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Weshalb Koalitions-Fragen nerven

Der verstorbene frühere FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff nannte einmal ein hübsches Beispiel für eine Journalistenfrage, die Politiker besser nicht beantworten sollten: „Haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ Sagt der Politiker darauf ohne Nachzudenken „Ja“, bestätigt er indirekt, dass er ein gewalttätiger Ehemann ist. Sagt er hingegen „Nein“, weil er die Frage für absurd hält, outet er sich erst recht als Schläger.

Ähnlich verhält es sich mit dem in Wahlkampfzeiten beliebten Fragespiel: „Schließen Sie eine Koalition mit der Partei XY aus?“ Was soll ein Politiker, der halbwegs bei Trost ist, dazu anderes sagen außer einer Standard-Floskel in der Art: „Wir streben eine Koalition mit der Partei Z an. Aber wenn der Wähler anders entscheidet, werden wir uns Gesprächen mit anderen demokratischen Parteien nicht verschließen.“ Nur Politiker, die eigentlich gar nicht regieren wollen, werden die Frage bejahen.

Auf diese Weise kamen dieser Tage mal wieder Schlagzeilen zustande, Kanzlerin Merkel und Politiker der SPD schlössen eine Große Koalition im Fall der Fälle nicht aus, und führende Grünen liebäugelten heimlich mit Schwarz-Grün. Ja, was denn sonst? Sollen sie behaupten, sie gingen auf jeden Fall in die Opposition, wenn es für Schwarz-Gelb bzw. Rot-Grün bei der Bundestagswahl nicht reicht? Besonders der SPD würde man eine solche „Auschließeritits“ angesichts ihrer bescheidenen Umfragewerte als Realitätsverweigerung auslegen.

Also hat sich im Grunde nichts geändert: Die Wähler werden am 22. September nicht über eine Koalition entscheiden, sondern über die Zusammensetzung des Parlaments. Die Parteien werden dann versuchen, aus den entstandenen Mehrheitsverhältnissen eine Regierung zu formen. Das kann kompliziert werden, erst recht, wenn fünf, sechs oder sieben Parteien in den Bundestag einziehen. Deshalb sind alle Parteien gut beraten, sich andere als nur ihre Wunschoptionen offen zu halten, falls sie mitregieren möchten, und sich nicht an eine Partei zu ketten wie die FDP, die vor der Wahl eine Ampelkoalition formell ausschließen will. Und deshalb sollten Politiker bis dahin die unsinnige „Schließen-Sie-aus?“-Frage am besten nicht mehr beantworten. Die Wähler wissen es ohnehin besser.

 

Kanzlermodell sagt Wiederwahl von Merkel voraus

Von Thomas Gschwend und Helmut Norpoth

 
Bei der Bundestagswahl im Herbst zeichnet sich eine Wiederwahl der amtierenden Regierungskoalition ab. Die amtierende Regierungschefin konnte im Vergleich zur letzten Bundestagswahl ihre Popularität noch einmal steigern. Die aktuellen Popularitätswerte von Angela Merkel sind im Vergleich zu denen ihres Herausforderers Peer Steinbrück wirklich historisch hoch. Nur Willy Brandt 1972 im Vergleich zu Rainer Barzel sowie Konrad Adenauer 1953 im Vergleich zu Erich Ollenhauer genossen einen noch deutlicheren Ansehensvorsprung in der Geschichte der Bundesrepublik. Sofern der derzeitige Popularitätsvorsprung von Angela Merkel über den Sommer stabil bleibt, wird das ihrer CDU/CSU-FDP-Koalition eine absolute Mehrheit der Zweitstimmen am 22. September sichern.

Diese Einsicht verdanken wir einem von uns entwickelten Vorhersagemodell, das sich bei den letzten drei Bundestagswahlen bewährte. Abgeleitet von theoretischen Ansätzen zur Erklärung von Wahlverhalten haben wir ein Prognosemodell entwickelt, dass jeweils im Sommer vor den Bundestagswahlen 2002, 2005 und 2009 bereits den jeweiligen Sieger richtig vorhersagte. Ob auf einen Sieg der amtierenden Regierungskoalition gehofft werden darf, erklären wir mit dem Zusammenwirken von lang-, mittel- und kurzfristigen Einflussfaktoren. Da ist zunächst erstens der langfristige Wählerrückhalt der Regierungsparteien – gemessen als durchschnittlicher Wahlerfolg bei den vorangegangenen drei Bundestagswahlen. Hinzu kommt zweitens der mittelfristig wirksame Prozess der Abnutzung im Amt – gemessen durch die Zahl der Amtsperioden der Regierung. Drittens geht die Popularität des amtierenden Kanzlers ein, gemessen als mittlerer Wert jeweils ein und zwei Monate vor einer Bundestagswahl. Dennoch ist die historische Popularität der Kanzlerin trügerisch, da mittlerweile am rechten Spektrum eine neue Partei aussichtsreich um den Einzug in den Bundestag kämpft, die „Alternative für Deutschland“ (AfD). Anhänger dieser Partei werden sich eher für Merkel statt für Steinbrück als Kanzlerin aussprechen, ohne aber letztlich die jetzige Regierung bei den Wahlen zu unterstützen. Eine solche Situation korrigieren wir – übrigens wie bei Gerhard Schröder 2005 mit der Linken -, indem wir einfach die Unterstützungswerte dieser Parteien vom langfristigen Wählerrückhalt der jeweiligen Regierungsparteien abziehen. Auf solche Wähler kann sich die Regierungskoalition wahrlich nicht verlassen. Mit Hilfe statistischer Analyseverfahren können wir schließlich das Zusammenwirken dieser drei Faktoren und deren Gewichtung für die Stimmabgabe zu Gunsten einer Regierungskoalition äußerst genau bestimmen.

Bis auf den Wert der Kanzlerunterstützung kurz vor der Wahl liegen alle benötigten Modellwerte bereits vor. Es ist jedoch noch nicht möglich, schon heute eine exakte Prognose für den Ausgang der Bundestagswahl im Herbst zu erstellen. Die kann es nach der Logik unseres Modells erst Mitte August geben. Allerdings können wir auf Grund hypothetischer Popularitätswerte der Bundeskanzlerin, die sie kurz vor der Wahl im Vergleich zu ihrem Herausforderer genießen könnte, schon heute sehen welches Ergebnis unser Modell dann vorhersagen würde.

Nach den letzten veröffentlichten Politbarometern vom Juli, bereinigt um die Unentschlossenen, liegt die Zustimmungsrate für Merkel bei 68 Prozent. Bliebe es dabei, würde unser Prognosemodell komfortable 49,7 Prozent für das schwarz-gelbe Lager vorhersagen. Damit wird es zu einer Wiederwahl der von Merkel geführten CDU/CSU-FDP-Koalition nach der Wahl im September kommen.

 

 

„Die Piraten überholen bundesweit erstmals die Grünen“, oder: Vom Reiz der Scheinpräzision

Die Piratenpartei ist in aller Munde. Dies erst recht, seit jüngst das Forsa-Institut vermeldete, die Piratenpartei habe erstmals in der Wählergunst die Grünen überflügelt. Diese Folgerung wird auf den Befund gestützt, daß die Piratenpartei in der jüngsten vom Forsa-Institut zwischen dem 2. und 4. April durchgeführten Befragung 13 Prozent Zustimmung erreichte, während die Grünen auf 11 Prozent kamen. Es kann kaum überraschen, daß diese Ergebnisse die öffentliche Diskussion über die Piratenpartei weiter befeuern und zu neuen Deutungen des Phänomens anregen.

Bei aller Aufregung sollten jedoch einige handwerkliche Grundlagen der Umfrageforschung nicht aus dem Blick geraten. Die regelmäßig veröffentlichten Stimmenanteile von Parteien beruhen – im günstigsten Fall – auf Befragungen von (angenäherten) Zufallsstichproben aus den Stimmberechtigten. Sieht man von weiteren möglichen Komplikationen ab, kann man von den Ergebnissen auf der Basis einer solchen Stichprobe auf alle Stimmberechtigten schließen. Allerdings ist bei einem Schluß von einer Zufallsstichprobe aus ein- oder zweitausend Personen auf mehrere Millionen Stimmberechtigte eine gewisse Unschärfe unvermeidbar. Im Falle einer Zufallsstichprobe kann man diese Unschärfe beziffern, nämlich in Form von Fehlertoleranzen. Berechnet man sie für die Stimmenanteile der Grünen und der Piratenpartei in der jüngsten Forsa-Umfrage, nehmen sich die Ergebnisse weniger spektakulär aus, als es die öffentliche Diskussion nahelegt. Für die Piratenpartei ergibt sich ein Intervall von rund 11,5 Prozent bis etwa 14,5 Prozent, das den wahren, aber unbekannten Stimmenanteil der Piraten unter allen Stimmberechtigten mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent umschließt. Für die Grünen liegt das Intervall zwischen rund 9,6 und etwa 12,4 Prozent. Betrachtet man beide Intervalle zusammen, wird klar, daß die Stimmenanteile der Piratenpartei und der Grünen unter Berücksichtigung der statistischen Unschärfe nicht unterscheidbar sind. Die Schlagzeile, die Piraten hätten die Grünen in der Wählergunst überholt, verdankt sich offenbar dem Reiz, der von scheinpräzisen Prozentangaben ausgeht.

Nun mag es den Anschein haben, als ob Hinweise auf handwerkliche Grundlagen nur dazu dienen können, Schlagzeilen zu entzaubern. Doch auch dieser Schein trügt. Geht man in der Forsa-Datenreihe eine Woche zurück, findet man für die Grünen 13 Prozent ausgewiesen, für die Piratenpartei 12 Prozent. Unter Berücksichtigung der Fehlertoleranzen sind diese Anteile nicht voneinander zu unterscheiden. Gestützt auf die Forsa-Befunde, hätte man also titeln können: „Piraten holen die Grünen ein“. Diese Schlagzeile blieb aus, offenbar war der Reiz der Scheinpräzision zu groß. Stattdessen folgte eine Woche später – vermutlich aus einem ähnlichen Grund – eine unzutreffende Schlagzeile. Es ist zu hoffen, daß dies das einzige Gebiet ist, dem die Öffentlichkeit gelegentlich zur falschen Zeit aus den falschen Gründen ihre Aufmerksamkeit zuwendet.

 

Die SPD und der Wunsch nach einem allseits beliebten Kandidaten

Seit einigen Wochen schon wird in der SPD die Idee von „Primaries“ nach amerikanischem Vorbild diskutiert. Dies wäre die offene Selektion des Spitzenkandidaten durch die Parteibasis. An dieser Stelle soll einmal dargelegt werden, welche Konsequenzen eine solche Auswahl des Spitzenpersonals haben könnte. Die Qualitäten, die ein erfolgreicher Kandidat bzw. eine erfolgreiche Kandidatin mit sich bringt, hängen nämlich unter anderem von der Art ihrer Selektion und Rekrutierung ab! (vgl. Römmele 2004).

An der Selektion der Kandidaten wird häufig gemessen, wie offen und demokratisch der gesamte Prozess der Kandidatenaufstellung abläuft und inwiefern innerparteiliche Demokratie gesichert ist. Das eine Extrem ist sicherlich die Selektion der Kandidaten unmittelbar durch die Wähler. Eine die Parteien und ihre Mitglieder stärkende Mittelposition ist die Selektion über die Parteimitglieder. Eine sehr geschlossene Form der Selektion wäre die Ernennung durch die Parteispitze.

Interessant ist, dass es auch im internationalen Vergleich sehr häufig keine klaren festgelegten Richtlinien und Regeln gibt, nach denen dieser Vorgang ablaufen soll. Kollegen bezeichneten diesen Vorgang einmal als „secret garden of politics“ (vgl. Gallagher/Marsh 1998) – und das ist es auch!

Bei der Kandidatenselektion über Parteimitglieder finden sich im internationalen Vergleich zahlreiche Variationen: In Belgien finden wir Parteien, in denen Parteimitglieder mit einer bestimmten Parteizugehörigkeitsdauer an dem Prozess der Kandidatenselektion besteiligt sind. In Israel wählen alle Parteimitgleider ihren Kadidaten sowie ihren Parteiführer aus. Auch in der Bundesrepublik gab es bereits Versuche, die Kandidatenselektion offener zu gestalten. So wagte die SPD im Vorfeld der Bundestagswahl 1994 das Experiment, den Parteivorsitzenden durch alle Parteimitglieder wählen zu lassen. Rudolf Scharping setzte sich in einer Urwahl gegen Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul durch und wurde in der Folge auch Kanzlerkandidat der SPD. In jüngster Vergangenheit hat die SPD in Baden-Württemberg ebenfalls mittels einer Urwahl Nils Schmid zum Vorsitzenden gewählt, auch er wurde danach Spitzenkandidat für die Landtagswahl.

Eine geschlossene Selektion liegt vor, wenn der Kandidat von einem Gremium oder der Parteiführung ernannt wird. Auch hier zeigt die Empirie eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Fällen. So finden wir beispielsweise in Großbritannien Parteigremien, welche die Möglichkeit haben, Kandidaten zu ernennen bzw. zu blockieren. Die Parteimitglieder der Liberal Democrats selektieren ihre Kandidaten, die Parteiführung hat allerdings das letzte Wort hierüber. Die Frage nach den Kanzlerkandidaten in der Bundesrepublik lässt sich ebenfalls eher am „geschlossenen“ Ende des Kontinuums festmachen: Zwar werden die Kanzlerkandidaten auf einem Bundesparteitag formal ernannt; allerdings wird die Frage, wer Kandidat werden soll, in informellen Gesprächen in der Parteispitze mit einem festen Blick auf die Umfragewerte geklärt.

Welche Qualitäten haben aber nun Politiker, die auf den unterschiedlichen Wegen in Spitzenämter kommen? Sicherlich ist es so, dass Politiker, die sich schon früh den Wählern (und somit auch den Medien) in Primaries stellen müssen, eine gewisse Kommunikations- und Dialogfähigkeit besitzen müssen. Ihre Sympathie- und Popularitätswerte sind die Währung, die zählt. Sie müssen in einer offenen Wahl letztendlich nicht nur ihre eigenen Parteimitglieder überzeugen sondern auch mögliche Wechselwähler. Dies ist in Zeiten schwindender Parteimitgliederzahlen sowie sinkender Parteiidentifikation sicherlich ein überdenkenswerter Ansatz. Der gewählte Kandidat hat auch über die Parteigrenzen hinweg Zugkraft und Wahlkampf-Potential. Qualitäten von Politikern, die eher geschlossen rekrutiert, d.h. im „strengsten Fall“ von der Parteispitze ernannt werden, sind andere. Sie müssen sich – zumindest in diesem Stadium – nicht den Wählern stellen; sie legen ihr Expertenwissen in die Waagschale, ihre politische Vernetzung, ihr ganzes parlamentarisches und parteipolitisches Know-how.

Blicken wir nun für einen Augenblick auf die deutsche Empirie: Im aktuellen ZDF-Politbarometer liegt der SPD-Vorsitzende Gabriel mit einem Beliebtheitswert von 0,3 deutlich hinter seinen beiden Parteikollegen Steinbrück (1,6) und Steinmeier (1,3). Auf die Frage, mit welchem Kanzlerkandidaten die SPD die besten Chancen habe, nennen 36% der Befragten Steinmeier, 33% Steinbrück und nur 13% Gabriel. Dass dies kein reines SPD-Phänomen ist, zeigt ein Blick auf die vertretenen Unions-Politiker: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ist mit einem Wert von 0,9 unbeliebter als ihre Parteifreunde Schäuble (1,4) und de Maizière (1,3); CSU-Chef Horst Seehofer erreicht mit 0,3 ebenfalls keinen überzeugenden Wert.

Vielleicht sollte man nicht gleich die Lanze für amerikanische Primaries brechen, Umfragewerte sind schließlich in erster Linie Momentaufnahmen. Allerdings legen die Zahlen zumindest nahe, den automatischen Zugriff des Pateivorsitzenden auf die Kanzlerkandidatur in Frage zu stellen.

Ein weiteres empirisches Argument dafür liegt in den jüngsten Wahlergebnissen: Wenn sich der derzeitige Trend fortsetzt und die „Volksparteien“ zugunsten der kleineren Parteien nachhaltig an Wählerpotenzial einbüßen, werden sich die Fälle häufen, in denen Koalitionen über Lagergrenzen hinweg geschmiedet werden müssen. Spitzenkandidaten müssen dann umso mehr auch integrativ wirken und im besten Fall zum Fixpunkt einer Koalition werden, die von der Parteibasis eher als Kompromiss denn als Wunschehe gesehen wird. Insofern liegt die SPD durchaus richtig mit ihrer Diskussion…

Literatur:

Gallagher, Michael/Marsh, Michael (Hrsg.) (1998). Candidate Selection in Comparative Perspective. The Secret Garden of Politics. London: Sage Publiciations.

Römmele, Andrea (2004). Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik, Heft 3, S. 259-276.

 

Eine Bildungsbefragung, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet

Seit einiger Zeit diskutiert die deutsche Öffentlichkeit über das Bildungssystem. Nun sind Bürger zu Wort gekommen: in einer „großen Bürgerbefragung“ unter dem Titel „Zukunft durch Bildung – Deutschland will’s wissen“, die auf Initiative von Roland Berger Strategy Consultants, der Bertelsmann Stiftung, der BILD-Zeitung und von Hürriyet durchgeführt wurde. Nach den Ergebnissen scheinen die Befragten bereit zu einem Paradigmenwechsel in der Bildung, zugleich trauen die Bürger der Politik mehrheitlich nicht genügend Reformfähigkeit zu. Die Reformvorstellungen der Befragten umfassen unter anderem die Forderung nach mehr Vergleichbarkeit im Bildungswesen. Auch zeigten die Befragten, so die Studie, den Weg zu einem konsequenten Ausbau des Ganztagsschulsystems auf. Zudem seien sie bereit, für ein besseres Bildungssystem mehr Steuern zu zahlen. Nur gut, so denkt man, dass diese Untersuchung große öffentliche Aufmerksamkeit fand. So berichteten diverse Onlinemedien wie etwa Spiegel-Online und Süddeutsche-Online ausführlich darüber. Die Bundesbildungsministerin wurde über die Befunde offenbar vorab informiert, und der Berliner Bildungssenator Zöllner sah sich von den Ergebnissen der Befragung in seiner Politik bestätigt.

Als empirischer Sozialforscher kann man die Lektüre freilich nicht abschließen, ohne einen Blick auf die Erhebungsmethoden geworfen zu haben. Und hier wartet eine Überraschung, ist doch zu lesen: „Die Umfrage ist nicht repräsentativ, da die Befragten nicht zufällig ausgewählt wurden: Alle konnten sich beteiligen. […] Im rund dreiwöchigen Befragungszeitraum vom 14. Februar bis zum 9. März haben sich 480.000 Menschen beteiligt, von denen rund 130.000 den kompletten Fragebogen beantwortet haben. ‚Zukunft durch Bildung – Deutschland will’s wissen‘ ist somit nach der Teilnehmerzahl die größte Umfrage zum Thema Bildung, die es je in Deutschland gab.“ Es konnte also jeder online oder per Post an dieser offenen Befragung teilnehmen, der von dieser Umfrage erfahren sowie gerade Zeit und Lust hatte, einen Fragebogen auszufüllen. Wer aber überhaupt davon erfuhr und daher eine Chance hatte, an der Befragung teilzunehmen, bleibt vollkommen unklar. Waren es die BILD- und Hürriyet-Leser? Welche Personen entschlossen sich zur Teilnahme? Haben sie Freunde und Bekannte zur Teilnahme bewegt? Wie oft haben sie teilgenommen? Und welche Schlussfolgerungen kann man aus einer solchen Befragung ableiten? Welche Bedeutung würde man einer nach diesen Prinzipien gestalteten Befragung auf einer beliebigen Internetseite zumessen?

Die methodischen Probleme dieser Befragung lassen den Leser mit mehreren Fragen zurück: Wie kann eine Befragung mit so zweifelhafter Aussagekraft so große öffentliche Aufmerksamkeit finden? Ist es die Magie der großen Teilnehmerzahl? Sind es die Prominenten von Josef Ackermann und Franz Beckenbauer über Eckhart von Hirschhausen bis hin zu Dieter Zetsche, deren Konterfeis die Ergebniszusammenfassung zieren? Wurden die Befragungsergebnisse ungeachtet ihrer Aussagekraft nach der Devise „der Zwecke heiligt die Mittel“ zitiert, um den eigenen Vorstellungen in der politischen Auseinandersetzung zusätzliche Legitimation zu verschaffen? Fragen, die darauf hindeuten, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für diese Befragung mehr über das Bildungswesen und die Diskussion darüber aussagen könnte als die Ergebnisse der Befragung selbst.

 

Geschichte der Umfrageforschung

Wahlkampf 1936, USA. Das Magazin „The Literary Digest“ befragt seine Leser, welchen Kandidaten sie denn bei der bevorstehenden Wahl wählen werden – den Demokraten Franklin D. Roosevelt oder den Republikaner Alf Landon. 10 Millionen Fragebögen werden versandt, 2,3 Millionen kommen zurück – eine Zahl von wahrhaft großer „Massivität“. Auch die „Eindeutigkeit“ des Ergebnisses ist offenkundig: Landon wird die Wahl gewinnen, so die Zeitschrift. Ungünstig nur, dass wenige Woche später Roosevelt die Wahl gewann – noch dazu mit einem „Landslide“.

 

Potenziale politischer Paritizipation: Was wir von Google Street View lernen können

Drei Zahlen:

Nun folgt daraus – natürlich – keineswegs, dass sich – analog zu Google Street View – nur 3 Prozent der Deutschen (oder auch nur 3 Prozent der deutschen Haushalte) auch tatsächlich an direktdemokratischen Abstimmungen beteiligen würden. Aber kurz innehalten sollte man doch. In der Sozialpsychologie ist die Diskussion um eine „Attitude-Behavior-Gap“ ein alter Hut. Nicht jeder – noch dazu in einer Umfrage geäußerten – Meinung folgt ein entsprechendes Verhalten. Wenn also derzeit allseits der Eindruck entsteht (oder erweckt wird), direktdemokratische Verfahren seien ein Allheilmittel, dann wird vielleicht ein wenig vorschnell geschossen – bei Google Street View hätte man schließlich nur ein Formular ausfüllen müssen, um Meinungen auch Taten folgen zu lassen. Drei Prozent haben das getan.

 

„Warum erst jetzt?“ – Stuttgart 21 stand schon vor der großen Protestwelle auf wackeligen Beinen

AndreaIn einigen Beiträgen zu Stuttgart 21 klingt an, dass die Ausbau-Gegner derzeit massiv mobilisieren und dadurch die politische Stimmung nachhaltig beeinflussen – manche Kommentatoren verknüpfen damit sogar die Schicksale von Politikern und Regierungen. Beispielsweise erregte eine Umfrage des „Stern“ große Aufmerksamkeit, die sowohl in Stuttgart als auch in ganz Baden-Württemberg Bevölkerungsmehrheiten gegen das Projekt ermittelte. Dabei wird häufig davon ausgegangen, dass diese Änderung des Stimmungsbildes im Zuge der Proteste erfolgt sei – und dies wiederum wirft die Frage auf, warum die Gegner des Projektes erst seit kurzer Zeit so präsent sind, obwohl das Projekt doch schon seit 15 Jahren auf der öffentlichen Agenda steht.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die diversen Umfragedaten zu Stuttgart 21 zu werfen: In der Bürgerumfrage „Leben in Stuttgart“, die vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart im Frühjahr 1995 durchgeführt wurde, standen 51% der Stuttgarterinnen und Stuttgarter hinter dem Großprojekt – 30% der Befragten hielten Stuttgart 21 für eine „sehr gute“, immerhin 21% für eine „gute“ Maßnahme. Andererseits sahen rund 30% das Projekt skeptisch (21% fanden es „sehr schlecht“, weitere 9% „schlecht“) und immerhin 18% waren unentschieden. Schon damals konnte man also nicht gerade von einer breiten Unterstützung für das Projekt sprechen.

Dieses uneinheitliche Stimmungsbild verschlechterte sich schrittweise über die Jahre hinweg. Im Jahr 2007 – also noch vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, die möglicherweise eine allgemein skeptische Stimmung hätte verursachen können – hatten einer groß angelegten Stuttgarter Bürgerumfrage zufolge nur noch 31% der Stuttgarter eine „gute“ oder „sehr gute“ Meinung über das Projekt. Ihnen standen 48% gegenüber, die eine „schlechte“ oder „sehr schlechte“ Meinung hatten. In einer weiteren Bürgerumfrage im Sommer 2009 manifestierte sich dieser Trend, der Anteil der „guten“ und „sehr guten“ Meinungen zu S21 ging noch einmal leicht zurück, auf 29%, der Anteil „schlechter“ und „sehr schlechter“ Meinungen lag fast unverändert bei 47%.

Vergleicht man diese Zahlen mit dem Ergebnis der Stern-Umfrage (51% aller Baden-Württemberger bzw. 67% der Stuttgarter stimmten dort gegen S21, 26% der Baden-Württemberger und 30% der Stuttgarter dafür*), so wird deutlich, dass die Proteste der vergangenen Monate zwar die vorhandene Skepsis gegenüber S21 sichtbar gemacht haben. Die Überzeugung von Befürwortern oder Unentschiedenen hielt sich jedoch in Grenzen: Mobilisierung ja, Konvertierung nein.

Anders gesagt war die Gruppe der Skeptiker schon seit längerer Zeit beachtlich, sie hat es aber nicht geschafft, im politischen Prozess Gehör zu finden. Auch die meisten Parteien haben das Vorhaben unterstützt. Erst als der Protest auf die Straße verlegt wurde, wurden aber auch die Kritiker von Stuttgart 21 wahrgenommen.

Was bedeutet dies nun für die aktuelle Debatte? Der eingangs dargelegte Gedanke, dass das Projekt bereits seit 15 Jahren diskutiert werde, ist Grundlage des zentralen Arguments der Ausbau-Befürworter: Sie sagen, dass der Planungsprozess über die Jahre hinweg bereits alle Gruppen angehört und alle demokratischen Instanzen durchlaufen habe, daher dürfe er nun nicht einer Stimmungsdemokratie geopfert werden. Faktisch gab es aber offensichtlich nur unzureichende Möglichkeiten für die Ausbau-Gegner, ihre Argumente vorzutragen. Das politische System war nicht in der Lage, diese Stimmen und Stimmungen einzufangen.

Diese Beobachtung alleine ist noch kein Grund, das bisherige (zweifellos demokratisch legitimierte) Verfahren in Frage zu stellen. Sie gibt allerdings Anlass dazu, sich nicht allzu sehr an die gefassten Beschlüsse zu klammern, sondern das Schlichtungsverfahren ergebnisoffen zu gestalten.

*Vielen Dank für die Hinweise auf den Zahlendreher, die Passage wurde korrigiert.

 

Ist das (erhebliche) Protest-Potenzial einer (möglichen) Sarrazin-Partei valide?

Ich habe kürzlich hier in diesem Blog das Potenzial einer (möglichen) „Sarrazin“-Partei auf 26 Prozent geschätzt. Die Zahl und die Methode haben eine lebhafte Diskussion hervorgerufen – über 100 Kommentare, zahlreiche E-Mails bislang.

Das an sich ist eine gute Sache: Viel zu selten werden Zahlen und vor allem die ihnen zugrunde liegenden Verfahren in der Öffentlichkeit diskutiert und hinterfragt. Das war übrigens eines der Motive, dieses Blog zu starten, damit es nicht immer nur heißt: „Eine Studie ergab, dass das Potenzial einer Sarrazin-Partei bei 26 Prozent liegt.“ Ende, aus, fertig.

Dass die Methode, die ich zur Potenzialbestimmung verwendet habe, tatsächlich gültige und zuverlässige Ergebnisse liefert, folgt nicht nur aus ihrer Logik. Es lässt sich auch (indirekt) zeigen, indem man weitere Fragen, die wir gestellt haben, hinzuzieht. Schon gezeigt hatte ich, dass das Potenzial für eine Sarrazin-Partei bei Nichtwählern der Wahl 2009 besonders hoch ist. Darüber hinaus haben wir allen 1000 Befragten auch folgende Frage gestellt:

„Und was halten Sie – ganz allgemein gesprochen – von den folgenden Politikern in Deutschland. Benutzen Sie dafür bitte ein Thermometer von +5 bis -5. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von dem Politiker halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von dem Politiker halten.“

Unter anderem sollten die Befragten auch Thilo Sarrazin auf diesem Thermometer einstufen. Unterstellen wir für den Moment, dass die Antworten auf diese Frage nicht durch soziale Erwünschtheit (oder andere Störfaktoren) beeinflusst sind. Dann sollte gelten: Wer Sarrazin positiv bewertet, sollte eine von ihm angeführte Partei auch eher zu wählen bereit sein. Wer Sarrazin dagegen negativ bewertet, der sollte auch weniger willens sein, einer „Sarrazin“-Partei seine Stimme zu geben. In der Logik der Studie (siehe zur Methode meinen vorherigen Beitrag) sollte also gelten: Für Sarrazin-Befürworter sollte der zu beobachtende Unterschied in der mittleren Zahl wählbarer Parteien deutlich größer ausfallen als in der Sarrazin-skeptischen Gruppe.

Und genau so ist es, wie die folgende Abbildung zeigt:

In der Gruppe derer, die Thilo Sarrazin (sehr) positiv bewerten, ergibt sich ein Potenzial von 46 Prozent – dies gegenüber einem Potenzial von 19 bzw. 12 Prozent bei Personen, die ihm (vermeintlich) neutral bis negativ gegenüberstehen. Die Methode besteht demnach diesen Test problemlos.

(Die Daten wurde von YouGovPsychonomics im Zeitraum vom 20. bis zum 22. September erhoben, befragt wurden 1000 Personen.)

 

Doch Rot-Grün?

Hat das, was zu Beginn des Jahres aussichtslos schien, nun, wenige Tage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, womöglich doch noch eine Gewinnchance: ein Regierungsbündnis von SPD und Grünen? Es wäre eine große politische Überraschung. Doch welche empirischen Befunde sprechen für einen solchen Wahlausgang und welche sprechen dagegen?

Für eine Koalition von SPD und Grünen spricht vor allem das präferierte Koalitionsmodell: Nannten vor der NRW-Wahl 2005 noch 28% Schwarz-Gelb als Wunschkoalition, sind es nun nur noch 19% (hier und nachfolgend werden Vorwahl-Umfragen „Politbarometer-Extra“ der FGW angeführt). Im Gegenzug hat sich die Präferenz für Rot-Grün von 24% (2005) auf 27% (2010) verstärkt. Ein positiver Effekt für Rot-Grün könnte auch von der Kompetenzzuschreibung in der Bildungspolitik ausgehen: 44% nennen hier entweder SPD oder Grüne als kompetenteste Parteien und lediglich 30% CDU oder FDP, 2005 lag Rot-Grün noch deutlich hinter Schwarz-Gelb zurück. In diesem Zusammenhang könnte Rot-Grün von der wichtigeren Rolle der Landespolitik (54%) für die Wahlentscheidung der Bürger im Vergleich zur Bundespolitik profitieren (2005: 50%). Schließlich spricht die primär wahlzyklusbedingte Schwäche der Regierungsparteien im Bund für Rot-Grün, vor allem für die Grünen, die seit 2005 weder im Bund noch in NRW an einer Regierung beteiligt sind.

Gegen Rot-Grün spricht nicht nur, dass das Koalitionsmodell von lediglich einer Minderheit präferiert wird, sondern auch, dass die Landesregierung erst eine Legislaturperiode im Amt und politisch lediglich angeschlagen ist. Auf der +5/-5-Skala erreicht Schwarz-Gelb einen Mittelwert von 0,0, 2005 lag die damalige rot-grüne Landesregierung bei -0,7 und wurde fast schon folgerichtig abgewählt. 2010 kommt die CDU alleine immerhin noch auf ähnlich gute Bewertungen (0,3) wie SPD (0,4) oder Grüne (0,2). Und 53% der Befragten erwarten, dass die CDU, Jürgen Rüttgers oder Schwarz-Gelb die Wahl gewinnen wird, lediglich 28% nennen hier Rot-Grün. Wechselstimmung sieht anders aus. Und selbst wenn es Rot-Grün schaffen sollte, Schwarz-Gelb zu überflügeln, dann würde es aufgrund der Linkspartei wahrscheinlich nicht zu einer Mandatsmehrheit von SPD und Grünen im Landtag reichen.

Am meisten spricht eigentlich sowohl gegen Rot-Grün wie Schwarz-Gelb. Auch dies lässt sich durch Präferenzen und Bewertungen der Bürger Nordrhein-Westfalens unterstreichen: Rüttgers und Kraft liegen in der Kandidatenpräferenz ebenso gleichauf wie ihre Parteien in den Kompetenzzuschreibungen beim wichtigsten Thema Arbeitslosigkeit. Auch bei der Wahlabsicht geht es so eng zu, dass jede vermeintliche „Führung“ eines Lagers ein statistisches Artefakt sein könnte. Man sollte also mit einem Patt der beiden Lager rechnen. Mein Kollege Marc Debus hält dann aufgrund der Wahlprogramminhalte ein Bündnis von CDU und Grünen für wahrscheinlicher als eine Große Koalition. Schwarz-Grün hätte sicherlich Symbol- und Disziplinierungscharakter für den Bund, frei nach dem Motto: „FDP paß‘ auf, wir können notfalls auch mit den Grünen!“ Sollbruchstellen eines solchen Bündnisses, vor allem an der Parteibasis von Schwarz und Grün, wären dann jedoch gegen die Regierungsstabilität eines Elefantenbündnisses abzuwägen. In frühestens drei Tagen sind wir (etwas) schlauer.