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Menschenwürde lässt sich nicht pauschalieren: Was das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV für die Sozialpolitik bedeutet

StruenckWieder einmal kommt Wegweisendes aus Karlsruhe. Mit ihrem Urteil zur Berechnung der Regelsätze des Arbeitslosengeldes II („Hartz IV“) haben die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts neben vielen Details eine zentrale Richtlinie vorgegeben: Pauschale Sozialleistungen, die das Existenzminimum sichern sollen, können nur „den durchschnittlichen Bedarf“ decken. Es gebe jedoch in Einzelfällen auch einen besonderen Bedarf, der „unabweisbar“ und „laufend“ sei, heißt es in der Urteilsbegründung.
Diese Richtlinie hilft zum Beispiel chronisch Kranken, die in Zukunft zusätzliche Leistungen bekommen werden, genau wie auch schulpflichtige Kinder. Diese Richtlinie relativiert aber auch ein zentrales Ziel der früheren Gesetzgebung, als Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen gelegt wurden. Denn unter anderem sollte die Auszahlung der Sozialleistungen massiv vereinfacht werden. Zuvor berechnete sich die alte Arbeitslosenhilfe nach dem früheren Einkommen. Also mussten jeweils individuelle Ansprüche ermittelt werden. Das kostete Geld und Personal.
Als das Arbeitslosengeld II eingeführt wurde, gab es nur noch pauschale Regelsätze plus zusätzliche Leistungen wie Wohngeld und einige Sonderbedarfe. Die früheren Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosenhilfe waren im Grunde die Verlierer der Reform.
Doch dem Bundesverfassungsgericht ging es weniger um bestimmte soziale Gruppen, sondern um den Einzelnen und seine Menschenwürde. Sie zu bewahren, hängt vom konkreten Bedarf im Einzelfall ab. Pauschale Sozialleistungen passen nicht zu einer Grundsicherung, die ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren soll.
So weit, so klar. Wegweisend sind in Karlsruhe allerdings nicht nur einige Urteile, sondern auch deren Widersprüche. Sie sorgen meist dafür, dass so gut wie alle mit dem Urteil leben können, zum Beispiel auch die Bundesregierung. Denn an anderen Stellen haben die Richterinnen und Richter festgestellt, dass die derzeitigen Regelsätze nicht zu gering seien, um das physische Existenzminimum zu sichern. Ist das wirklich ein Widerspruch?
Wichtig ist die Betonung des „physischen“ Existenzminimums. Im Sozialrecht ist allerdings vielfach davon die Rede, dass das „sozio-kulturelle Existenzminimum“ gesichert werden solle. Die Richterinnen und Richter verwenden den Begriff des „menschenwürdigen Existenzminimums“. Dazu gehört nach ihrer Meinung nicht nur die physische Existenz, sondern auch ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Wenn aber die Regelsätze an sich ausreichen, um die physische Existenz zu sichern, und nur in Einzelfällen besondere Bedarfe hinzukommen, was ist dann mit denjenigen, bei denen keine besonderen Bedarfe feststellbar sind? Müssen die mit der Sicherung des physischen Existenzminimums zufrieden sein, entgegen der eigentlichen Leitlinie des Gerichts? Oder ist die Konsequenz dann nicht, dass alle Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II automatisch Anrecht auf zusätzliche Leistungen gemäß ihrem Bedarf haben? Bleibt dadurch auch das Lohnabstandsgebot zu den untersten Lohngruppen auf dem Arbeitsmarkt gewahrt?
Die Antwort auf diese offenen Fragen ist ebenfalls offen. Denn der Gesetzgeber habe „einen Gestaltungsspielraum“ bei der Bemessung des Existenzminimums. Das betrifft im Übrigen auch die Methode, die allerdings nachvollziehbar und offen sein müssen. Nur „Schätzungen ins Blaue hinein“ sind nicht vertretbar. Die bisherigen Methoden des Gesetzgebers waren aber häufig genau solche Schätzungen. Das heftig umstrittene Statistik-Modell, in dem die untersten 20 Prozent der Beschäftigten zum Maßstab genommen werden, ist hingegen durchaus akzeptabel.
Wie so oft hat der Gesetzgeber also auch einen Gestaltungsspielraum, wenn es darum geht, die Vorgaben des Verfassungsgerichts umzusetzen. Auch wenn dies durch politische Machtverhältnisse entschieden wird, hat das Gericht einen unumstößlichen Pflock eingeschlagen: Eine soziale Grundsicherung sollte zwar Gleichheit zum Ziel haben. Aber ihre Instrumente können und dürfen deshalb nicht gleich sein. Das gebietet die Menschenwürde.

 

Marx oder Marienthal?

„Immer mehr führende Köpfe warnen nun vor sozialen Unruhen“, schreibt Spiegel Online heute unter der Überschrift „Wirtschaftseinbruch schürt Angst vor sozialen Konflikten“. Thesen zum Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Lage (und insbesondere Wirtschaftskrisen) und sozialen Unruhen (bis hin zur Stabilität des politischen Systems) sind ein Evergreen. Die hohe Arbeitslosigkeit etwa ist eine Standarderklärung für den Niedergang der Weimarer Republik. Das empirische Eis, auf dem solche Behauptungen stehen, ist allerdings vergleichsweise dünn. In seiner epochalen Studie zu den Arbeitslosen von Marienthal konnte Paul F. Lazarsfeld eher feststellen, dass die Menschen im österreichischen Marienthal – einem von der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre besonders hart getroffenen Ort – im Zuge der Krise eher „müde“ geworden waren. Betrachtet man heute die Absicht etwa von Arbeitslosen, sich an bevorstehenden Wahlen zu beteiligen oder auch in anderer Form politisch aktiv zu werden, bestätigt sich dieses Bild. Arbeitslose gehen im Vergleich zu Erwerbstätigen seltener zur Wahl, sie interessieren sich auch eher weniger für Politik. Das Bestreiten des (schwierigen) Alltags steht für sie eher im Vordergrund als distante Phänomene wie Politik und Wahlen. Das macht soziale Unruhen (zumindest ausgehend von direkt Betroffenen) weniger wahrscheinlich, die Situation allerdings keinen Deut besser.

 

Die wahre Dimension der Arbeitslosigkeit und ihre Folgen

Der jüngste Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit weist eine Zahl von rund 3,5 Millionen Arbeitslosen auf – eine Zahl, die einerseits noch immer erschreckend hoch ist, die aber andererseits im Vergleich zu den Höchstständen von über fünf Millionen, die in den ersten Monaten des Jahres 2005 zu verzeichnen waren, noch moderat erscheint.

Die Lage ist dennoch düster – düsterer noch, als diese Zahlen suggerieren:

1) Die Zahl der Menschen, die Kurzarbeitergeld beziehen, ist förmlich explodiert: von 50.000 auf über 400.000. Dies ist aus objektiven wie subjektiven Gründen von zentraler Bedeutung: Objektiv, weil es die Turbulenzen, in denen sich der Arbeitsmarkt aktuell befindet, widerspiegelt und davon auszugehen ist, dass – geschieht nicht ein neues Wirtschaftswunder – aus diesen Kurzarbeitern über kurz oder lang Arbeitslose werden. Subjektiv, weil die Betroffenen durch die Kurzarbeit ein eindeutiges Signal bekommen, dass ihr Arbeitsplatz in Gefahr ist.  Sorge um den Arbeitsplatz ist dabei eine im Vergleich zu tatsächlicher Arbeitslosigkeit nicht minder gewichtige Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Aus der Stressforschung etwa ist bekannt, dass die Erwartung eines misslichen Ereignisses mindestens so viel Stress, Unzufriedenheit und Ohnmacht auslöst wie der Eintritt des Ereignisses selbst.

2) Die Zahl von aktuell 3,5 Millionen Arbeitslosen besagt, dass 3,5 Millionen Personenmonate an Arbeitskraft, die im Monat Februar verfügbar gewesen wären, von der deutschen Volkswirtschaft nicht genutzt wurden. In ähnlicher Logik sind auch die Jahresmittel, die die BA vermeldet, zu deuten. Diese Zahlen sagen aber überhaupt nichts darüber aus, wie viele Menschen tatsächlich im Laufe eines Monats oder eines Jahres tatsächlich selbst für einen mehr oder minder langen Zeitraum arbeitslos waren. Arbeitslosigkeit ist ein dynamisches Phänomen. Joseph Schumpeter hat in einem anderen Zusammenhang das Bild eines Bus‘ benutzt, Schumpeter (1985: 170) in anderem Zusammenhang das Bild eines Omnibusses, „der zwar immer besetzt ist, aber von immer anderen Leuten“.  Im Einzelfall sehen die Verweildauern höchst unterschiedlich aus: Manche Leute steigen – um im Schumpeter’schen Bild zu bleiben – früher aus dem Arbeitslosenbus wieder aus als andere, einige steigen häufiger zu, andere nie. Arbeitslosigkeit ist für manche Betroffene nur eine kurze, transitorische Phase, während sie sich für andere zu einem Dauerzustand entwickelt. In der Konsequenz aber bedeutet dies in jedem Fall, dass innerhalb eines Jahres weitaus mehr Menschen Arbeitslosigkeit am eigenen Leib erfahren, als es die in der öffentlichen Diskussion dominierenden Zahlen der amtlichen Statistik nahelegen.

3) Dabei bleibt immer noch unberücksichtigt, dass Menschen auch indirekte Erfahrungen von Arbeitslosigkeit machen können – über den Haushalt oder Freunde und Bekannte. Auf einen Arbeitslosen kommen immer weitere Haushaltsangehörige, die dadurch – wie es Thomas Kieselbach formuliert hat – zu „Opfern-durch-Nähe“ werden. Daten aus den ZDF-Politbarometer-Erhebungen zeigen zudem, dass in Ostdeutschland nahezu jeder im Kreise seiner „Nahestehenden“ Menschen kennt, die arbeitslos sind. Auch in Westdeutschland ist es nahezu jeder Zweite.

Differenzierter betrachtet ist Arbeitslosigkeit bereits heute ein allgegenwärtiges Massenphänomen. Und es ist zu befürchten, dass sich die Situation noch weiter verschlechtern wird. Dass Arbeitslosigkeit in diesem Umfeld das Thema wird, dass – wieder einmal – die bevorstehende Wahl dominieren wird, ist keine kühne Prognose. Die finanziellen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise mögen bislang an vielen Menschen noch vorbeigegangen sein, Folgen auf dem Arbeitsmarkt spürt nahezu jeder. An ihren Ideen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Abfederung ihrer Folgen werden sich Parteien und Politiker messen lassen müssen.