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Europäisch, föderal, unkaputtbar

 

Warum Belgien auch ohne Regierung funktioniert

Harry, der englische Killer mit Sinn für das alte Europa, steht hoch auf dem gotischen Glockenturm und schaut versunken hinunter auf den märchenhaften Marktplatz von Brügge. „Bloß schade, dass das Städtchen in Belgien liegt“, flüstert er – und runzelt die Stirn. „Aber wenn’s nicht in Belgien wäre, wenn’s irgendwo gut gelegen wär’, würden viel zu viele Menschen kommen, um es zu sehen. Und das würde alles versauen.“

Ein herzliches Lachen wogt durch den Brüsseler Kinosaal. Die Belgier wissen schon: Ihr Land gilt als irgendwie dauerbewölkt, politisch wie meteorologisch, und die ausländische Gleichgültigkeit gegenüber dem kleinen Pralinen-Königreich ist nicht nur verzeihlich, weil sie Ralph Fiennes (in der Gangsterschnurre Brügge sehen… und sterben?) so liebevoll ausspricht. Sondern auch, weil viele Belgier sie selber pflegen. Jedenfalls solange es ums politische Theater geht.

Seit über 400 Tagen fehlt dem Land nun schon eine Zentralregierung. Ein Versuch nach dem anderen von Premierminister Yves Leterme, die flämischen Parteien im Norden mit den frankophonen Wallonen im Süden unter neuen föderalen Regeln zusammenzuschweißen, schlug fehl. König Albert II. sieht einstweilen keinen anderen Ausweg, als Leterme ans Amt zu ketten und einen Weisenrat einzuberufen. Dem gemeinen Untertanen indes scheint die Lage kaum Sorge zu bereiten. Warum auch, alle staatlichen Vitalfunktionen zeigen schließlich Normalwerte. Der Müll wird abgeholt. Die Polizeiautos haben Sprit. Die Züge fahren, die Banken haben geöffnet, und die Beamten geben sich gelassen wie immer. Die Staatskrise, mit einem Wort, wirkt ziemlich theoretisch.

Um zu verstehen, warum Belgien trotz fehlender Führung partout nicht herunterkommen will, stellt man sich das Land am besten als dicken Blätterteig vor, mit einer hauchdünnen Schinkeneinlage in der Mitte. Die Brüsseler Zentralregierung ist – zum einen – weich gebettet auf einen Regionenföderalismus, gegen dessen Vielschichtigkeit das deutsche Modell geradezu unraffiniert erscheint. Und zum anderen wölben sich von oben die Gesetzeskonvolute der EU über das Land. Dazwischen bleibt ein Hauch bundesstaatlicher Kompetenz.

Die Gliedstaaten Flandern, Wallonie, die Hauptstadt Brüssel sowie mehrere Kultur- und Sprachgemeinschaften verfügen über jeweils eigene Parlamente und Regierungen, die weit reichende Eigenregelungen treffen können. Sie reichen von der Bildungs- bis zur (sic!) Außenpolitik. Flamen und Wallonen haben jeweils eigene Diplomaten im Ausland, die sich vor allem um die Handelspolitik kümmern.

Selbst die Deutschsprachige Gemeinschaft im Osten des Landes, sie umfasst gerade einmal 75 000 Menschen, besitzt eine eigene Regierung und ist ermächtigt, im begrenztem Umfang völkerrechtliche Verträge mit anderen Staaten abzuschließen. Ihr Ministerpräsident, der 56jährige Karl-Heinz Lambertz, zählt ein paar auf: Kulturabkommen mit Frankreich, Kooperationsabkommen mit Ungarn, mit NRW… „Wenn in Belgien eine Ebene zuständig ist, ist sie komplett zuständig“, sagt Lambertz. „Hier hängt nicht, wie im deutschen Föderalismus, das eine vom anderen ab. Deswegen kann alles eine Weile lang nebeneinander her laufen.“

Und dann wäre da natürlich noch das Regel-Korsett, das die EU jedem ihrer Mitgliedsländer überzieht. Wie stark die Verordnungen und Richtlinien aus der Brüsseler Kommission die nationalen Rechtsstrukturen mitprägen, ist präzise zwar nicht messbar. Denn während einige Bereiche – etwa die Agrarpolitik – umfassend aus Brüssel gesteuert werden, hat die EU-Zentrale auf anderen Felder – etwa der Steuerpolitik – kaum etwas mitzureden.

Doch im direkten Zahlenverhältnis produziert die Union beeindruckend mehr Rechtsakte als die Nationalstaaten selbst. Zwischen 1998 bis 2004 hat die EU 18167 Verordnungen und 750 EU-Richtlinien erlassen. Zum Vergleich: Der deutsche Bundestag und sämtliche Ministerien verkündeten im selben Zeitraum 1195 Gesetze sowie 3055 Rechtsverordnungen.

Belgien nun benötigt nicht einmal eine Zentralregierung, um sich am Zustandekommen von EU-Gesetzen zu beteiligen. „Im europäischen Ministerrat wird die Vertretung Belgiens oft durch die regionalen Minister wahrgenommen“, berichtet Lambertz Und umgesetzt würden die EU-Akte ohnehin zu einem großen Teil von den Regionalregierungen. Fazit laut Lambertz: „Das läuft schon.“

Wirtschaftlich kommt die stabilisierende Wirkung des Euro hinzu. Rik Coolsaet, ehemaliger Regierungsberater und heute Politikprofessor an der Universität Gent, glaubt, die belgische Volkswirtschaft sei allein deswegen noch nicht in den psychologischen Sog der Krise geraten, weil es die starke europäischen Gemeinschaftswährung gibt. Würde Belgien noch mit dem Franc handeln, ist er sicher, wäre der längst abgeschmiert – und die Politiker hätten echten Grund zur Eile.

„Echte eigene Kompetenzen hat die Zentralregierung ja eigentlich nur noch in der Verteidigungs- und in der Richtungsbestimmung der allgemeinen Außenpolitik“, bilanziert Coolsaet. „Im täglichen Leben fällt es deswegen kaum auf, wenn es sie nicht gibt.“

Das Problem sei allerdings, dass Belgien derzeit weder wichtige Richtungsentscheidungen treffen, noch eine strategische Außenwirtschaftspolitik betreiben könne. Das Land müsse dringend seine Sozialsystem reformieren, wofür es einen Konsens in der Bundesregierung unerlässlich sei. „Außerdem drohen wir handelspolitisch in die Irrelevanz abzugleiten. Holland und Deutschland greifen in den aufsteigenden Ländern von Südamerika bis China gerade die Marktanteile ab, die Belgien haben könnte.“
Ohne Zentralregierung ließe sich im Ausland eben doch nicht jede Tür öffnen. „Vielleicht“, sagt Coolsaet, „bemerken die Leute erst, dass wir in einer Krise stecken, wenn die ersten Jobs im Exportgewerbe verloren gehen.“