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Das System ist Schuld

 

Es sind so viele Dinge, die beim Unglück von Jilin wütend machen. Auf Chinas Kurznachrichtendienst Sina-Weibo bricht sich die Empörung Bahn: darüber, dass zum Zeitpunkt des Unglücks alle Fabriktore verschlossen waren, weshalb sich gerade einmal 100 der Arbeiter ins Freie retten konnten. 100 von 300. Darüber, dass 120 von ihnen im Inneren der Geflügelfabrik des Unternehmens Jilin Baoyuanfeng Poultry erstickten, weil man sie nicht herausließ. 80 Arbeiter wurden verletzt.

Chinas Blogger zitieren Mitarbeiter der Firma, die die Fabrik betrieb: Die Schlachterei sei völlig überfüllt gewesen, die Fluchtwege mit sperrigen Gegenständen blockiert. Rettungskräfte kommen zu Wort, sie sagen, der Aufbau der Fabrik sei so kompliziert gewesen, dass Hilfe oft zu spät kam. Die Gänge seien viel zu schmal gewesen für die vielen Menschen, die ins Freie drängten.

Der Fabrikbrand fand in Chinas Nordostprovinz statt, doch er bewegt das ganze Land. Schon seit dem Unglück von Bangladesch im April debattiert China über den mangelnden Arbeitsschutz in den heimischen Fabriken. Unternehmer und Behörden, damals von Journalisten befragt, antworteten, die Lage habe sich deutlich gebessert. Alle hätten aus dem Brand in einem Nachtclub in der südchinesischen Stadt Shenzhen vor fünf Jahren gelernt. Damals starben 44 Menschen in den Flammen.

Doch in Wahrheit reißt die Kette der Unglücke in China nicht ab. Erst vor zwei Wochen kamen in der ostchinesischen Provinz Shandong zwölf Menschen bei einer Explosion in einer Sprengstofffabrik ums Leben. Eine Woche zuvor starben 27 Bergarbeiter bei einer Gasexplosion in einer Kohlemine im Südwesten des Landes. Schon lange aber sind in China nicht mehr so viele Menschen gestorben wie nun in Jilin. Glaubt man den chinesischen Medien, ist es das schwerste Feuerunglück in China seit mehr als zwölf Jahren.

Dabei gibt es in China eigentlich Arbeitsschutz- und Brandbestimmungen, die den Empfehlungen der Internationalen Arbeiterorganisation (ILO) entsprechen. Und auch die staatlich kontrollierten Zeitungen reagieren inzwischen sehr sensibel auf das Thema. Immer wieder berichten sie von Fabrikarbeitern, die auf Versäumnisse beim Arbeitsschutz aufmerksam machen. Mehrfach wurden Unternehmen durch den öffentlichen Druck gezwungen, für besseren Arbeitsschutz zu sorgen.

Es hat offensichtlich nicht gereicht. Chinas Führung gibt sich wütend. „Schlechtes Bewusstsein für Sicherheit und unzureichende Aufsicht sind Ursache vieler dieser Unglücke“, klagt Chinas staatliche Nachrichtenagentur Xinhua in einem scharfen Kommentar. Und weiter heißt es: „Die Unglücke sind auch Ergebnis des Wunsches der Unternehmen, Profite auf Kosten der Sicherheit zu machen, und der Faulheit von Funktionären, die ihre Verantwortung nicht erfüllen.“

Selbst Chinas neuer Staatspräsident Xi Jinping meldet sich aus dem fernen Costa Rica zu Wort, wo er sich derzeit auf Staatsbesuch aufhält. Persönlich wies er an, „die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“. Den Verantwortlichen des ausgebrannten Schlachthofes haben die Behörden vor Ort auch schon festgenommen.

Aber die Probleme liegen im System begründet. Die Aufrufe der Zentralregierung für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz verpuffen auf lokaler Ebene. Vetternwirtschaft zwischen Fabrikbesitzern und verantwortlichen Aufsichtsbehörden sind ein Grund. Ein anderer ist das Fehlen unabhängiger Arbeitnehmervertretungen, die sich um bessere Bedingungen kümmern könnten. Wenn man sie denn ließe.