Die Landreform ist in China das große Thema überhaupt. Das hat Gründe: Denn will ein Entwicklungsland den Schritt hin zu einem entwickelten Land machen und der Landbevölkerung einen ähnlichen Lebensstandard ermöglichen wie den Menschen in den Städten, muss sie den Anteil, der tatsächlich von Agrarwirtschaft lebt, auf unter zehn Prozent senken. So lautet zumindest die gängige Definition. In Deutschland beträgt der Anteil von Bauern unter drei Prozent. Ihr Anteil der Bruttowertschöpfung liegt sogar nur bei einem Prozent.
Von diesem Ziel ist die Volksrepublik aber noch sehr weit entfernt. Knapp die Hälfte der 1,3 Milliarden Chinesinnen und Chinesen lebt nach wie vor von der Landwirtschaft. Das ist viel zu viel und lässt sich auch an den Zahlen ablesen, die Chinas Akademie der Sozialwissenschaften (CASS) nun veröffentlicht hat. Diesen Zahlen zufolge klafft die Einkommensschere zwischen den Bauern auf dem Land und dem der Chinesen in den Städten immer weiter auseinander. Ein Städter verfügt inzwischen ein fünfmal so hohes Einkommen wie die Menschen auf dem Land. Selbst ein Wanderarbeiter verdient im Schnitt noch immer doppelt so viel wie Bauern, die weiter ihr Land bestellen. Dieses Gefälle ist im Vergleich zu 1997 um 26 Prozent gestiegen, im Vergleich zu 1985 sogar um 68 Prozent.
Eine weitere Studie belegt, dass der Gini-Koeffizient in China sich inzwischen ganz gefährlich der kritischen Marke von 0,4 nähert. Der Koeffizient misst die Kluft zwischen Arm und Reich in einem Land (liegt der Wert bei null, herrscht völlige Gleichheit, bei 1 völlige Ungleichheit). In China liegt er offiziellen Angaben zufolge aktuell bei 0,3949. Unter Experten wird davon ausgegangen, dass ab einem Wert von 0,4 die Gefahr sozialer Unruhen zunimmt. Anders als in anderen sich noch entwickelnden Ländern gibt es in chinesischen Städten zwar keine Slums. Die Armut herrscht in China aber auf dem Land.
Um diese Armut auf dem Land zu bekämpfen, hat sich die chinesische Regierung bereits vor einiger Zeit zum Ziel gesetzt, die Landbevölkerung zu „urbanisieren„. Das heißt: Der Großteil soll ihr Leben als Städter mit Arbeit in der Industrie- und im Dienstleistungssektor bestreiten und nicht über das Beackern von Feldern. Da viele der existierenden Großstädte vor allem an der Küste aber bereits an ihre Grenzen stoßen, was die Infrastruktur betrifft, entstehen im Landesinneren neue Städte. Mit einigem Erfolg: In den vergangenen 20 Jahren ist der Anteil der Stadtbevölkerung von damals 20 Prozent auf nun über 50 Prozent gestiegen.
Um aber eine weitere halbe Milliarde Menschen zu verstädtern und auf einen Anteil von über 90 Prozent zu kommen, muss die Regierung der CASS-Studie zufolge in den kommenden 20 Jahren weitere gigantische acht Billionen US-Dollar aufwenden. So viel also soll die größte Völkerwanderung der jüngeren Geschichte kosten.