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Saarland: Koalitionspolitik = Programm + Personen

Morgen sind Millionen Hunderttausende von Saarländern aufgerufen, die Zusammensetzung des Landtags in Saarbrücken neu zu bestimmen. Spannende Fragen stehen im Raum: Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Im Superwahljahr 2009 lag sie bei immerhin 67,6 Prozent – morgen dürfte sie wohl deutlich niedriger liegen. Kommen die Grünen in den Landtag? Letzte Umfragen sehen sie zwischen 4 und 5 Prozent. Schaffen es die Piraten, in einem Binnenland in ein Landesparlament einzuziehen? Umfragen sehen sie zwischen fünf und sechs Prozent. Welche Zahl wird bei der FDP vor dem Komma stehen? 1, 2 oder 3? Wie stark wird die Linke werden? 2009 waren es über 21 Prozent, Oskar sei Dank. Und: Wer wird stärkste Kraft im Land werden? CDU oder SPD? Letzte Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Und trotzdem ist die Wahl zugleich unglaublich langweilig. Denn klar ist: Es wird eine Koalition aus Union und SPD geben, das betonen beide Seiten seit Beginn des Wahlkampfs und haben daran auch keinerlei Zweifel aufkommen lassen. Einzig die Frage, wer diese Koalition führen wird, ist offen. Nach den Koalitionsturbulenzen nach der Wahl 2009, an deren Ende die Jamaika-Koalition stand und zu Beginn des Jahres unterging, wirkt dies geradezu trotzig.

Gleichwohl ist diese Festlegung auch sehr bemerkenswert – und zwar aus inhaltlicher Sicht. Schaut man nämlich auf die Antworten, die die saarländischen Parteien auf die 38 Thesen des Saarland-Wahlomaten gegeben haben, so drängt sich diese große Koalition erheblich weniger stark auf, wie die folgende Abbildung zeigt:

Grad der Übereinstimmung der saarländischen Parteien gemäß Wahlomat

Wie schon bei früheren Wahlen kann man die Partei-Antworten auf die Wahlomat-Thesen nutzen, um daraus einen Indexwert (*) abzuleiten, der anzeigt, wer wem wie nahesteht. Und dabei zeigt sich eben: Die größte inhaltliche Überstimmung gibt es zwischen SPD und Linken, gefolgt von SPD und Piraten. Da beide Parteien – wenn die Umfragen stimmen – zukünftig an der Saar im Landtag sitzen werden, ergäben sich daraus durchaus inhaltlich fundierte Koalitionsoptionen. Zumindest aus Sicht der SPD ist die felsenfeste Festlegung auf die Große Koalition (potenziell sogar als Juniorpartner) durchaus überraschend. Weniger gilt dies für die Union: Zwar herrscht die größte Übereinstimmung mit der FDP, aber das ist eher von theoretischem Interesse. Die Schnittmenge mit der SPD – wenn auch insgesamt nur mäßig stark ausgeprägt – ist immer noch ihre beste (realistische) Koalitionsoption. Übrigens zeigt der Wahlomat auch das Problem der alten Jamaika-Koalition – zwischen FDP und Grünen gibt es nur sehr geringe Übereinstimmungen.

Wieder einmal zeigt sich: Politik ist eben mehr als Programmatik. Gerade in einem überschaubar großen Land wie dem Saarland mit seinen engen Netzwerken und den darin enthaltenen positiven wie negativen Verbindungen müssen die Leute auch „können“ – und das scheint bei CDU und SPD noch am ehesten der Fall zu sein. Und deswegen wird’s morgen nur mäßig spannend werden.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

Thorsten Faas (@thorstenfaas) ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbes. Wählerverhalten an der Universität Mannheim.

 

Ministerpräsident = Präsident + Kanzler

Fast scheint der Punkt erreicht, an dem alles zum Thema gesagt ist, nur noch nicht von jedem. Aber ein kleiner, systematischer Punkt scheint mir unerwähnt bislang. Vielleicht, weil er irrelevant ist. Aber vielleicht ist er auch einfach untergegangen, aber doch bemerkenswert.

„(Sie oder er) vertritt das Land nach außen“.
„(Sie oder er) übt im Einzelfall das Begnadigungsrecht aus.“

Klingt nach Bundespräsident. Artikel 59 des Grundgesetzes lautet allerdings: „(1) Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten.“ Und in Artikel 60 heißt es: „(2) Er übt im Einzelfalle für den Bund das Begnadigungsrecht aus.“ Um den Bundespräsidenten geht es demnach bei den obigen Zitaten nicht.

Die Zitate stammen aus der niedersächsischen Landesverfassung (und finden sich in sehr ähnlicher Form in praktisch allen deutschen Landesverfassungen). Sie lauten im Original:

„(1) Die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident vertritt das Land nach außen.“ (Art. 35)
„(1) Die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident übt im Einzelfall das Begnadigungsrecht aus.“ (Art. 36)

Aus systematischer Sicht zeigen diese beiden Artikel stellvertretend, dass das Amt eines Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes gleichzeitig all jene Aufgaben umfasst, die auf Bundesebene teils die Bundeskanzlerin, teils der Bundespräsident ausübt. Ein Ministerpräsident ist Kanzler und Präsident, Regierungschef und Staatsoberhaupt in Personalunion.

Den Luxus getrennter Ämter – Kanzler + Präsident – leisten sich die Bundesländer nicht. Aber das bedeutet nicht, dass es die Aufgaben und die Rolle eines Staatsoberhaupts auf Länderebene nicht gibt. Der Ministerpräsident übernimmt sie – beide. Damit müsste also jeder Ministerpräsident wissen, „wie Präsident geht“, denn es ist ein ureigener Teil seines Jobs.

 

Vorhersagemodel sagt Obamas Wiederwahl im Herbst voraus

Die Vorwahlen in New Hampshire sind vorüber. Während sich das Feld der Präsidentschaftskandidaten der Republikaner in den nächsten Wochen weiter ausdünnen wird kann sich der amtierende amerikanische Präsident schon heute auf seine Wiederwahl einrichten, weil er alle republikanischen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen im November diesen Jahres schlagen wird. Diese Einsicht verdanken wir keiner Kristallkugel, sondern einem statistischen Vorhersagemodell, das sogenannte Primary Model, was mein Kollege Helmut Norpoth, Professor für Politikwissenschaft an der Stony Brook University in New York entwickelt hat. Damit war er mal wieder der erste der akademischen Kollegen, der sich 2012 mit dieser Prognose aus der Deckung wagt.

Das außergewöhnliche an seinem Modell ist, daß es bereits jetzt schon Vorhersagen zum Ausgang der Präsidentschaftswahlen im November ermöglicht. Erwartungsgemäß werden viele Prognosen ja genauer, je näher man sich dem Ereignis nähert. Man denke nur an den Wetterbericht fürs kommende Wochenende. Sein Primary Model hat jedoch den Gewinner nach Stimmen der US amerikanischen Präsidentschaftswahlen seit 1996 immer richtig vorhergesagt.

Wie kann man das beinahe 10 Monate vorher bereits wissen? Sind die Wahlkämpfe nicht entscheidend und ist es gar nicht wichtig, wer gegen wen antritt? Regelmäßige Leser dieses Blog wissen, warum wir in der Wahlforschung den Ausgang von Wahlen vorhersagbar können, selbst wenn die entsprechenden Umfragen schwanken.

Norpoths Primary Model schafft diese Aufgabe, indem es sich die Regelmäßigkeiten der Vorwahlergebnisse von Präsidentschaftskandidaten der Republikaner wie der Demokraten systematisch ausnützt, die seit 1912 verzeichnet sind. In einem statistischen Modell ermöglichen diese Ergebnisse – neben weiteren längerfristig wirksamen Faktoren – hinreichende genaue Prognosen über das zu erwartende Stimmergebnis für unterschiedliche Kandidatenkonstellationen.

Die besten Chancen für die Republikaner im Herbst hat nach diesen Modellprognosen dabei noch Mitt Romney, der ehemalige Gouverneur des Bundesstaates Massachusetts. Sollte Romney seinen Erfolg von New Hamshire fortsetzen und sich aufmachen, die Vorwahlen der Republikaner zu gewinnen, würde Obama ihn mit 53.2 zu 46.8 Prozent schlagen. Obama würde sogar zwischen 56 und 57 Prozent der Stimmen gewinnen, die entweder für die Demokraten oder die Republikaner abgegeben wurden, wenn der republikanische Kandidat doch noch Paul, Huntsman, Gingrich oder Santorum heißen würde.

Neugierig? Mehr dazu (allerdings in English) unter:
Norpoth, Helmut (2004), „From Primary to General Election: A Forecast of the Presidential Vote,“ P.S. Political Science and Politics, XXXVII, 4, 737-740.

 

Christian Wulff und die Wahlforschung

Die Rolle und das Amt des Bundespräsidenten werden in der empirischen Sozialforschung kaum beachtet; zu gering ist sein Einfluss, auch wird er nicht direkt gewählt. Dementsprechend wird das Amt auch in der Diskussion um die Personalisierung von Politik nicht beachtet. Dennoch sollen hier einige der wesentlichen und empirisch fundierten Erkenntnisse der empirischen Wahlforschung präsentiert werden, die sich auf die momentane Debatte um Christian Wulff übertragen lassen.

Die Personalisierung der Politik bzw. des Politischen wird in der Politischen Kommunikationsforschung und in der Wahlforschung schon seit geraumer Zeit erforscht. In anderen Worten: Man stellt sich der Frage, wie sehr politische Richtungsentscheidungen mit den Personen verbunden sind, welche sie vertreten. Unterscheiden lassen sich drei Dimensionen: a) die Personalisierung der Wahlkampfführung, b) die Personalisierung der Medienberichterstattung und c) die Personalisierung der Wahlentscheidung.

Wenn wir uns die Entwicklung der drei Dimensionen im internationalen Vergleich anschauen, lässt sich feststellen, dass die Personalisierung der Wahlkampfführung kein neues Phänomen ist, im Gegenteil: Parteien haben ihren Wahlkampf schon immer auf den Spitzenkandidaten ausgerichtet, die Dramaturgie der Wahlkämpfe, die „Drehbücher“, hatten schon immer einen Hauptdarsteller. Anders gelagert ist die Personalisierung der Medienberichterstattung. Hier lassen sich klare Veränderungen im Zeitverlauf festmachen: Mit dem Einzug des Fernsehens hielten nicht nur neue Formate wie z.B. TV-Duelle, Talkrunden etc. Einzug in das Politische – auch die Konzentration der Medien auf Personen nahm zu. Zwar sind nicht immer ausschließlich die Spitzenkandidaten im Fokus, aber Politiker per se stehen mehr und mehr im Rampenlicht.

Und nun kommen wir zur dritten Dimension, der Personalisierung des Wählerverhaltens. Diese lässt sich wiederum differenzieren in politische und unpolitische Eigenschaften – oder auch: rollennahe und rollenferne Eigenschaften – eines Kandidaten. Mit letzteren sind persönliche Integrität, physische Attraktivität und das Privatleben gemeint. Grundsätzlich festzuhalten ist, dass diese Eigenschaften eine immer wichtigere Rolle spielen: Bürgerinnen und Bürger richten ihre Wahlentscheidung mehr und mehr an den Kandidaten als an Parteien aus. Das Phänomen des personalisierten Wählerverhaltens ist uns aus präsidentiellen Systemen wohlbekannt, im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf etwa ist der Faktor Persönlichkeit schon lange ein Kernelement, dass strategisch genutzt wird: Die Frage, ob ein Kandidat „präsidiabel“ ist, ist für die Wähler zentral, und Wahlkampfstrategen setzen scheinbar unpolitische Eigenschaften aus dem Privatleben der Kandidaten ebenso in Szene, wie ihre Familienmitglieder oder persönlichen Freunde. Vergleichsweise neu ist, dass solche Entwicklungen auch in der Parteiendemokratie erkennbar sind. Allerdings zeigt die empirische Forschung deutlich, dass auch dort, wo Parteien und nicht Personen gewählt werden, Wahlentscheidungen vermehrt an der Person des Spitzenkandidaten ausgerichtet werden.

Und es sind vor allem die unpolitischen, rollenfernen Eigenschaften, die dabei ins Gewicht fallen. Die Logik, der dieses Phänomen zugeschrieben wird, überzeugt: Politische Inhalte werden immer komplexer und Bürger haben immer weniger Zeit, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Daher wählen sie sogenannte „kognitive Abkürzungen“. Sie leiten aus den unpolitischen Eigenschaften, über die sie sich schnell ein Urteil bilden können, ihre Einschätzung über die Kandidaten ab. Hier weist sich vor allem die Integrität der Kandidaten als wichtiger gegenüber den anderen unpolitischen Eigenschaften aus.

Was bedeutet dies nun für unsere Debatte um den Bundespräsidenten? Natürlich, er wird nicht direkt gewählt – dennoch wird er aber als prominenter Vertreter des Volkes wahrgenommen. Seine Autorität und seine Daseinsberechtigung in unserem politischen System sind in erster Linie darauf begründet, dass hier jemand jenseits der Grenzen der Parteienpolitik mit Vernunft, Moral und Augenmaß auf die politischen Entwicklungen im Land blickt, positive Entwicklungen fördert und negative offen anspricht. Dadurch wird dieses Amt zu demjenigen, welches am allerstärksten auf unpolitischen Eigenschaften beruht. Wenn diese nun aber schwinden, da die Integrität des Bundespräsidenten in Frage steht, liegt gemäß den Ergebnissen der Sozialforschung nahe, dass der Rückhalt in der Bevölkerung rapide sinken wird. Viel mehr noch, als wenn es sich um einen Minister oder Parteivorsitzenden handeln würde, für den sich eine gewisse durch Tricks und Kniffe unter Beweis gestellte Cleverness sogar positiv auswirken könnte. Man könnte auch sagen: Auf kein Amt wirkt sich ein Skandal potenziell so schädigend aus, wie auf das des Bundespräsidenten.

Literaturhinweise:

Aarts, Cees/Blais, André/Schmitt, Hermann (Hrsg.) ( 2011): Political Leaders and Democratic Elections. Oxford: OUP.

Klein, Markus/Ohr, Dieter (2000): Gerhard oder Helmut? Unpolitische Kandidateneigenschaften und ihr Einfluss auf die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 1998, in: PVS 41, 2, 199-224.

 

Google Insights „Interesse Index“ sagt Abstimmungsbeteiligung korrekt voraus

Die Volksabstimmung zu „Stuttgart 21“ ist gelaufen. Die Nein-Sager haben gewonnen – mit oder ohne Quorum. Während die Nein-Sager feiern, lecken die unterlegenen Ja-Sager ihre Wunden.
Die Abstimmungsbeteiligung bei der Volksabstimmung lag landesweit bei 48,3 Prozent. Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg bietet eine schöne Karte der Beteiligungsergebnisse der Volksabstimmung vom 27. November 2011 an. Unmittelbar ersichtlich ist in der Tat, dass die Beteiligung an der Volksabstimmung in Württemberg höher ist als in Baden.
Im Nachhinein sind viele Sachen ja nicht mehr ganz so überraschend. Allerdings bin ich schon überrascht, wie gut sich die Prognose, die gestern auf diesem Blog veröffentlicht wurde, tatsächlich bewährt hat.

Mithilfe des „Interesse-Index“ von Google Insights hinsichtlich Suchanfragen, die den Begriff „Stuttgart 21“ beinhalten, konnten regionale Unterschiede im Interesse gemessen werden, die sich später tatsächlich in unterschiedlich hohen Beteiligungsraten auswirkten. Zumindest für 16 Orte in Baden-Württemberg kann man Werte für diesen „Interesse-Index“ von Google Insights herunterladen. Die offiziellen Beteiligungsraten sind auf der Vertikalen abgetragen.

Der Zusammenhang zwischen dem Index aus den Suchanfragen und den tatsächlichen Beteiligungsraten beim Volksentscheid ist sehr stark. Die 16 Punkte weichen in der obigen Graphik nicht auffällig weit von der Vorhersage ab, die durch die rote Linie gekennzeichnet ist. Für jeden um 10 erhöhten Wert des „Interesse-Index“ erhöht sich die erwartete Beteiligungrate um 3,7 Prozentpunkte.
Ich würde nicht so weit gehen wollen, diese Methode in den Himmel zu loben, da sie u.a. nur relative Vorhersagen ermöglicht hat („Mehr Württemberger als Badener werden teilnehmen“) statt einer präzisen Punktschätzung. Allerdings erlauben die einsehbaren Suchstatistiken via Google Insights zumindest für jede und jeden jederzeit eine erste Einschätzung – und das ganz ohne den Geldbeutel zu strapazieren. Wenn das nicht was für Schwaben ist…..

 

Ja oder Nein? Das ist hier die Frage – Die Plakate zur S21-Volksabstimmung im Vergleichstest

Am kommenden Sonntag sind die Bürger in Baden-Württemberg dazu aufgerufen, über die Finanzierung des Bahnprojekts „Stuttgart 21“ abzustimmen. Soll das Land seine Finanzierungsanteile zu „Stuttgart 21“ kündigen oder nicht? Ja oder nein? Das ist hier die Frage. Leider ist diese Frage im Stimmzettel zur Volksabstimmung nicht ganz so klar formuliert. Dort steht: „Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21‘ (S21-Kündigungsgesetz) zu?“ Ein zentrales Ziel der Plakat-Kampagnen beider Seiten zur Volksabstimmung war und ist es deshalb, den eigenen Anhängern zu erklären, ob sie nun mit „Ja“ oder mit „Nein“ stimmen müssen, um alles richtig zu machen. Nebenbei sollen die Kampagnen natürlich auch das eigene Lager mobilisieren und den ein oder anderen noch immer Unentschiedenen auf die eigene Seite ziehen. Doch: Wie gut können die Plakate diese Ziele umsetzen? Das hat nun eine Studie der Universität Hohenheim untersucht.
Für ihre Studie haben die Hohenheimer Forscher insgesamt 348 Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger aus einem Online Access Panel zu ihren Einstellungen zu Stuttgart 21 und ihrer Bewertung und Erinnerung der Plakate zur Volksabstimmung befragt. Ihre Bewertung von „Stuttgart 21“ und ihre Abstimmungspräferenz mussten die Teilnehmer zweimal angeben: Das erste Mal vor Studienbeginn. Das zweite Mal, nachdem sie die Plakate betrachtet und bewertet hatten. Aufgrund der Art der Stichprobenziehung ist die Untersuchung nicht repräsentativ, absolute Aussagen oder Vorhersagen über Einflüsse der Plakat-Kampagnen in der Gesamtbevölkerung sind deshalb nicht möglich. Allerdings ist dies bei Experimentaluntersuchungen auch nicht das Ziel. Hier geht es um relative Aussagen und den Einfluss bestimmter Merkmale (z.B. Einstellungen zu „Stuttgart 21“) auf das Verhalten der Befragten. Solche relativen Aussagen über das Verhalten von S21-Gegnern, -Befürwortern und Neutralen können durchaus getroffen werden. Denn alle drei Gruppen waren ausreichend und zu etwa gleichen Teilen in der Stichprobe vertreten.
Wie sich anhand der Ergebnisse leicht zeigen lässt, kommt es bei der Bewertung der Plakate – kaum überraschend – zu großen Unterschieden zwischen Befürwortern und Gegnern des Bahnprojekts. Beide Seiten bewerten jeweils „ihre“ Plakate besonders positiv und die Plakate der gegnerischen Seite besonders negativ. Interessanter sind deshalb die Bewertungen der neutralen und unentschiedenen Probanden. Hier zeigte sich ein deutliches Ergebnis: Die drei untersuchten Plakate der bunten Ja-Kampagne des Gegner-Bündnisses „Ja zum Ausstieg“ belegten die ersten drei Plätze. Die roten Nein-Plakate der Befürworter-Initiative „IG Bürger für Baden-Württemberg“ hingegen die letzten drei Plätze. Die Erklärung hierfür dürfte zum einen im aggressiven Slogan der Befürworter-Plakate („Wir sind doch nicht blöd!“), zum anderen in der sehr unterschiedlichen Plakatgestaltung liegen. Trotz oder gerade wegen dieser Störfaktoren wurden die Plakate der „Wir sind doch nicht blöd!“-Kampagne jedoch mit am besten erinnert.
Noch interessanter als diese deskriptiven Befunde der Studie sind jedoch die Ergebnisse zum Einfluss der Plakatbetrachtung auf die Einstellungen der Probanden. Denn hier zeigte sich, dass – anders als vielleicht von Vielen vermutet – durchaus noch ein gewisses Beeinflussungspotenzial vorhanden ist. Trotz des nun schon jahrelang andauernden Bahnhof-Streits und der mittlerweile – auch nach dem Schlichterspruch von Heiner Geißler – eisern verhärteten Fronten. So änderten immerhin 55 der 348 Befragten (15,8 Prozent) ihre Meinung über „Stuttgart 21“ (auf einer 7er-Skala von „sehr positiv“ bis „sehr negativ“). Bei etwa einem Drittel dieser Probanden (18 Personen), fielen diese Änderungen auch recht deutlich aus (mindestens zwei Skalenpunkte). Eine weitere Folge der Plakatbetrachtung: Auch das geplante Abstimmungsverhalten änderte sich bei 23 Befragten (6,7 Prozent). Hierbei kam es nicht nur zu Verschiebungen zwischen dem Lager der ursprünglich noch Unentschiedenen und dem Ja- und Nein-Lager, sondern durchaus auch zu Verschiebungen zwischen dem Ja- und dem Nein-Lager. Angesichts der intensiven Berichterstattung zu „Stuttgart 21“ und dem überdurchschnittlichen politischen Interesse der Befragten liegt es nahe, diese Verschiebungen insbesondere als eine Folge des „Erklär-Effektes“ der Plakate zu interpretieren. Offensichtlich wurde einem beträchtlichen Teil der Befragten erst durch die Plakat-Betrachtung klar, wie sie abstimmen mussten, um ihrer jeweiligen Einstellung zu „Stuttgart 21“ Ausdruck zu verleihen. Offen bleibt allerdings die Frage, bei wie vielen Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg dieser „Erklär-Effekt“ der Kampagnen noch rechtzeitig vor dem 27. November eintritt.

 

Facebook, Twitter und Co: Welche Rolle spielen die Sozialen Medien in Wahlkämpfen?

AndreaWenn der Wahlkampf ein Markt ist, ist Aufmerksamkeit seine Währung. Denn die erste Hürde, die jede politische Botschaft überspringen muss, ist keine inhaltliche (z.B., „Ist der Vorschlag gut?“), sondern eine kommunikative: „Wird der Vorschlag gehört?“. Dieses altbekannte Prinzip politischer Kampagnenarbeit hat durch die Sozialen Medien eine beachtliche Ausdehnung erfahren: Ging es vormals primär darum, dass die Forderungen von klassischen Medien wie Presse, Funk und Fernsehen verbreitet werden, so ist es heute auch mehr denn je möglich, die Botschaften selbst zu senden und aktiv Unterstützung zu generieren.

Soweit die Theorie. Ist es aber auch praktisch relevant, wie viele Facebook-Freunde Stefan Mappus hat oder wie viele Menschen Olaf Scholz auf Twitter folgen? Machen YouTube-Videos tatsächlich einen Unterschied? Diese Fragen stellen sich derzeit viele Politiker und Parteistrategen – und von der Antwort kann einiges abhängen: Gerade bei Landtagswahlen sind die Budgets vieler Kandidaten knapp und so kann die Entscheidung für oder gegen einen professionellen Online-Auftritt einen direkten Einfluss auf die gesamte Wahlkampf-Strategie haben. Denn auch wenn der finanzielle Aufwand für Online-Wahlkämpfe vergleichsweise gering ist, fallen doch Kosten an: Beispielsweise muss das Facebook-Profil eines Kandidaten mit einigem personellem Aufwand gepflegt werden, damit sich der positive Effekt der Online-Präsenz nicht ins Gegenteil verkehrt. Auch Videos, die auf Plattformen wie YouTube eingestellt werden, dürfen zwar vergleichsweise „hemdsärmelig“ daher kommen, bedürfen aber dennoch professioneller Unterstützung.

Die Frage „Brauchen wir das?“, die derzeit in vielen Wahlkampfteams gestellt wird, ist somit berechtigt. Nähern wir uns also einer Antwort an. In der Deutschen Wahlstudie zur Bundestagswahl 2009 finden sich klare Hinweise darauf, wie die Nutzung Sozialer Medien mit dem Interesse am Wahlkampf zusammengeht. Bevor wir diese Ergebnisse genauer betrachten, sollten wir jedoch einen Blick darauf werfen, wie viele Bürger die Sozialen Medien überhaupt nutzen. Eine Erhebung aus dem Januar 2010, also kurz nach der letzten Bundestagswahl, zeigt, dass die in Deutschland größten Sozialen Netzwerke 14,4 (VZ-Gruppe) bzw. 13 Millionen (Facebook) regelmäßige Besucher haben, welche die Seite mindestens einmal pro Monat besuchen. Dazu kommen weitere große Netzwerke wie Wer kennt wen (6,7 Mio), StayFriends (5,6), Twitter (3,9), MySpace (3,8), und Lokalisten (3,4).

Diese Zahlen sind beachtlich – auch wenn man natürlich bedenken muss, dass viele Menschen mehrere Profile haben und zudem ein guter Teil der Nutzer noch nicht wahlberechtigt ist oder der Gruppe der Nichtwähler angehört. Dennoch lässt sich ein starker Trend ablesen, der auch von den Ergebnissen der Deutschen Wahlstudie gestützt wird: Hier gaben einen Monat vor der Bundestagswahl 47 Prozent der Befragten an, mindestens einmal pro Woche eine Soziale-Medien-Seite zu besuchen.

Und sind diese Zahlen nun für den Wahlkampf relevant? Immerhin 15 Prozent der Wahlbevölkerung berichtet, Wahlkampfinformationen über die Sozialen Medien erhalten zu haben. Und vier Prozent sind selbst als „Wahlkämpfer“ in den sozialen Medien aktiv, sie verbreiten etwa Wahlkampfmaterial in ihren jeweiligen Netzwerken. Mit Blick auf die hohen absoluten Nutzerzahlen, sind diese Werte beachtlich.

Wer sind nun aber diese „Online-Wahlkampfhelfer“? Sind es dieselben Personen, die auch Mitglieder der Parteien sind und an den Wochenenden auf Marktplätzen, an U-Bahn-Haltestellen und in Geschäftspassagen stehen? Hier zeigen unsere Daten Erstaunliches: Es sind junge Leute mit einer hohen Parteiidentifikation aber ohne Parteimitgliedschaft, die online in ihren sozialen Netzwerken aktiv sind – also eine völlig andere Unterstützergruppe als jene, die wir beim Straßenwahlkampf sehen.

Dieser Befund sollte Wahlkämpfer aufmerken lassen. Allzu oft war bereits von Politik-, Politiker- oder Parteienverdrossenheit in der Bevölkerung die Rede und gerade auch die letzten Wahlkämpfe haben es offenkundig nicht geschafft, neue Zielgruppen anzusprechen und somit die Zahl der Nichtwähler zu verringern. Im Gegenteil, gerade die jüngste Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, die Hinweise auf die Kampagnen in den Landtagswahlen dieses Jahres geben kann, kam überraschend unspektakulär und altbacken daher. Kreative Kampagnen, die neue Wähler hätten gewinnen können, waren online wie offline Mangelware.

Die Sozialen Meiden sind bestimmt kein Allheilmittel. Es sei daran erinnert, dass auch im bislang wohl modernsten Wahlkampf weltweit, Obamas Kampagnen bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2008, trotz aller Online-Elemente eine klare Priorität auf den klassischen Medien lag. Allerdings zeigt die empirische Sozialforschung, dass im Internet ein nicht unerhebliches Wählerpotenzial schlummert, das umso interessanter ist, da es sich von den Gruppen, die über klassische Kampagnentechniken angesprochen wird, deutlich zu unterscheiden scheint. Und je enger ein Wahlausgang prognostiziert wird – etwa im Fall der aktuellen Umfrageergebnisse für Baden-Württemberg hin –, desto wichtiger werden diese Elemente.

Literatur:

Andrea Römmele/Sabine Einwiller: Citizen Leaders and Party Laggards: Social Media in the 2009 German Federal Election. Paper presented at the Annual Meeting of the American Political Science Association, Washington DC, Sept 1-5, 2010.

Mehr Informationen über die Deutsche Wahlstudie unter www.dgfw.info

 

Koalitionsszenarien in Hamburg: ein sozialliberales Revival?

Der frühere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau hat vor kurzem seiner Sozialdemokratischen Partei geraten, nach den am 20. Februar stattfindenden Bürgerschaftswahlen eine Koalition mit der FDP einzugehen. SPD und Liberale hatten die Hansestadt zuletzt von 1987 bis 1991 unter der Führung Voscheraus regiert. Nach den Wahlen in diesem Jahr wäre eine solche Option nur dann überhaupt möglich, wenn die Freien Demokraten die 5%-Hürde knacken würden.

Die von Thorsten Faas im Rahmen dieses Blogs vorgelegte Analyse der inhaltlichen Schnittmengen zwischen den Hamburger Parteien auf Basis des Wahl-O-Mats deutet darauf hin, dass SPD und FDP große inhaltliche Schnittmengen haben. Nun spielen aber für die Regierungsbildung in den deutschen Bundesländern neben den inhaltlichen Positionen der Parteien und – natürlich – deren Sitzstärke im Parlament auch bundespolitische Faktoren eine Rolle. So würde eine sozialliberale Koalition in Hamburg auf bundespolitischer Ebene der Opposition aus SPD, Grünen und Linken nicht allzu viel nutzen, da im Falle der Bildung einer SPD/FDP-Koalition das Land Hamburg im Bundesrat zu den „neutralen“ und nicht zu den von der Opposition kontrollierten Ländern zählen würde. Gegeben dass die Hamburger Bürgerschaft aus fünf Fraktionen – SPD, CDU, GAL, Linke und FDP – bestehen würde (was die Umfrage von Infratest-dimap vom 3. Februar andeutet), welche Koalition wäre dann das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses?

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der die Ergebnisse aller Regierungsbildungsprozesse in den deutschen Bundesländern seit 1990 umfasst, können mit statistischen Verfahren die Wahrscheinlichkeiten dafür ermittelt werden, dass eine theoretisch mögliche Parteienkombination schlussendlich auch die Regierung bildet. Dabei werden neben der Stärke der Parteien auch die inhaltlichen Distanzen zwischen den Parteien, ihre Koalitionsaussagen sowie die bundespolitischen Muster des Parteienwettbewerbs berücksichtigt. Lässt man neben einer Koalition mit der Linken, die von SPD wie GAL ausgeschlossen wird, auch ein Bündnis zwischen Sozialdemokraten und CDU, dass die SPD ebenfalls ablehnt, bei der Berechnung außer acht, dann dominiert eindeutig Rot-Grün das Bild: Die Wahrscheinlichkeit einer Koalition aus SPD und GAL liegt bei 78%, wohingegen die Chancen für ein sozialliberales Bündnis nur 19% betragen (die angenommene Sitzverteilung in der Bürgerschaft ergibt sich anhand der Umfrageergebnisse von Infratest-dimap vom 3. Februar).

Worin liegen die Ursachen für die sehr hohe Wahrscheinlichkeit der Bildung einer rot-grünen Koalition in Hamburg nach den Wahlen vom 20. Februar 2011? Ein Grund ist die – trotz einer leichten Bewegung der FDP in die programmatische Mitte, siehe die Abbildung unten – noch immer sehr große Distanz zwischen SPD und Liberalen in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Ein weiterer Faktor ist die fehlende Kongruenz einer sozialliberalen Koalition in Hamburg zu der Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf Bundesebene. Würde man den bundespolitischen Einflussfaktor nicht berücksichtigen, dann würde die Chance für die Bildung von Rot-Gelb jedoch nur leicht auf knapp 25% ansteigen. Rot-Grün würde mit einer Wahrscheinlichkeit von 72% noch immer weit vorne liegen. Von daher dürften wohl Henning Voscheraus Wünsche nach einem sozialliberalen Revival in der Hansestadt nicht Realität werden. Ein Trostpflaster dürfte jedoch sein, dass seine SPD auf jeden Fall wieder regieren und als stärkste Partei den Ersten Bürgermeister und Senatspräsidenten stellen wird.

 

Revolution im Ticker

von Johannes Staemmler

Johannes Staemmler

In Zeiten des Aufruhrs wird Geschichte spürbar – durch das Internet sogar für Menschen weltweit. Die Demonstrationen in Tunesien, Ägypten und anderswo machen deutlich, dass sich weder Ursachen noch Abläufe von Regimestürzen substanziell verändert haben, sondern Mittel und Geschwindigkeit der Ereignisse.

Das Internet, Notebooks und Smartphones sind revolutionäre Medien in den Händen der Unzufriedenen. Sie sind erschwinglich und bieten zahlreiche Möglichkeiten (Flickr, Facebook, Blogs, Youtube et al.), grenzüberschreitend miteinander zu kommunizieren ohne sich persönlich zu kennen. Zwar brauchte es einen jungen Mann, der sich in Tunesien aus dem unerträglichen Gefühl der Ungerechtigkeit heraus selbst entflammt, um der Frustration ein Bild und eine Geschichte zu geben. Aber es braucht das Internet, um diese binnen Stunden und Tagen durch den gesamten Mittelmeerraum zu tragen und Demonstrationen ungekannter Größe auszulösen.

Spiegel online analysiert skeptisch die Rolle des Internets in den aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten. Sie verweisen auf den Internet-Vordenker Evgeny Morozov aus Stanford, der, nach fehlgeschlagenen Revolutionsprognosen für den Iran, Twitter & Co nicht mehr als Label für Umsturzversuche verwenden mag. Das Internet ist eben keine Ursache sondern allein ein Mittel – ein Medium – der Veränderung. Albert O. Hirschman hat 1982 in „Shifting Involvement“ nach den Erklärungen für politische Aktivitäten gesucht und im Kern herausgearbeitet, dass es Frust ist, der Menschen antreibt, sich von ihren privaten Alltäglichkeiten dem Politischen zuzuwenden. Aber diese politische Aktivität bringt Kosten für den einzelnen mit sich; er muss Zeit, Nerven und Ideen einbringen und im Fall von Revolutionen ein nicht unerhebliches Maß an Unsicherheit aushalten.

Was macht das Internet besonders? Der New Yorker Professor Clay Shirky macht in dem Buch „Here Comes Everybody“ deutlich, dass das Internet in der Lage ist, das Verhalten von großen Menschenmassen zu beeinflussen, in dem es eine neue Form der Interaktion ermöglicht. Liebe und Alltag lassen sich hier genauso teilen wie politische Frustration. Aufgrund seiner dezentralen Struktur ergibt sich eine Netzwerkdynamik, die, wenn Themen von vielen geteilt und als relevant befunden immer und immer wieder kommuniziert werden, über soziale und nationale Grenzen hinaus strahlt.

Im Gegensatz zum Fernsehen kommunizieren die Internetnutzer aktiv und nehmen dadurch Teil. Sie treffen Entscheidungen, die weiter reichen als die Wahl des Fernsehprogramms. Dann ist es nur noch einer kleiner Schritt zur Mobilisierung, deren organisatorische Kosten im wirtschaftlichen Sinne mit dem Internet marginalisiert werden. Massenbewegung braucht mit dem Internet einen viel geringeren Grad an Organisation und Führung und kann deswegen in einem Bruchteil der Zeit entstehen, die frühere Bewegungen benötigten. Aber eben auch wieder vergehen.

Das Internet wird kaum helfen können, den politischen Prozess der Demokratiewerdung zu beeinflussen. Übergangsregierungen und Verfassungen müssen nach wie vor von Eliten ausgehandelt werden, zu denen auch jetzt wieder das Militär gehören wird. Aber das Signal der kollektiven Frustration ist von den Bevölkerungen in mehreren Ländern fast gleichzeitig ausgestrahlt worden. Die vielen Internetnutzer haben es noch mehr als die Nachrichtensender weitergetragen, die das Monopol der Berichterstattung eingebüßt haben. Erst mit einer Verzögerung von mehreren Tagen reagieren die Medienanstalten mit adäquaten und umfassenden Berichten und die Regierungen mit leisen Stellungnahmen. Aber auch der verzweifelte Versuch des ägyptischen Regimes, Journalisten gewaltsam mundtot zu machen, wird die Ereignisse nicht aufhalten. Jeder Bürger hat das Potential zum Berichterstatter.

Historiker müssen bewerten, ob sich dieser Tage eine Revolution in den einzelnen Ländern vollzieht. Wir beobachten aber erstens politischen Protest, der innerhalb der bestehenden politischen Ordnungen nicht eingehegt werden kann. Die Regime reagieren zweitens entweder mit sofortigem Rückzug oder mit Gewalt, wozu auch das Abschalten der Internetverbindungen zählt. Und drittens formieren sich Oppositionsbewegungen, die um Ideen für eine post-autokratische Zeit ringen und diese formulieren. Die Parallelen zu den Freiheitsbewegungen in Osteuropa 1989 sind jedenfalls sehr deutlich.

Die neuen Medien sind die Geburtshelfer für Protest und Revolution am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Erfolg von Regimewechseln wird nicht von ihnen abhängen, aber sie sind schon jetzt ein Teil der Angst amtierender Autokraten vor dem Verlust der Macht geworden.

Quellen:

Hirschman, Albert O. (1982) Shifting Involvement. Private Interest and Public Action. Princton University Press

Shirky, Clay (2009) Here Comes Everbody. Penguin Books.

Der Autor:

Johannes Staemmler, MPP, promoviert im Rahmen eines Fellowships der Hertie School of Governance und IFOK zum Thema „Zivilgesellschaft in strukturschwachen Regionen“. Er studierte Internationale Beziehungen an der Technischen Universität Dresden und Public Policy an der Hertie School of Governance. Seine Schwerpunkte sind bürgerschaftliches Engagement, politische Theorie, Regionalentwicklung sowie politische Kommunikation.

 

Hamburg ist Wahl-o-mat

Es ist wieder soweit: Vorwahlzeit, Wahl-o-mat-Zeit. Dieses Mal ist Hamburg Wahl-o-mat. Und in den „sozialen Medien“ dieses Internets häufen sich wieder die Meldungen: „Bei mir kam Partei x vor Partei y, wie kann das sein? Was ist mit mir los?“
Vielleicht gar nichts. Vielleicht ist vielmehr mit Hamburg etwas los, zumindest mit den dortigen Parteien. Ein Blick auf den Wahl-o-mat hilft. Was haben die Parteien auf die 38 ihnen präsentierten Thesen geantwortet? Zu den Thesen gehören etwa Aussagen wie „In der Hamburger Wirtschaftspolitik soll der Hafen stets Vorrang haben“ oder auch „In Hamburg soll keine Stadtbahn gebaut werden“. Wie schon bei früheren Wahlen kann man nämlich diese Antworten genauer anschauen und daraus einen Indexwert (*) ableiten, der anzeigt, wer wem wie nahesteht. Tut man dies für die fünf Parteien, die in Hamburg eine Chance haben, in der kommenden Bürgerschaft vertreten zu sein, resultiert folgendes Bild:

Man hat den Eindruck, dass in Hamburg wirklich einiges los ist… das schwarz-grüne Bündnis, aber auch sein Scheitern scheint die Parteienlandschaft erheblich durcheinander gewürfelt zu haben.

  • CDU und Grüne/GAL – bis vor kurzem noch eine einzige Koalitionsregierung – haben nur noch wenig gemeinsam. Nur CDU und Linke bzw. FDP und Linke eint inhaltlich noch weniger.
  • SPD und Grüne/GAL – angeblich bald gemeinsam an der Regierung – haben allerdings auch noch wenig gemeinsam. Die Einigkeit der Sozialdemokraten sowohl mit den Christdemokraten als auch der FDP ist höher.
  • Auch SPD und FDP haben mehr gemeinsam als CDU und FDP.
  • An der Spitze mit der höchsten Übereinstimmung stehen Grüne/GAL und Linke.

All das überrascht. Knapp drei Wochen sind es noch bis zur Wahl. Ein spannender Wahlkampf steht uns bevor. Wenn man sich allerdings die Ergebnisse hier anschaut, dann wird die Zeit danach – wenn Koalitionen verhandelt werden – noch spannender.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.