Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Chinas neue Wutbürger begehren auf

 

Demonstranten in Ningbo © AFP/Getty Images
Demonstranten in Ningbo © AFP/Getty Images

Wütende Bürger, umgekippte Autos, ein Großaufmarsch der Polizei. Die Bilder, die dieser Tage tausendfach im Netz kursieren, sind auf den ersten Blick nichts Besonderes. Sie zeigen die Proteste in Ningbo, einer Hafenstadt im Osten des Landes, keine 100 Kilometer von Schanghai entfernt. Die Bürger gehen dort auf die Straße, um gegen den Bau einer neuen Raffinerie zu protestieren.

Solche Demonstrationen sind in China mittlerweile an der Tagesordnung. Jedes Jahr gibt es mehr als hunderttausend Demonstrationen, rechnete unlängst die Akademie für Sozialwissenschaften in Peking vor. Meist richtet sich der Volkszorn gegen Zwangsräumungen, umweltschädliche Großanlagen oder Behördenwillkür.

Was den Protest der vergangenen Tage besonders macht, ist der Ort: Ningbo ist eine besonders wohlhabende Stadt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt hier bei mehr als 1.000 Dollar im Monat – weit über dem Durchschnitt des Landes. Die Protestbilder und Kurznachrichten im Netz lassen deutlich erkennen, dass es sich bei den meisten Demonstranten um Angehörige einer Mittelschicht handelt, die immer souveräner auftritt.

Die Demonstranten hatten zunächst mehrere Tage lang friedlich gegen die geplante Anlage protestiert. Die Fabrik soll im dicht besiedelten Stadtteil Zhenhai entstehen und sie soll unter anderem das krebserregende Paraxylol produzieren. Dabei handelt es sich um einen Basisstoff, der auch zur Herstellung von Plastik verwendet wird. Um die Fabrik bauen zu können, sollen einige Tausend Menschen umgesiedelt werden. Auch dagegen richtet sich der Protest. Berichten zufolge setzte die Polizei in der Nacht zum Sonntag Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Demonstranten auseinander zu treiben. Daraufhin eskalierte die Situation. Augenzeugen berichten von Demonstranten, die eine Polizeiwache mit Steinen bewarfen. Die Polizei wiederum schlug mit Knüppeln zu. Dutzende sollen verletzt worden, ein Mensch sogar gestorben sein.

Die Kommunistische Partei und die Behörden sind dieser Tage besonders nervös. Auf dem 18. Parteikongress wird erstmals seit einem Jahrzehnt ein Wechsel an Chinas Führungsspitze eingeleitet. Die Behörden haben zuletzt noch mehr kritische Internetseiten als sonst blockiert. Die Zensurbehörden achten sehr viel genauer auf kritische Einträge auf dem twitterähnlichen Kurznachrichtendienst Sina-Weibo.

Die Umweltproteste in Ningbo wussten die Behörden offensichtlich aber nicht zu verhindern. Das dürfte mit dem unterschiedlichen Protestspektrum zu tun haben. In den vergangenen Jahren waren es vor allem Bauern und Wanderarbeiter, die aufbegehrten. Ihr Protest war spontan und meist schnell vorbei. Chinas neue Wutbürger stammen aus der Mittelschicht, sie sind sehr viel professioneller organisiert. Sie nutzen die sozialen Netzwerke und wissen sich auch juristisch und über ihre Öffentlichkeitsarbeit besser zu wehren.

Die Behörden wissen das. Während einer Krisensitzung der Kommunistischen Partei am Samstagabend gaben örtliche Funktionäre zu, dass das Fabrikprojekt noch gar nicht formell genehmigt wurde. Und sie erklärten sich tatsächlich dazu bereit, den Bau der Raffinerie zu überdenken.