An Mut mangelt es in Peking derzeit nicht. Obwohl in der chinesischen Hauptstadt anlässlich des Nationalen Volkskongresses (NVK) seit Tagen die höchste Sicherheitsstufe gilt, und bewaffnete Polizisten Bahnhöfe, Kreuzungen und in U-Bahnstationen patrouillieren, wagen sich Kritiker und Intellektuelle mit öffentlichen Aufrufen hervor.
Die „Mütter von Tiananmen“ etwa, ein Zusammenschluss von Angehörigen der Opfer von 1989, haben vergangene Woche kurz vor Beginn des NVK von Chinas Führung die Aufklärung des brutalen Militäreinsatzes auf dem Tiananmenplatz vor 24 Jahren gefordert.
Seit Tagen kursiert zudem ein Aufruf zur Freilassung des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, den Südafrikas Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu initiiert hat.
Und ebenfalls vergangene Woche haben 120 Intellektuelle an die Führung appelliert, den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) zu unterzeichnen. Es ist bereits der zweite Aufruf dieser Art, seit Xi Jinping im November zum Parteichef der Kommunisten ernannt wurde. Auf dem NVK soll er in diesen Tagen auch als Staatschef inthronisiert werden.
Auf den ersten Blick scheinen diese Appelle nach Veränderung recht waghalsig zu sein, hat die chinesische Führung Liu Xiaobo 2009 doch genau aufgrund eines solchen Aufrufs zu elf Jahren Haft verurteilt. Doch letztlich nehmen die Kritiker das künftige Staatsoberhaupt nur beim Wort. Xi hat in den vergangenen Wochen mehrfach Transparenz und politische Neuerungen versprochen.
Wie reagiert die Führung auf die Kritik?
So wenig Überraschungen es auf dem NVK selbst geben wird, weil die insgesamt 2.978 Abgeordneten erfahrungsgemäß alle vorgegeben Beschlüsse einfach nur noch abnicken – spannend könnte es dennoch werden. Wird Chinas Staatsgewalt auf diese Appelle wie bisher mit Zensur, Nichtbeachtung und Repression reagieren? Oder stößt die Kritik bei der neuen Führung doch auf Gehör?
„Gorbatschowsche“ Reformsprünge sollten nicht erwartet werden, meint Sebastian Heilmann, Politologe und China-Experte an der Universität Trier. Denn die neue Parteiführung wolle nicht die politische Kontrolle aufgeben, sondern lediglich die eigene Glaubwürdigkeit und Popularität stärken, die der alten Führung verloren gegangen war.
Und doch mehren sich die Zeichen, „dass es Xi Jinping ernst damit ist, die Grundlagen der Parteiherrschaft zu erneuern“, sagt Heilmann. „Aber wenn die Parameter für Meinungsäußerung und Korruptionsbekämpfung sich tatsächlich verschieben, dann sind das handfeste und zugleich populäre Reformen.“
Erstmals freie Wahlen
In Wukan ist zu beobachten, was damit gemeint sein könnte: Das Dorf in der südchinesischen Provinz hatte sich Ende 2011 freie Kommunalwahlen erkämpft, nachdem dort Tausende Menschen tagelang gegen den örtlichen Parteisekretär protestiert und ihm Korruption und Landraub vorwarfen. Die Bewohner verjagten Polizisten und Beamte und bildeten ein vorläufiges Verwaltungskomitee. Die Provinzregierung von Guangdong lenkte ein und ließ in dem Dorf freie Wahlen zu. Es war das erste Mal in der Geschichte der Volksrepublik.
Die freien Kommunalwahlen haben inzwischen stattgefunden. Große Teile des Landes hat das Dorf zwar immer noch nicht zurückerhalten. Zudem sind einige der Anführer des Protestes, die in den Gemeinderat hineingewählt wurden, aus Frust zurückgetreten.
Ein erster Ansatz ist aber da, und hat auch schon Schule gemacht. Etwa hundert Kilometer weiter, im Dorf Shangpu, hat der Streit um Landraub und Enteignung vergangene Woche ebenfalls Unruhen ausgelöst. Wie in Wukan fordern auch die Bewohner von Shangpu nun freie Wahlen.
Chinas neue Führung übt sich aber auch selbst in Demokratie, zumindest ein Stück weit: Auf einer Internetplattform dürfen 600.000 Freiwillige künftig ihre Meinung an die Zentralregierung in Peking richten – ein ernst gemeintes Projekt der staatlichen Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS). Das sind zwar gerade einmal 0,05 Prozent der Bevölkerung, die daran teilnehmen werden. Ein Anfang ist immerhin gemacht.
Selbst wenn Xi auch nur ein Bruchteil seiner Versprechen einlöst, er könnte eine Lawine lostreten, die er zum jetzigen Zeitpunkt selbst noch nicht zu überblicken vermag.