Lesezeichen
 

Nur eine Petitesse des Wahlrechts? Überhangmandate bei der nächsten Bundestagswahl

Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem bundesweiten Verhältnis der Zweitstimmen eigentlich zustünden. Solche Überhangmandate sind zwar, um es lax auszudrücken, unschön, stören aber nicht weiter, solange sich damit keine anderen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ergeben. Wenn aber CDU, CSU und SPD, die ja im Wesentlichen die Direktmandate gewinnen, eigentlich viel weniger Sitze zustehen, als sie schon mit Direktmandaten gewinnen, kann es zu deutlichen Verzerrungen kommen.

Mein Kollege Joachim Behnke von der Zeppelin University in Friedrichshafen hat nun eine überzeugende Simulationsstudie vorgelegt, die zu alarmierenden Ergebnissen kommt, wie er gestern in Spiegel Online berichtet. In einer Simulationsstudie wie dieser werden systematisch bestimmte Szenarien eines möglichen Wahlausgangs durchgespielt. Dazu müssen immer Annahmen gemacht werden, die angreifbar sind, worauf Joachim Behnke selbst immer wieder hinweist.

In seiner Studie wird von den 299 Wahlkreisergebnissen der letzten Bundestagswahl 2005 ausgegangen und angenommen, dass sich die Erststimmen der Parteien in jedem Wahlkreis gleichmäßig verbessern bzw. verschlechtern, wie es die derzeitigen Umfragewerte der Zweitstimmen widerspiegeln. Zu diesen Werten werden noch die zu erwartenden Stimmensplitter (in der Größenordnung der letzten Bundestagswahl) der Wunschkoalitionspartner FDP und der Grünen für die WahlkreiskandidatInnen der CDU, CSU und SPD pro Wahlkreis hinzugezählt. Somit können die Gewinner der Direktmandate mit dem jeweiligen Zweitstimmenergebnis (sofern die jetzigen Umfragen stimmen) der Parteien verglichen und die Anzahl der Überhangmandate berechnet werden. Da die Umfragen zu diesem Zeitpunkt bestenfalls ungefähr das Endergebnis widerspiegeln, werden mehrere leicht schwankende Zweitstimmenergebnisse der Parteien als Berechnungsgrundlage herangezogen. Daher bekommt man nicht eine bestimmte prognostizierte Anzahl der Überhangmandate für CDU, CSU bzw. SPD, sondern eine ganze Verteilung solcher Werte.

Behnkes Ergebnisse verdeutlichen die Größe des zu erwartenden Vorsprungs der CDU/CSU gegenüber der SPD. Der Sitzvorsprung der CDU/CSU vor der SPD, nur basierend auf Überhangmandaten, beträgt im Mittel mehr als 21 Sitze. In praktisch allen Simulationen hat die CDU/CSU einen deutlichen Vorsprung an Überhangmandaten, oft sogar einen rekordverdächtigen. Eine auf diese Weise künstlich vergrößerte CDU/CSU Fraktion im Bundestag hätte auch erheblich mehr strategisches Machtpotential in Koalitionsverhandlungen mit der FDP (oder natürlich auch den Grünen bzw. der SPD) nach der Bundestagswahl.

So dramatisch wird es vermutlich aber nicht kommen. Ich nehme nicht an, dass die jetzigen Umfragen wirklich gut das Stimmungsbild am Wahlabend wiedergeben. Der Abstand zwischen CDU/CSU und SPD wird sich noch verkleinern. Potentielle Wahlkreissieger der CDU/CSU gemäß Behnkes Simulationsstudie werden dann doch nicht das Direktmandat gewinnen, sondern es an die SPD-KandidatIn verlieren, was sofort zu einer Verringerung von Überhangmandaten führen würde. Außerdem wären die Wahlkampfstrategen der Parteien töricht, wenn sie ihre Direktmandatsstrategien nicht entsprechend auf diese Umstände anpassten (siehe hierzu auch den Beitrag von Thorsten Faas).

 

Wahl-Forensik im Iran

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin ein Fan des iranischen Kino. Der Gegensatz von Moderne und Tradition, der oft neben beeindrucken Bildern das inhaltliche Leitthema bildet, fasziniert mich seit einiger Zeit. Ich spreche aber weder die Sprache, noch kann ich die Schrift entziffern. Ehrlich gesagt habe ich echte Mühe, mehr als fünf iranische Städte beim Namen zu nennen. Ich bin also genauso auf die übliche Berichterstattung angewiesen.

Das böse Wort „Wahlfälschung“ macht die Runde, wenn von den Präsidentschaftswahlen im Iran vom 12. Juni die Rede ist. Leider scheinen unsere Nachrichten lieber an irgendwelche selbst gedrehten Amateurvideos von Protesten interessiert zu sein und den ewigen Bildern vom Teheraner Nachthimmel, als einmal den Versuch zu unternehmen herauszufinden, was an den Wahlbetrugsvorwürfen den nun wirklich dran ist. Für viele westliche Beobachter der Iranischen Politik scheint dieser Vorwurf bereits zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden, der man nicht weiter nachgehen muss. Gerne werden Geschichten zitiert, die zur eigenen Überzeugung passen, während andere übergangen werden.

Wie lassen sich aber Wahlbetrugsvorwürfe von Außen überprüfen? Mittlerweile kursieren im Internet Hinweise auf Links zum Iranischen Innenministerium, von denen man (ich nehme an „vorläufige“) Wahlergebnisse der Provinzen und Wahlkreisen herunterladen kann. Fördern diese Zahlen den Glauben oder eher die Skepsis an den Vorwürfen? Für Interessierte und Wahl-Forensiken ohne besondere Kenntnisse der Iranischen Politik bleiben im Wesentlichen zwei mögliche Herangehensweisen.

Zum einen lassen sich die absoluten Stimmergebnisse dahingehend analysieren, ob sie bestimmte zu erwartende Gesetzmäßigkeiten (das sogenannte „Newcomb-Benford-Gesetz“) in den Ziffernstrukturen der publizierten Wahlergebnisse aufweisen. So weiß man, dass Ziffern innerhalb solcher Datensätze nicht gleich oft vorkommen (die grüne Linie in der unten stehenden Graphik), sondern bestimmten Regelmäßigkeiten (der roten Linie) folgen: Je niedriger der zahlenmäßige Wert einer Ziffer an einer bestimmten Stelle einer Zahl ist, umso häufiger tritt sie auf. So tritt beispielsweise die ‚1‘ als erste Ziffer viel häufiger als alle anderen Ziffern. Am seltensten sollte die ‚9‘ als erste Ziffer in Wahlergebnissen zu finden sein. Machen Sie doch einmal zum Spaß die Probe im Excel-Sheet zu den Einträgen Ihrer letzten Steuererklärung!

Das Newcomb-Benford-Gesetz

Quelle: Wikipedia

Statistiker und Informatiker haben diese Idee weiter vorangetrieben und Software zur automatischen Aufdeckung von Datenfälschung entwickelt. Als besonders aufschlussreich erweisen sich im Zusammenhang mit Wahlergebnissen die Vergleiche der Häufigkeiten der zweiten Ziffern in einzelnen veröffentlichten Wahlergebnissen mit der nach dem Newcomb-Benford-Gesetz erwartenden Häufigkeiten. Weichen diese (beobachtenden und erwarteten) Häufigkeiten systematisch voneinander ab, dann wird dies als ein starkes Indiz für aufgetretene Unregelmäßigkeiten in den veröffentlichten Wahlergebnissen gewertet.

Eine zweite Methode um möglichen Wahlfälschungen auf die Spur zu kommen sind statistische Verfahren, die versuchen die beobachteten Wahlergebnisse durch frühere Wahlergebnisse und andere Informationen auf Wahlkreisebene systematisch vorherzusagen. Dabei kommt es zwangsläufig zu Prognosefehlern. Sind diese Fehler für viele Wahlkreise (a) sehr groß, d.h. lassen sich die Wahlergebnisse in diesen Wahlkreisen nur schlecht vorhersagen, und (b) werden die Stimmanteile für bestimmte Kandidaten oder Parteien systematisch unterschätzt (oder überschätzt), dann spricht das eher für eine Wahl mit Unregelmäßigkeiten als für eine faire Wahl.

Was genau bei den Iranischen Präsidentschaftswahlen passiert sein mag, kann natürlich keine dieser Methoden abschließend erklären. Die korrekte Anwendung dieser beiden Methoden kann aber wenigstens Anhaltspunkte für Wahlprüfungsexperten liefern, um mit der Überprüfung zu beginnen.

Der führende Experte auf dem Gebiet der Wahl-Forensik ist Walter Mebane. Der Professor für Politikwissenschaft an der University of Michigan hat schon einige Untersuchungen zu Wahlunregelmäßigkeiten in den USA, Mexico und Russland vorgelegt. Mebane wendet diese beiden Methoden auf die wenigen bisher zur Verfügung stehenden Daten zur jüngsten Präsidentschaftswahl im Iran an. Walter Mebane ist sicherlich kein Zeitgenosse, der vorschnelle statistische Analysen als Pseudo-Evidenz für oder gegen Wahlunregelmässigkeiten veröffentlicht. Im Gegenteil, Interessierte können seine Ergebnisse hier herunterladen. Zudem veröffentlicht er sogar Daten und Protokolle seiner statistischen Analysen, damit sie nachprüfbar bleiben und verbessert werden können. Seine bisherigen Analysen (Stand: 22. Juni 2009) lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen:

Während Mebane nur zufällige Abweichungen der zweiten Ziffern in den ihm vorliegenden Wahlergebnissen für Mussawi von der zu erwartenden Verteilung der zweiten Ziffern findet, erhält er systematische Abweichungen von den erwarteten Häufigkeiten bei drei weiteren Kandidaten, darunter auch den Stimmenergebnissen von Amtsinhaber Ahmadinedschad. Zudem findet er eine große Anzahl von Wahlkreisen, in denen Ahmadinedschad systematisch besser abschneidet als durch weitere statistische Verfahren vorhergesagt werden kann. Das deutet zumindest auch auf die Möglichkeit von Unregelmäßigkeiten bei der jüngsten Präsidentschaftswahl hin. Natürlich könnte es theoretisch auch andere Gründe geben, mit denen man die Stimmergebnisse in allen Wahlkreisen sehr gut vorhersagen könnte. Mehr Informationen über das Wahlverhalten der Iraner sind dazu erforderlich. Allerdings deutet die hohe Anzahl dieser schlechten Vorhersagen in Kombination mit den systematischen Abweichungen der Verteilungen der zweiten Ziffern in den Wahlergebnissen mehreren Präsidentschaftskandidaten eher auf Unregelmäßigkeiten bei dieser Wahl hin.

 

Bayern gegen Bremen

Duelle zwischen Bayern und Bremen kennt man vor allem im Fußball. Doch auch bei der Europawahl gibt es dieses Duell, vor allem im Unionslager. Während alle anderen Parteien mit bundesweit einheitlichen Listen zur Europawahl antreten, tritt die Union mit Landeslisten (also einer eigenen Kandidatenliste pro Bundesland) an. Dieser Umstand ist der CSU geschuldet – da sie in Bayern (und nur dort) antritt, muss auch die CDU in jedem einzelnen der übrigen 15 Länder mit einer eigenen Liste antreten.

Die Vergabe der Sitze erfolgt am Sonntag zweistufig: Zunächst auf die CDU insgesamt, dann – nach der Anzahl der pro Bundesland erhaltenen Stimmen – auf die einzelnen Landeslisten der CDU. Nun wird die CDU, das dürfte eine nicht allzu kühne Prognose sein – rund 35 der 99 deutschen Sitze am kommenden Sonntag gewinnen können. Dass einer davon von einem bremischen Kandidaten besetzt werden wird, ist aber nahezu ausgeschlossen. Zu klein ist der Anteil Bremens an der deutschen Bevölkerung (und damit auch innerhalb der CDU-Wählerschaft), nur 0,8 Prozent der Wahlberechtigten leben dort. Die CDU-Liste Bremens wird nicht zum Zuge gekommen, selbst ihr Spitzenkandidat wird nicht ins EP einziehen. Und das alles nur (ein wenig überspitzt formuliert) wegen der CSU. Bayern gegen Bremen – manchmal auch abseits des Platzes.

 

Europawahlen ohne Unionsbürger?

Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) wurde – zusätzlich zur Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes – die Unionsbürgerschaft eingeführt. Ein wichtiges Element dieser EU-Staatsbürgerschaft ist das Wohnortprinzip bei Kommunal- und Europawahlen. Es bedeutet, dass EU-Bürger auch in demjenigen Mitgliedsstaat der EU wahlberechtigt sind (und auch für das Europaparlament bzw. das lokale Parlament kandidieren können), in dem sie ihren Hauptwohnsitz haben. So können seit 1995 auch in Deutschland Unionsbürger an kommunalen und Europawahlen teilnehmen.
Inwieweit Unionsbürger von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen, wissen wir nicht genau. Für Kommunalwahlen gibt es zumindest aus einigen Städten (Berlin, Hamburg, Bremen, Stuttgart) verlässliche Zahlen. Sie zeigen, dass dort seit 1995 zwischen 15 und 27 Prozent der Unionsbürger die lokalen Parlamente mitgewählt haben. Es gibt jahres- und ortsabhängige Schwankungen, aber keinen klaren Trend einer Zu- oder Abnahme der Wahlbeteiligung von Unionsbürgern bei deutschen Kommunalwahlen. Über die Beteiligung der Unionsbürger an Europawahlen in Deutschland wissen wir noch weniger. Sicher ist jedoch, dass die Beteiligung erheblich geringer ist als bei Kommunalwahlen.
Dies hat mit einem unterschiedlichen Verfahren der Registrierung zu tun. Sind Unionsbürger bei Kommunalwahlen automatisch wahlberechtigt, so müssen sie sich für Europawahlen mindestens 21 Tage vor der Wahl registrieren lassen. Diese Frist ermöglicht es, diejenigen Unionsbürger, die in Deutschland ihre Stimme abgeben möchten, aus dem Wahlregister desjenigen Landes, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen (und dort automatisch wahlberechtigt sind), auszutragen. So soll verhindert werden, dass Unionsbürger zwei Stimmen abgeben – im Land des Wohnsitzes und im „Heimatland“.
Eine Registrierung aber ist eine erhebliche Hürde für die Beteiligung an einer Wahl und unterstreicht, dass Wahlbeteiligungsraten in Ländern mit grundsätzlicher Registrierung (z.B. USA) nicht ohne weiteres mit denjenigen in Ländern ohne Registrierung verglichen werden sollten. Für Unionsbürger und Europawahlen in Deutschland hat diese institutionelle Hürde Folgen: 1999 ließen sich in Deutschland 34.000 Unionsbürger ins Wählerverzeichnis für die Europawahl eintragen. Dies sind angesichts des damaligen Anteils von Unionsbürgern an der Bevölkerung (1,6 Mio.) gerade einmal 2%. Gemessen an allen Wahlberechtigten in Deutschland machten 1999 die Unionsbürger nur 0,05% aus. Im Jahr 2004 gab es eine Steigerung auf 133.000 (7% von 2 Mio.), die dann 0,2% der Wähler ausmachten.
Obwohl für 2009 noch keine bundesweiten Zahlen vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass auch diese Europawahl in Deutschland weitgehend ohne Unionsbürger stattfinden wird. Dennoch wählen etliche Unionsbürger bei Europawahlen; es scheint jedoch, dass weit mehr von ihnen in einem Konsulat oder der Botschaft ihres Heimatlandes wählen als ins „deutsche“ Wahllokal zu gehen. Wissenschaftliche Untersuchungen hierzu liegen nicht vor; auf der Grundlage journalistischer Reportagen kann man jedoch die Hypothese formulieren, dass die Europawahl im Konsulat als eine Art ethnisch-kulturelles Happening verstanden wird. So wird die Europawahl von vielen Unionsbürgern zwar in Deutschland, aber dennoch exterritorial begangen. Die Erfinder der Unionsbürgerschaft hatten sich dies anders vorgestellt. Auf dem Hintergrund dieser Praktiken sollte man vielleicht ernsthafter als bisher über europaweite Partei- und Kandidatenlisten nachdenken. Diese ließen sich, wie das Bundestagswahlsystem zeigt, durchaus mit regionalen oder lokalen Kandidatenlisten kombinieren. So könnte zum Beispiel eine in München lebende Griechin in einem Münchner Wahllokal sowohl für das europaweite Parteienbündnis ihrer in Griechenland präferierten Partei als auch für einen bayerischen Kandidaten stimmen. Der Gang ins Konsulat wäre dann nicht mehr notwendig – die Option, die Europawahl nach der Stimmabgabe als ethnisch-kulturelles Ereignis im griechischen Konsulat zu begehen, bliebe indes erhalten.

 

Mehr Demokratie wagen? Nein, wir haben schon genug…

Diese Forderungen sind populär und es verwundert nicht, dass auch Horst Köhler direkt nach seiner Wiederwahl in dieses Horn stößt: Man solle doch bitte schön den Bürger (noch) mehr entscheiden lassen: Der Bundespräsident solle demnächst direkt gewählt werden und die Bürger sollten bitte schön auch in anderen Fragen direkt entscheiden dürfen – ein Plädoyer für Volksbegehren, Volksentscheide und dergleichen.

Warum eigentlich? Unsere parlamentarische Demokratie bietet den Bürgern viele Möglichkeiten der Partizipation. Auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten können sie am politischen Prozess teilhaben: regional, lokal und europäisch sowie auf unterschiedliche Themen und Formate bezogen. In den letzten Jahren ist es der Politik jedoch immer weniger gelungen, Bürger hierfür zu begeistern. Austritte aus den Parteien und wenig Wahlbeteiligung – insbesondere auch auf kommunaler Ebene – waren die Folgen. Wie es in knapp zwei Wochen um die Wahlbeteiligung in Europa stehen wird, werden wir sehen.

Dies hat jedoch nichts mit einer mangelnden Engagement-Bereitschaft der Bürger zu tun. Aus der Sozialkapitalforschung wissen wir, dass Bürger durchaus bereit sind, sich zu engagieren – etwa im Sportverein, im Chor oder im Kindergarten. Schon einige wenige Zahlen verdeutlichen die Partizipationsbereitschaft der Deutschen: 6,5 Millionen Mitglieder zählt allein schon der Deutsche Fußball-Bund, knapp 500.000 Menschen sind ehrenamtlich im katholischen Wohlfahrtsverband der Caritas tätig und eine Allensbach-Umfrage aus dem letzten Jahr schätzt, dass ca. jeder fünfte Deutsche ehrenamtlich tätig ist.

Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht ein Mangel an Partizipationsmöglichkeiten. Es muss vielmehr die Aufgabe der Politik in den nächsten Jahren sein, das vorhandene Partizpationspotential auszuschöpfen. Die Bürger müssen den Weg vom Fußballplatz zurück in die Politik finden und verstehen, was das eine mit dem anderen zu tun hat…

 

Ein verfassungswidriges Zünglein an der Waage?

Wahlsystemfragen gelingt es nur selten, über einen eng umgrenzten Spezialistenzirkel hinaus öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Überhangmandatsklausel bildet dazu keine Ausnahme. Vermutlich hat mancher Beobachter sogar den Eindruck gewonnen, sie diene vor allem dazu, Institutionen der politischen Bildung eine Legitimationsgrundlage zu schaffen und Examenskandidaten verschiedener Studienfächer in Verlegenheit zu bringen. Im Juli 2008 jedoch bündelte diese Regelung das Interesse der Öffentlichkeit. Denn das Bundesverfassungsgericht verwarf das gültige Bundestagswahlsystem wegen des mit den Überhangmandaten zusammenhängenden Problems des so genannten „negativen Stimmgewichts“. Allerdings forderte es nicht eine umgehende Änderung des Wahlsystems, sondern gab dem Gesetzgeber dafür bis Ende 2011 Zeit. Diese Entscheidung begründete es vor allem mit der Komplexität der zu regelnden Materie.

Diese Entscheidung dürfte den Verfassungsrichtern umso leichter gefallen sein, als Überhangmandate bisher die Machtverteilung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit, also die zentrale Machtfrage in der parlamentarischen Demokratie, im Kern unberührt ließen. Aus der Tatsache, dass bislang noch keine Regierung ihre Mehrheit Überhangmandaten zu verdanken hatte, folgt freilich nicht, dass dies im Jahr 2009 ebenfalls so sein wird. Die Zukunft ist nicht notwendigerweise eine Fortschreibung der Vergangenheit. Dies gilt nicht nur für Aktien, die nach jahrzehntelang aufsteigender Tendenz binnen kurzer Zeit dramatisch an Wert verlieren, sondern auch in der Politik können sich die Verhältnisse grundlegend verändern.

Nimmt man – bei aller methodenbedingter Vorsicht – etwa momentane Umfrageergebnisse zum Maßstab, erscheint es beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass bei der Bundestagswahl 2009 Union und FDP zwar auf der Grundlage ihrer Zweitstimmenergebnisse keine parlamentarische Mehrheit erhalten, aber Überhangmandate für die Union eine christlich-liberale Mehrheit im Bundestag ermöglichen. Die neue Bundesregierung könnte somit ihre parlamentarische Mehrheit einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Regel verdanken. Es ist eine offene Frage, ob eine solche Regierung – getreu dem in verschiedenen parteipolitischen Konstellationen bewährten Grundsatz „Mehrheit ist Mehrheit“ – gebildet würde, wie es um ihr Ansehen und ihre Durchsetzungsfähigkeit bestellt wäre und ob auf juristischem Wege gegen sie vorgegangen würde. In jedem Fall hat das Bundesverfassungsgericht eine politisch delikate Konstellation geschaffen, die Anlass für manche Diskussion bieten dürfte.

 

Wahlpflicht? Nein, danke!

Der CSU-Politiker Stephan Mayer hat kürzlich die Einführung einer Wahlpflicht gefordert. Die BILD-Zeitung zitiert ihn mit der Aussage: „Es ist wichtig, dass möglichst jeder Bürger aktiv an der Demokratie teilnimmt“. Dem ist grundsätzlich nicht zuzustimmen.
Einer der Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes ist die Freiheit der Wahl – dem würde der Wahlzwang zuwider laufen. Auch Mayer erkennt diesen Punkt teilweise an – seine Lösung aber (Enthaltung als explizite Option auf dem Stimmzettel) kann nur teilweise überzeugen. Denn diese Option gibt es ja heute auch – niemand muss ein Kreuzchen auf dem Stimmzettel machen, selbst wenn er zur Wahl geht. Insgesamt ist die Möglichkeit zur Teilnahme an Wahlen einfach und egalitär. Wenn bestimmte Wählergruppen aus freien Stücken (und etwa mangelndem Interesse) auf die Ausübung ihres Wahlrechts verzichten – so what?

Auch funktionale Argumente sprechen dagegen: Studien aus Ländern mit Wahlpflicht zeigen, dass dort die Zahl ungültiger Stimmen relativ hoch liegt. Zudem stellt sich die Frage der Sanktionen: Ein Strafzettel für Nichtwählen? Schließlich zeigen Studien auch immer wieder, dass die Unterschiede zwischen Wählern und Nichtwählern nicht groß sind. Selbst wenn es sozialstrukturelle Unterschiede (nach Bildung oder Erwerbsstatus) gibt, so unterscheiden sich ihre politischen Einstellungen in geringerem Maße. Die Einführung einer Wahlpflicht wäre demnach eher symbolische Kosmetik.

PS: Die Gegenrede „Wahlpflicht? Ja, bitte!“ findet sich hier.

 

Wahlpflicht? Ja, bitte!

Der CSU-Politiker Stephan Mayer hat kürzlich die Einführung einer Wahlpflicht gefordert. Die BILD-Zeitung zitiert ihn mit der Aussage: „Es ist wichtig, dass möglichst jeder Bürger aktiv an der Demokratie teilnimmt“. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes, in ihrer repräsentativen Variante bedeutet dies, dass die Bürger diese Herrschaft – zeitlich befristet – auf Abgeordnete übertragen, die sich wiederum regelmäßig zur Wahl stellen müssen, um Rechenschaft abzulegen. Für die Legitimation der Abgeordneten, aber auch ihre Rechenschaftspflicht ist es wünschenswert, wenn sich möglichst alle Bürger an diesem Verfahren beteiligen. Der Einfluss der Bürger wird nämlich nur gleich und damit fair verlaufen, wenn alle Bürger den gleichen Einfluss ausüben können und dies auch tun. „Meaningful democratic participation requires that the voices of citizens in politics be clear, load, and equal“, so haben es die amerikanischen Politikwissenschaftler Sidney Verba, Kay Lehman Schlozman und Henry E. Brady in ihrem Buch „Voice and Equality“ einmal formuliert. Denn nur gleich laute Stimmen sichern demnach auch gleich starken Einfluss – Politiker sind schließlich rationale Akteure. Ihr Kollege V.O. Key hat schon 1949 ernüchtert bilanziert: „The blunt truth is that politicians and officials are under no compulsion to pay much heed to classes and groups of citizens that do not vote“.

Zugleich wissen wir aber aus zahlreichen Studien, dass die Wahlbeteiligung keineswegs gleich in der wahlberechtigten Bevölkerung verteilt ist. Arbeitslose Menschen etwa nehmen seltener an Wahlen teil. Ebenso Personen mit niedriger formaler Bildung. Sie (und ihre Interessen) sind damit im politischen Prozess weniger sichtbar. Dies ist im Fall von Arbeitslosigkeit – oder allgemeiner formuliert: im Fall von sozial Schwachen – besonders bemerkenswert, weil ihre Lebensgestaltung in überdurchschnittlichem Maße von staatlicher Regulation, aber vor allem Allokation abhängig ist. Arend Lijphart – noch ein Politikwissenschaftler – sieht darin sogar ein funktionales Äquivalent etwa zum preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht, welches heutzutage universell als undemokratisch abgelehnt würde, und fragt daher auch: „Why then do many democrats tolerate the systematic pattern of low and unequal turnout that is the functional equivalent of such rules?”. Die Einführung einer Wahlpflicht ist für ihn die Lösung. Stephan Mayer befindet sich also durchaus in guter Gesellschaft.

PS: Die Gegenrede „Wahlpflicht? Nein, danke!“ findet sich hier.

 

Köhler fordert mehr Rechte für die Wähler – warum eigentlich?

Bundespräsident Horst Köhler hat heute in einer Rede im Rahmen des Festakts „Frankfurt – Weimar – Bonn – Berlin, Deutschlands Weg zur Demokratie“ aus Anlass des 160. Jahrestages der ersten deutschen Verfassung eine Änderung des deutschen Wahlrechts ins Spiel gebracht. In seinem Redemanuskript heißt es:

„Wir sollten auch Änderungen des Wahlrechts diskutieren, die den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss darauf geben, welche Kandidaten auf den Wahllisten der Parteien ein Mandat bekommen – es müssen ja nicht immer nur die sein, die oben stehen.“

Natürlich sind Vorschläge, den Wählern mehr Einfluss zu geben und ihre politischen Einstellungen präziser und detaillierter zu erfassen, grundsätzlich zu begrüßen. Wahlsysteme, die den Wähler die Möglichkeit der „Präferenzstimmgebung“ einräumen,  gehören dazu. Wähler dürfen über die Parteipräferenz hinaus noch bestimmte Kandidaten auswählen.

Solche Systeme gibt es auch in der politischen Praxis schon – sowohl international als auch in Deutschland. Das Wahlsystem, das bei bayrischen Landtagswahlen zum Einsatz kommt, funktioniert in genau dieser Logik: Mit der Erststimme wählen die Bayern einen Direktkandidaten aus ihrem Wahlkreis, mit der Zweitstimme wählen sie einen einzelnen Kandidaten aus den von Parteien angebotenen Listen.

Und wie nutzen die bayrischen Wähler dieses System (das die Bayern übrigens ganz bescheiden als „verbesserte Verhältniswahl“ bezeichnen)? Sie machen von dieser Möglichkeit der Präferenzstimmgebung wenig Gebrauch. Die größten Nutznießer dieses Wahlsystems sind die Kandidaten, die auf Platz 1 der Liste stehen. Faktisch machen die Wähler aus dem kandidatenzentrierten Wahlsystem ein parteizentriertes Wahlsystem, indem die überwiegende Mehrheit von ihnen schlicht den erstbesten Kandidaten auswählt. Weitere Nutznießer sind „Prominente“ auf den Listen.

Warum machen die Wähler das? Sie gehen in effizienter Art und Weise mit dem Wahlsystem um. Viele Kandidaten werden sie nicht kennen (empirische Studien belegen das eindeutig), also nutzen sie einfache Entscheidungsregeln. Dafür ist ihnen überhaupt kein Vorwurf zu machen – nur ob diese Entscheidungsregeln „besser“ sind als die internen Entscheidungsregeln von Parteien, ist zumindest eine diskussionswürdige Frage.

 

Selbstaufgabe des Wahlrechts ist freiwilliger Verzicht auf die Demokratie

Gabor Steingart, „Spiegel“-Journalist und Buchautor, hat kürzlich seine „Ansichten eines Nichtwählers“ im Münchener Piper-Verlag veröffentlicht. Am 19. März konnte er bei Maybrit Illner im ZDF für seine streitbaren Auffassungen werben. Die berechtigte Kritik am Zustand der politischen Parteien in Deutschland und die Sorge um die deutsche Demokratie führten Gabor Steingart zu einer Konsequenz, die für Demokraten nur verstörend sein kann: Verzichten wir auf unser Wahlrecht! Denn wer wählt, stimmt zu. Der Nichtwähler hingegen sendet den Parteien ein anderes Signal, nämlich das der Enttäuschung und Unzufriedenheit. Wer die Parteien zu Veränderungen und Reformen zwingen wolle, bleibe der Wahlurne also besser fern.

Bitte? Ein Aufruf zum Wahlboykott? Wir hören und lesen immer wieder von Appellen, die Teilnahme an Wahlen zu verweigern. Nur erreichen uns solche Nachrichten aus Ländern, in denen oppositionelle Kräfte drangsaliert oder im politischen Wettbewerb systematisch benachteiligt werden, in denen Wahlen der Akklamation von Herrschaft und nicht der Legitimation von politischer Führung dienen. Der Boykott von Wahlen ist in einem unfreien Regime ein legitimes Mittel des Widerstands. In freiheitlichen politischen Systemen ist eine Aufforderung zum Boykott von Wahlen aber ein Aufruf zum Boykott der Demokratie. Denn regelmäßige, faire, freie, gleiche und geheime Wahlen sind das Herzstück einer Demokratie. Das weiß auch Gabor Steingart. Ansonsten würde sein Vorschlag, „den“ Politikern in Deutschland mit einer großen Wahlenthaltung einen Denkzettel zu verpassen, jeder Logik entbehren.

Gabor Steingart ruft die Deutschen dazu auf, freiwillig auf ihr gutes und wichtiges Recht zu verzichten, ihre politische Führung selbst aussuchen zu dürfen. In Deutschland wurde das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer erst 1919 eingeführt und von den Nazis nur wenige Jahre später wieder abgeschafft. Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist das allgemeine Wahlrecht in Deutschland nunmehr seit 60 Jahren garantiert. Historisch betrachtet ist das nicht mehr als ein Wimpernschlag. Die Ostdeutschen mussten auf dieses Recht sogar noch ein bisschen länger warten als die Westdeutschen und haben es sich vor 20 Jahren mit ihrem mutigen Aufbegehren gegen ein autoritäres Herrschaftssystem ertrotzt. Im Jubiläumsjahr der ostdeutschen Montagsdemonstrationen sendet Gabor Steingart damit ein Zeichen, das sich auch als ein Mangel an Respekt gegenüber der Tapferkeit vieler ostdeutscher Frauen und Männer interpretieren lässt, die für das Recht auf freie Wahlen viel und manchmal alles riskierten.

Die freiwillige Aufgabe des Wahlrechts ist kein Korrektiv, das die Parteien zur Reform zwingen könnte. Stattdessen wird freiwillig auf das Recht verzichtet, darüber mit zu bestimmen, wer uns regiert. Das ist gleichbedeutend mit einem Verzicht auf Demokratie. Offenbar dachten im Schnitt der vergangenen 20 Jahre 79 Prozent der deutschen Wählerinnen und Wähler genauso und gaben bei den fünf Bundestagswahlen, die in diesem Zeitraum stattfanden, ihre Stimme ab.