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Berlinale: De particulier à particulier

 

Was für ein im wahrsten Sinne des Wortes phantastischer Film! Das Mittdreißigerpaar Philippe und Marion aus Paris hat seine zwei Kinder zu den Großeltern gegeben und plant eine Reise nach Venedig. Doch auf einem Zubringerbahnhof fällt ihnen die geheimnisvolle Tasche eines Syrers mit einem schwer leserlichen Namensschild („Hotel Harabati?!“) in die Hände, die voller Geld ist. Sie beschließen die Reise nicht zu unternehmen, erzählen aber allen Bekannten und Familienmitgliedern, sie hätten die Reise doch gemacht. So weit, so linear.

Doch dann bricht die Geschichte auseinander. Marion holt Fotos vom Entwickeln ab und stellt fest, dass unter ihre Aufnahmen auch Aufnahmen aus Venedig gemischt sind. Waren sie doch in Venedig? Zur gleichen Zeit glaubt Philippe überall in der Stadt den geheimnisvollen Syrer zu sehen, dem die Tasche gehört.

Es folgt eine schleichende Dekonstruktion der Protagonisten und eine Entfremdung beider voneinander, die dafür sorgt, dass Marion sich mit den gemeinsamen Kindern zu Hause einigelt und Philippe sich mit einem jüdischen Opernsänger anfreundet. Doch plötzlich finden sie wieder zusammen – auf einem mysteriösen Berg. Mehr möchte ich nicht erzählen und mehr muss auch nicht erzählt werden.

Der Film ist ein tragisches und dabei oft berückend komisches Kaleidoskop, das in vielen Farben schimmert. An vielen Stellen bröckeln die Übergänge, wird vorher gezeigtes oder gesagtes revidiert, neu beleuchtet. Handelt es sich bei den Venedig-Fotos um eine schlichte Verwechslung? Schließlich war der Fotoladen ziemlich unordentlich. Ebenso das gefundene Geld in der Tasche, es sieht zunächst beeindruckend aus, entpuppt sich aber später als nahezu wertlos, da es sich um eine inflationäre Währung handelt. Oder die eingebettete Filmszene aus einer TV-Vorabendserie: Marion wird zunächst gezeigt, als sie diese Szene nachvertont (sie ist Synchronsprecherin), was viel Komik hat. Später im Film – als das Paar vorübergehend getrennt lebt – sieht Philippe ebendiese Szene beim abendlichen Herumzappen, hört die Stimme seiner Frau zu dem Gesicht einer amerikanischen C-Movie-Schauspielerin -und fängt an zu weinen.

Gibt es eine Message? Nein, viele. Es wird gezeigt, dass es immer mehrere Wahrheiten gibt. Dass vieles im Leben mehrdeutig ist. Eindrucksvoll wird die Familie als Keimzelle schönster und grausamster Emotionen gezeigt. Es gibt unfassbar schöne, intime Szenen, als die Familie gegen die Außenwelt zusammenrückt. Es gibt die stetig als Basso Continuo mitlaufende Bedrohung durch den zunehmenden Terrorismus (ein visionäres Drehbuch, es entstand deutlich vor dem 11. September 2001). Es geht um das Geheimnis Beziehung und ihren stets möglichen Wandel von Entfremdung zu tiefer Neubindung. Dieser Film hat mich sehr bewegt.

Der Regisseur war anwesend, obwohl es sich um eine Wiederholung handelte – und obwohl es sein 40. Geburtstag war.