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Blackbox Brüssel

 

Die Bundesregierung möchte an diesem Freitag wichtige Vorschriften des Strafprozessrechts ändern. Sie sagt der Öffentlichkeit allerdings nicht, welche genau. Denn die Änderungen sollen über die Bande des Brüsseler EU-Rats nach Deutschland gespielt werden. Und da gelten leider andere Transparenzregeln als im Bundestag. Zum Beispiel die, dass die Angelegenheit vorerst nicht für die Presse bestimmt ist.

Darum geht es: Der Europäischen Haftbefehl erleichert bereits heute die Auslieferung Verdächtiger bei bestimmten schweren Straftaten innerhalb der EU. Allerdings sind noch ein paar Verfahrensregeln offen. Diejenige zum Beispiel, wie die 27 Mitgliedsstaaten mit Strafurteilen umgehen wollen, die in dem einen oder anderen Land in Abwesenheit des Angeklagten ergangen sind.

Zwar werden schon seit dem Rat von Tampere 1999 innerhalb Europas Geldstrafen und Gerichtsbeschlüsse wechselseitig anerkannt. Doch das Strafprozessrecht, eine hochgradig grundrechtsrelevante Materie, ist in den EU-Mitgliedsländern noch immer höchst unterschiedlich ausgestaltet. Von der unterscheidlichen Integrität der Justizapparate ganz zu schweigen. Gleichwohl soll auch hier „harmonisiert“ werden, wie es im EU-Sprech heißt. Leider heißt das in der Praxis bisweilen, dass die europäischen Regierungen nur so tun, als herrschten überall vergleichbare Standards.

Möchten wir wirklich, dass in Italien, Bulgarien oder Rumänien erwirkte Strafurteile in Deutschland anerkannt werden, selbst wenn der Angeklagte (vielleicht ja mal ein deutscher Staatsbürger) gar nicht im Prozess anwesend war? Möchte das die Bundesregierung?

Offenbar. Denn laut Auskunft aus der EU-Kommission hat sie zusammen mit unter anderem Frankreich und Großbritannien die Initiative zu in absentia-Urteilen in den Europäischen Rat eingebracht.

Es droht eine Aufweichung deutscher Prozessrechtsgarantien durch die Hintertür.

In Deutschland ist ein Prozess gegen einen abwesenden Angeklagten nur in eng umrissenen Ausnahmefällen möglich (der Grundsatz der deutschen Strafprozessordnung lautet: „Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.“, § 230 Abs. 1). Unbedingte Freiheitsstrafen in Abwesenheit zu verhängen, ist in Deutschland gänzlich undenkbar. Abwesenheitsurteile, die im Ausland ergangen sind, werden in Deutschland bisher ebenfalls nur in seltenen Ausnahmefällen und nach intensiver Einzelfallprüfung anerkannt; zum Beispiel dann, wenn ein Angeklagter nach einem Geständnis vor der Gerichtsverhandlung geflohen ist.

Nun aber sollen nach der Vorstellung der slowenischen Ratspräsidentschaft Abwesenheitsurteile in allen Mitgliedsstaaten vollstreckbar werden. Im Vorschlag der slowenischen Ratspräsidentschaft heißt es:

Once adopted, the Framework Decision will overcome legal uncertainty over the mutual recognition of judgments rendered in the absence of the person concerned (in absentia). In addition to new information obligations, the text will establish that member states should recognise judgments rendered in the absence of the person concerned where he or she has been given a right to a retrial.

Mit anderen Worten: Solange der Angeklagte die Möglichkeit hat, später in Berufung zu gehen, sollen Abwesenheitsurteile gegen ihn erlaubt sein. – Dies wäre für deutsche Staatsbürger ein eklatanter Rückschritt im Rechtsschutz.

Welche Legislativvorschläge die Bundesregierung nun genau in die Ratssitzung am Freitag einbringen will, ist trotz dreifacher Nachfrage beim Bundesjustizministerium nicht zu erfahren.

Ein dortiger Pressesprecher gibt lediglich die Auskunft, die Bundesregierung strebe eine „Stärkung der Bürgerrechte“ an. Wie die Bürgerrechte allerdings stärker geschützt werden können als die durch bisherige Praxis der Einzelfallprüfung, kann der Sprecher nicht erläutern. Er bittet, die Pressekonferenz nach der Ratstagung abzuwarten.

Auf den Einwand, es sei aber wichtig zu wissen, was die Bundesregierung plane, bevor diese Ideen im Rat abgesegnet werden, entgegnet der Sprecher, das könne er verstehen. Helfen könne er aber nicht.

Verglichen mit Deutschland wäre das ungefähr so, als würde eine der großen Fraktionen im Bundestag der Öffentlichkeit den Inhalt eines Gesetzes vorenthalten, über welches das Parlament noch in dieser Woche abstimmen will. Mit anderen Worten: undenkbar. Die Auswirkungen des in Rede stehenden Brüsseler Verfahrens sind aber fast diesselben wie nationale Gesetzgebung. Denn wenn der Rat dem Rahmenbeschluss zu den Abwesenheitsurteilen zustimmt, dann müssen dessen Anweisungen in nationales Recht gegossen werden – egal ob der Bundestag dies möchte oder nicht.

Die Öffentlichkeit hatte damit nicht die Möglichkeit, potentiell einschneidende Veränderungen im deutschen Strafprozessrecht kritisch zu diskutieren.

Der Sprecher des Ministerium sagt, er verstehe, dass die Lage aus Sicht eines Journalisten „jetzt unbefriedigend“ sein müsse. Aber das führe dann zu einer „Grundsatzdiskussion“ über europäische Rechtssetzung.

Das tut sie in der Tat. Denn solche Mauschelmethoden sind Mitschuld daran, dass die Gesetzgebung aus Brüssel in den Ruf geraten ist, unter dem Radarschirm der Öffentlichkeit durchgedrückt zu werden. Falls der Lissabon-Vertrag, die ehemalige „Europäische Verfassung“, am 1. Januar 2009 in Kraft tritt, wird sich immerhin eines ändern: Die Ratssitzungen der Minister werden öffentlich.

Überrollt werden von innovativer Rechtspolitik kann die Öffentlichkeit dann freilich auch weiterhin. „Wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen, uns von lieb gewordenen Rechtsstandards zu verabschieden“, sagt der FDP-Europaabgeordnete Alexander Alvaro.

Müssen wir das? Was wäre eigentlich im deutschen Blätterwald los, wenn ein Bundesminister einen solch deutlichen Satz von sich geben würde?