strategie wäre also nicht ohne Risiko. Die Alternative wäre ein Befreiungsschlag wie im Falle der Bundespräsidentenwahl: Angela Merkel muss gar nicht auf Sieg spielen; wenn sie ihrer Linie treu bleibt, eröffnen sich damit neue Möglichkeiten.

Aber das ist Zukunftsmusik. Bevor wir 2013 ein neues Parlament wählen und damit über die Zukunft der Regierung Merkel abstimmen, geht es am 18. März erst einmal zur Bundespräsidentenwahl. Deren Ausgang wird – so viel ist seit gestern klar – kaum Raum für Strategien oder politische Überraschungen bieten.

 

Hallo Schloss Bellevue: Noch jemand da?

Lange nichts mehr gehört von Christian Wulff. Was macht er wohl so? Staatsbesuch bei den Scheichs, Sternsinger-Empfang, Neujahrsempfang – alles vorbei. Und jetzt?

Berater haben dem Bundespräsidenten offenbar empfohlen, erst mal auf Tauchstation zu gehen. Wulff entzieht sich der Medienmeute und dem Volk. Bis die ganze Sache vergessen ist.

Die Strategie scheint aufzugehen: Medien berichten mangels nennenswerter neuer Aufreger in der Causa Wulff nur noch über läppische Kleinigkeiten: hier ein geschenktes Bobby-Car für den Präsidenten-Nachwuchs, da ein Wiesn-Upgrade im Bayerischen Hof, dort doch Mitwirkung an der Sponsorensuche für eine Veranstaltungsreihe namens Nord-Süd-Dialog (hat nichts mit der Dritten Welt zu tun wie ehedem unter Willy Brandt). Ziemlich kleines Karo also. Und geeignet, bei Lesern das Gefühl zu wecken: Den Medien ist wirklich jedes Mittel recht, um Wulff zur Strecke zu bringen. Und bei manchem Journalisten wie Parteifreund macht sich offensichtlich Resignation breit: Der Mann sitzt das einfach aus!

Der CDU hat die leidige Affäre in den Umfragen bislang nicht geschadet, anders als dem Bundespräsidenten. Und Merkels bekannte Strategie des Abwartens hat sich wieder einmal bewährt. Bis jetzt, jedenfalls.

Dass Wulff vorerst verschwunden ist, fällt dabei nicht weiter auf. Er war ja schon vor seiner Affäre kaum sichtbar. Oder, wie der Satire-Kollege Hans Zippert schon vor Weihnachten in der Welt über den Bundespräsidenten schrieb: „Wulff schafft das Amt ab, indem er es ausübt.“