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Chinas schrumpfendes Arbeitsheer

 

Der Tag kam früher als erwartet. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes ist die Zahl der Chinesen im erwerbsfähigen Alter im vergangenen Jahr erstmals zurückgegangen – um 3,45 Millionen Menschen. „Wir sollten diese Entwicklung genau beobachten“, sagte Ma Jiantag, der Chef des Statistikamtes am vergangenen Freitag. Experten hatten die Zäsur erst für das Jahr 2015 erwartet. Nun sinken in China die Chancen, dass die Wachstumsraten so hoch bleiben wie in der Vergangenheit. Oder?

Richtig ist: Die Volksrepublik nähert sich in großen Sprüngen einem Entwicklungsstadium, das Demografie-Experten seit Langem vorhergesagt haben. China vergreist – eine Folge der Ein-Kind-Politik, die die chinesische Führung 1979 als vorübergehende Maßnahme zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums eingeführt hatte. Auf insgesamt derzeit 1,3 Milliarden Menschen in China kommen rund 190 Millionen Menschen, die älter als 60 sind. Ungefähr jeder siebte Chinese befindet sich im Rentenalter. Dieser Anteil wird in den kommenden Jahren deutlich steigen, bis 2040 auf rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Im Gegenzug wird der Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung jährlich um drei Millionen Menschen sinken.

Keine guten Nachrichten. Denn die meisten Ökonomen gehen davon aus, dass eine Wirtschaft nur solange wächst, wie auch der Anteil der Erwerbstätigen steigt. Denn mehr Menschen konsumieren und produzieren auch mehr – und sorgen deshalb für mehr Wirtschaftsleistung. Sinkt der Anteil der Arbeitskräfte an der Bevölkerung, dürfte es mit den hohen Wachstumsraten schnell vorbei sein. Endet also Chinas Boom?

Die Antwortet lautet: Nicht innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahren, und sicherlich nicht aufgrund der demografischen Entwicklung. Denn was China von Industrieländern mit alternder Bevölkerung unterscheidet, ist die anhaltende Urbanisierung. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Menschen, die in China in Städten leben, um 21 Millionen Menschen auf insgesamt rund 712 Millionen angestiegen. Das sind jedoch nach wie vor nicht einmal 52,57 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: In Deutschland leben 89 Prozent der Bevölkerung in Städten und Ballungszentren.

Chinas Führung will, dass die Bauern im Land einen ähnlich hohen Lebensstandard erreichen wie die Menschen in den Städten. Dafür muss der Anteil der ländlichen Bevölkerung stark sinken und die Anzahl der Stadtbevölkerung steigen. Die Führung in Peking will in den kommenden Jahren rund 400 Millionen weitere Chinesen von Bauern zu Stadtbewohnern machen. Pro Jahr ziehen also etwa 10 bis 20 Millionen Menschen vom Land in die Stadt.

Wenn nun wegen der demografischen Entwicklung und der Ein-Kind-Politik jedes Jahr insgesamt drei Millionen weniger Erwerbsfähige vorhanden sind, stehen dieser Zahl damit immer noch jährlich zwischen 10 und 20 Millionen vom Land gegenüber, für die neue Arbeitsplätze in den Städten geschaffen werden müssen. Das geringere Arbeitskräftereservoir mindert also in den kommenden Jahren eher den Druck auf die chinesische Führung, als das der Wirtschaft wirklich die Arbeiterinnen und Arbeiter ausgehen.

Hinzu kommt die Produktivität. Sie steigt in China wie in allen Industriestaaten. Ein Beispiel für Deutschland: Ein Bauer ernährte im Jahr 1900 noch rund vier Menschen, heute sind es rechnerisch etwa 133. Das Rechenbeispiel lässt sich auf eine Wirtschaft mit hohem Industrieanteil übertragen und wird im Übrigen auch in der deutschen Renten-Debatte zu wenig berücksichtigt. Nicht allein von der Zahl der Arbeitskräfte hängt es ab, ob eine Wirtschaft wächst, sondern auch von der Produktivität, also dem effizienten Einsatz von Maschinen.

Ein Renten-Problem hat China aktuell dennoch: Die Rentensätze sind  zu niedrig. Rund 170 Euro im Monat beträgt die durchschnittliche Rente in der Stadt. Die Menschen auf dem Land verfügten bis vor Kurzem noch über keine staatliche Altersvorsorge, sondern mussten darauf setzen, dass ihre Nachkommen sich um sie kümmern. Nun liegt die Rente bei mageren 35 Euro, was viel zu wenig ist. Das aber ist kein demografisches Problem – sondern eines der Verteilung.