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Europa scannt seine Illegalen

 

Im Keller des Hauses einer Bekannten hier in Brüssel, in einem kleinen, fensterlosen Kabuff neben der Waschküche, lebt eine Südamerikanerin. Ihr Name steht nicht an der Haustür. Sie bügelt Hemden für einige der Nachbarn, bei anderen putzt sie. Für 10 Euro die Stunde. „Eigentlich ganz schön teuer für eine Illegale“, belehrte eine Mitbewohnerin meine Bekannte kurz nach dem Einzug.

Im belgischen RTL-Fernsehen trat unlängst ein Mann namens „Alex“ auf, der sich als Sprecher des Kommites für illegale Einwanderer zu erkennen gab. Er gab zu, ein Schwarzarbeiter zu sein. Der Moderator wollte von ihm wissen, ob er sein Chef Steuern und Sozialabgaben für ihn abführen würde, wenn er einen Aufenthaltstitel besitzen würde.

„Alex“ wirkte daraufhin etwas perplex. „Nein“, sagte er dann. „Ich bin mein eigener Chef. Ich habe sieben Angestellte.“

Unter anderen um solche Schattenwirtschaft künftig zu unterbinden, will Europas Sicherheitskommissar Franco Frattini jetzt allen Nicht-EU-Bürgern bei der Einreise in den Schengenraum biometrische Daten abnehmen.

In dieser Woche stellt Frattini seine Vorschläge zur verbesserten Einreisekontrolle vor. Er reagiert damit auf die Kehrstehe der inneuropäischen Reisefreiheit. Da die Grenzkontrollen zwischen den mittlerweile 22 Ländern des Schengenabkommens von 1995 weggefallen sind, haben die Behörden kaum noch eine Chance nachzuvollziehen, wo – und vor allem wie lange – sich Nicht-EU-Bürger in Europa aufhalten.

Bis 2015, schlägt Frattini nun vor, soll ein Einreiseregister erstellt werden, in dem Finger- und Gesichtsabdruckdaten von allen Einreisenden aus Drittstaaten gespeichert werden könnten.
Die Idee des Kommissars klingt erst einmal böse.
Biometrische Erfassung? Mit so etwas quälen doch nur terrorhysterische Amerikaner unschuldige Europäer!

In dieser Tonlage jedenfalls reagierten umgehend die europäischen Grünen. Die „massive Anhäufung von Daten nach dem Vorbild der USA“ werfe schwere bürgerrechtliche Bedenken auf und stehe in keinem Verhältnis zu ihrem Ertrag. „Um zu wissen, wie viele legal eingereiste Besucher illegal in der EU bleiben, reicht auch ein Papierformular“, schreiben die Grünen in einer Pressemitteilung. Als würden die Betreffenden dergleichen ausfüllen. Zudem geht es nicht darum zu wissen, wie viele Menschen illegal in der EU bleiben. Sondern darum, diese Zahl zu senken.

Hat Europa – gerade wenn es seine Reisefreiheit im Inneren aufrechterhalten will – schließlich nicht ein berechtigtes Interesse daran, kontrollieren zu können, wer sich in seinen Grenzen aufhält? Wenn Einreisende künftigt Fingerabdrücke hinterlassen müssten, gäbe dies den Behörden immerhin die Möglichkeit, notfalls auch ohne Personaldokumente überprüfen zu können, ob der Aufenthalt von Zugereisten (noch) legal ist.
Die große Mehrheitsmeinung aller euopäischen Regierungen ist es, Zuwanderung nur dann zuzulassen, wenn es entweder um hochqualifizierte Manager oder Facharbeitskräfte handelt, um echte Asylsuchende oder es darum geht, Familien zusammen zu führen.

Einmal in den Schengenraum eingereist können illegale Einwanderer oder Kriminelle bisher, wenn sie es denn darauf anlegen, trefflich verstecken spielen mit den Sicherheitsbehörden. Droht ihr dreimonatiges Visum für ein Mitgliedsland der EU abzulaufen, können sie sich unbemerkt in ein Nachbarland absetzen, wo sie dann untertauchen oder schwarz arbeiten. „Overstayers“ heißen diese Kandidaten im Behördenjargon. Die Süddeutsche Zeitung zitiert heute Schätzungen, wonach sowohl in Amerika wie auch in Europa 40 bis 50 Prozent aller illegalen Einwanderer auf diese Weise unerlaubt im Land bleiben.
Die EU-Kommission geht davon aus, dass dies im Jahr 2006 etwa 8 Millionen Menschen waren, 80 Prozent davon im Schengen-Raum. „Uns geht es wie dem Hotelmanager, der zwar sieht, wie seine Gäste einchecken, aber nicht mitkriegt, ob sie auch wieder ausreisen“, zitiert die SZ weiter Frank Paul, der bei der EU-Kommission zuständig ist für die technische Grenzkontrolle.
Die EU will bis 2013 170 Millionen Euro ausgeben, um ihre 91 000 km langen Land- und Seegrenzen dichter zu kontrollieren.

Möglich ist natürlich auch, dass Einwanderer später einfach den Pass wegwerfen, mit dem sie eingereist sind. Dann ist für die Behörden nicht nachvollziehbar, wann sie eingereist sind und wie lange sie sich schon – wie etwa so manche Kellerbewohnerin in Brüssel – in Europa aufhalten.

Oder aber sie sind – die bedenklichste Variante, wenn sie weniger harmlosen Beschäftigungen nachgehen wollen als Hemdenbügeln – schon mit gefälschten Dokumenten eingereist. Auch dann können sie sich ungestört von Madrid bis Warschau bewegen. Schengen ist eben auch für dunkle Geschäftsmänner ein Geschenk.
„Die einzigen, die vom Binnenmarkt in vollem Umfang profitieren, sind die Gangster und Banditen. Die haben verstanden, dass sie ihr Gewerbe über ganz Europa ungehindert ausdehnen können“, sagt selbst Mr. Maastricht, der luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker.

Deswegen sollte es nicht gleich sämtliche vorhersehbaren Abwehrreflexe auslösen, wenn Frattini ein „Entry-Exit-System“ fordert.

Die Frage ist aber in der Tat, ob seine Ideen verhältnismäßig sind.

Sämtlichen Einreisenden Fingerabdrücke abzunehmen, auch solchen, die kein Visum benötigen, ist ein schwerwiegender Eingriff in die Bürgerrechte und öffnet zahlreichenden Missbrauchsmöglichkeiten die Tür (siehe die treffende Argumentation von Juli Zeh in ihrer Verfassungsbeschwerde gegen den „ePass“). Kann die EU wirklich sicher stellen, dass die Fingerabdrücke nicht in die falschen Hände geraten? Gibt es keine mildere Mitteln, um denselben Effekt zu erzielen? Zum Beispiel, Einreisende einfach zu fotografieren und sie eine Schriftprobe abgeben zu lassen? Könnte es womöglich auch helfen, wenn die EU sich – darauf weisen die Grünen heute zu Recht hin – konzertierter mit einer vernünftigen Einwanderungspolitik beschäftigen würde?

Mit seiner Idee einer Bluecard für Europa stieß Frattini allerdings im Herbst vergangenen Jahres auf den geballten Widerstand der großen Mitgliedsstaaten.

Die Frage ist also: Wie repressiv darf die EU gegenüber Nicht-Europäern auftreten, um ihre innere Freiheit zu schützen?
Diese Frage stellen wir beständig Richtung Amerika.
Warum stellen wir sie zur Abwechslung nicht einmal uns selber?

Schließlich sind, wie die belgische Ministerin für Migration, Annemarie Turtelboom am 30.Mai 2008 in der IHT feststellte, „in den vergangenen Jahren mehr Einwanderer nach Europa gekommen als in die USA und nach Kanada zusammen. Es halten sich derzeit schätzungsweise acht Millionen illegale Einwanderer auf dem Kontinent auf, etwa zwei Drittel mehr als in Nordamerika.“ Für das, was sie hier oft erwartet, findet die Ministerin drastische Worte: „Wenn ein Sohn Afrikas Europa erreicht, wird er meist eine illegale Unterkunft von Dickenscher Verkommenheit finden, die gewöhnlich von einem skrupellosen Immigranten unterhalten wird, der viele Jahre hergekommen ist. Für seine Arneit wird er zwischen 2 und 3 Euro erhalten, zumeist in irgend einer dreckigen, illegalen Fabrik. Um ihre Kinder zu ernähren, müssen sich Frauen um einen Job als Haushaltshilfe bemühen oder sich sogar der Prostitution zuwenden.“

Über Frattinis Vorschlag müssen übrigens die Innenminister aller EU-Länder entscheiden, und zwar mit Einstimmigkeit. Sollten die nationalen Parlamente etwas gegen die Pläne haben, dann sollten sie sich also ganz schnell zu Wort melden.

Die belgische Ministerin hat einen Vorschlag für eine klare Priorität: „Wir sollten als erstes dafür sorgen, dass die Anzahl der legalen Einwanderer höher wird als die der illegalen.“