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Eine wahre Berliner Geschichte

 

Es war Herbst geworden, regnerisch und kühl und ich hatte für das laufende Jahr Abschied genommen von der liebgewordenen Gewohnheit, des Morgens mit meinem Fahrrad ins Büro zu fahren. Es war ein prächtiger, ein guter Sommer gewesen. Federleicht war ich Werktag für Werktag mit dem Velo zu meiner Arbeitsstätte geschnurrt, hatte den Fahrtwind genossen, das schnittige Umkurven der im morgendlichen Stau steckenden Autos, die Wettrennen und wechselseitigen Überholvorgänge mit den Bussen der Linie 148.

Nun stand ich also an einem Septembermorgen in zartem Nieselregen an der Haltestelle „Kaisereiche“ und wartete auf meinen Bus. Unter den anderen Wartenden stach ein Mann hervor. Es war unmöglich den Blick von ihm zu wenden. Er sah so ungewöhnlich aus, dass ich mich gar nicht satt sehen konnte. Er mochte wohl südamerikanischer Herkunft sein, seine Haut war dunkel, aber nicht schwarz. Auch war er korpulent und von geringem Wuchs, er maß höchstens einen Meter und sechzig. Sein großer, birnenförmiger Kopf wurde von einer schwarzen, halblangen gewagt ondulierten und geölten Lockenfrisur eingerahmt. Die Lippen waren voll und hatten sich im Laufe der Zeit zu einem traurigen, um 90 Grad gedrehten Sichelmond verwachsen. Auf seiner relativ breiten, leicht eingedrückt wirkenden Nase thronte eine verstörend hässliche Brille, eine Art Pilotenbrille, goldfarben, deren Bügel sich, wie es eine Zeitlang in den Siebziger Jahren en vogue gewesen war, schwungförmig gebogen von unten an die riesigen, ovalen Brillengläser schmiegten, statt von oben.

Der Mann trug einen schlecht sitzenden, frisch gereinigten und gebügelten Dreiteiler von der Stange, ein schrill gemustertes, kunstseidenes Halstuch und eine etwas zu lange Krawatte in braun-gold-changierenden Farben. Seine Füße steckten in blitzblank gewienerten, cremefarbenen Italo-Slippern, es blitzten strahlend gelbe Strümpfe hervor. Er stand da und rauchte eine Zigarette, die in einer Zigarettenspitze aus Schildpatt steckte. Es ging etwas faszinierend Öliges von ihm aus. Aber auch ebenso eine Frösteln machende Verlorenheit, gepaart mit dem späten Stolz desjenigen, der in der Schule immerfort gehänselt worden war und nun aber einen Dreh gefunden hatte, das Leben zu meistern.

Der Bus kam. Ich stieg ein. Setzte mich auf das obere Deck. Der merkwürdige Mann nahm einen Sitzplatz auf dem unteren Deck ein. Ich entrollte meine Zeitung und vergaß den Mann.

Am nächsten Morgen stand er wieder da, gewandet wie am Vortag. Ich beschloss ihn Carlos zu taufen, das erschien mir ein passender Name. Carlos entnahm der Innentasche seines Sakkos eine Schachtel Silk Cut, klopfte bedächtig eine Zigarette heraus, führte sie in die Zigarettenspitze ein, die sich in der Westentasche befunden hatte, nahm die Spitze in den Mund und klopfte suchend seine Hosen-, Sakko- und Westentaschen nach einem Feuerzeug ab. Erfolglos.

„Brauchen Sie Feuer?“ – sagte ich und zog ein Feuerzeug heraus. Mit einer ganz hellen Stimme antwortete er, „Ja bitte“. Ich beugte mich ein wenig herunter, drückte den Piezo-Zünder des Feuerzeugs, Carlos kam ganz nah an mich heran, bildete mit beiden Händen eine Kuhle, um die Flamme vor dem Herbstwind zu schützen, wobei seine Fingerspitzen meine Hände berührten. Er hatte riesengroße Hände, größer als meine, und dabei war er mindestens zwei Köpfe kleiner als ich. Sie waren äußerst sorgfältig manikürt und rochen nach Gaultier Le Mal, ein obszöner, monströser Duft. Die Flammenspitze berührte die Zigarette, er zog, zog erneut, inhalierte tief und bedankte sich. Dann ging er einige Schritte nach rechts und wartete rauchend auf den Bus. Er tippelte dabei langsam von einem Fuß auf den anderen und zurück.

Im Bus überlegte ich, was Carlos’ Geheimnis war. Denn soviel war für mich klar – er musste irgendein düsteres Geheimnis haben. Die von ihm abgestrahlte Mischung aus expressionistisch überzeichneter Gepflegtheit und völliger modischer Geschmacklosigkeit, vereint mit einer fast aggressiv homoerotischen Ausstrahlung ließ nicht auf einen Menschen schließen, der ein normales Leben führte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer war mein Bild: Wahrscheinlich war er ein Stricher, der sich für besonders exotisch veranlagte homosexuelle Männer verdingte. Er stammte vermutlich aus bettelarmen Verhältnissen, hatte aufgrund ständiger Hänseleien eine grausame Kindheit hinter sich, war auf verschlungenen Pfaden nach Deutschland gelangt, wo er aus einer Notsituation heraus einem reichen Freier zu Diensten sein musste, und war dann in diesem Job hängen geblieben.

Der Herbst ging ins Land, fast jeden Morgen sah ich Carlos an der Bushaltestelle stehen, wir zwinkerten uns zu, wenn wir uns sahen, grüßten einander flüchtig, mal gab er mir Feuer, mal ich ihm. Aus dem Herbst wurde Winter. Es kam die Weihnachtszeit, der Jahreswechsel, das neue Jahr. Ich hatte einige Tage Urlaub und stellte in der ersten Januarwoche fest, dass Carlos morgens nicht mehr an der Haltestelle stand. Was mochte aus ihm geworden sein? War er tot? AIDS? Ein Sexualverbrechen? War er abgeschoben worden in seine Heimat? Verschleppt oder ausgeraubt? Ich war betrübt. Hätte ich doch wenigstens einmal mit ihm geredet, wäre ich doch hinter sein Geheimnis gekommen!

Es kam der Frühling. Es war Mai geworden. Morgens nach der Rasur stellte ich fest, dass mein Rasierwasser aufgebraucht war. Ich nahm mir vor, in der Mittagspause die Parfümerie im Quartier 206, einem auf fein getrimmten Einkaufscenter in der Berliner Friedrichstraße aufzusuchen und einen neuen Flacon Xeryus Rouge zu kaufen. Und genau so machte ich es auch. Nachdem ich mittags das Parfum gekauft hatte, streifte ich noch ein wenig durch das Untergeschoss des Quartier 206 und besah die Auslagen der Modehäuser. Kurz bevor das Quartier 206 in das Quartier 205 übergeht, kommt man in eine Art Atrium, das bestuhlt ist wie ein Hotelfoyer; schwere, plauzige Sessel auf schwarz-weißem Marmorboden, in der Mitte des Atriums eine große Bar. Ich hatte Lust auf einen Espresso und nahm in einem der Sessel Platz. Gerade, als ich meine Bestellung aufgegeben hatte, ertönte Klaviermusik. Irgendwo in diesem riesigen Atrium musste ein Pianist spielen, er gab Brahms Intermezzo in A-Dur, op 118. Nr.2. Ich bestellte hastig ein Glas Wein hinterher, welches wenige Sekunden später gereicht wurde, nahm einen großen Schluck und genoss die Wechselwirkung zwischen dem Koffein und dem Alkohol, getragen auf einer Woge unendlicher Sehnsucht, die die Sextvorhalte in dem Brahms-Intermezzo in mir auslöste. Der Pianist spielte das Stück überragend gut. Den Mittelteil in Fis-Dur intonierte er zügig, fast scherzhaft, um die subito folgende, klagende Mollpassage umso gramgebeugter, verlorener und trauriger zu spielen. Ich war der einzige, der dies wahrnahm. Um mich herum das Rauschen und Brummen der Business-Lunch-Deppen, das schrille Gelächter törichter Boutiquenverkäuferinnen in ihrer Mittagspause, das gleichmäßige Gebrabbel hypertonischer Frühstücksdirektoren, das feindliche Fauchen der Milchaufschäumdüse an der Bar. Ich, ich nahm es wahr, ich hörte den Brahms tief in mir widerhallen, ich verwandelte mich in einen Mensch gewordenen Tunnelblick und es war mir, als seien die Klaviersaiten direkt über meine Seele gespannt.

Das Stück endete. Ich zahlte. Ein neues Stück begann, eine gut abgehangene Jazznummer. Ich stand auf und ging in Richtung der Musik. Hinter einer großen, rechteckigen Säule entdeckte ich den Pianisten. Es war Carlos.

Es war Carlos.

Er zwinkerte mir zu und bedeutete mir per Augensprache zu bleiben. Zu warten. Er spielte mit der linken Hand einen Walking Bass, hob die rechte Hand, zeigte mit dem Zeigefinger erst auf mich und auf ihn selbst und deutete dann mit seinem Daumen auf seinen Mund. „Komm, wir trinken gleich einen“, sollte das wohl heißen.

Ich spürte plötzlich einen Brechreiz, nahm die Rolltreppe hoch ins Erdgeschoss. Ließ mich vom Menschenstrom aus dem Quartier 206 wehen, durch geöffnete Flügeltüren und stand plötzlich auf der sonnenbestrahlten Friedrichstraße. Atmete tief ein. Und aus. Und ein.

Dann lachte ich.