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Auf der Suche nach Tugend und Moral

 

Als Mao Zedong auf den Tag genau heute vor 64 Jahren am Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik ausrief und China damit offiziell kommunistisch wurde, mussten auch die Religionen und alten chinesischen Philosophien der neuen Staatsordnung weichen. Sie galten als bourgeois, reaktionär und „Opiums fürs Volk“. Mao selbst setzte alles daran, Religionen und alte Weltvorstellungen in China auszumerzen.

Das war ihm auch weitgehend gelungen. Die meisten Chinesen gehören heute keinem Glauben mehr an. Umso überraschender ist es, dass sein politischer Enkel, der nun amtierende chinesische Staatspräsident Xi Jinping, wieder voll auf traditionelle Werte zu setzen scheint und eine Rückbesinnung auf Daoismus, Buddhismus und Konfuzianismus fordert.
Tatsächlich geht es Xi bei dieser Rückbesinnung gar nicht so sehr um die Liebe zur Kultur oder gar um seinen persönlichen Glauben, sondern um die wirtschaftliche Entwicklung Chinas. Er scheint erkannt zu haben, dass die chinesische Gesellschaft immer mehr in ein Stadium gerät, in der es an Integrität und Vertrauen mangelt und das schwere ökonomische Folgen hat. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht aus irgendeinem Landesteil über Korruption, Bestechung, Amtsmissbrauch oder irgendwelche Lebensmittelskandale im Land berichtet wird. Einer Statistik des Obersten Volksgerichts zufolge hat es in den Anfangsjahren des Kommunismus nur einige Hundert Korruptionsfälle im Jahr gegeben. Zwischen 2008 und 2012 wurden mehr als 140.000 Chinesen der Korruption überführt.

Xi führt das auf die geistige Leere vieler Chinesinnen und Chinesen zurück. Was ihnen auf den Straßen von Peking, Shanghai oder Shenzhen stattdessen vorgelebt werde, sei die Gier nach Geld, teuren Uhren und großen Autos. Tatsächlich hat Nächstenliebe in der Familie noch einen hohen Stellenwert und vielleicht auch im engeren Freundeskreis. Doch darüber hinaus scheint sich jeder selbst überlassen zu sein und jeder denkt nur an seinen eigenen Vorteil. Das Misstrauen ist groß, ständig irgendwo betrogen zu werden – es fehlt an gegenseitiger Verlässlichkeit.

Dem neuen Staatsoberhaupt Xi scheint dieser Zustand große Sorgen zu bereiten, wenn er heute zum Nationalfeiertag zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung und Fürsorge aufruft und dem alten chinesischen Glauben folgend Bescheidenheit als Tugend preist. Wie soll Korruption zurückgehen, wenn die Beamten keine Moral kennen, fragt er. Wie soll die Wirtschaft auf eine neue Entwicklungsstufe aufsteigen, wenn die Firmen einander misstrauen? Warum sollten Verbraucher heimische Produkten kaufen, wenn Unternehmer sogar Gift in Babynahrung mischen?

So sehr Xi seit Beginn seiner Amtszeit Anfang des Jahres fehlende Moral und Geldgier auch bei Beamten, Parteikadern und selbst unter Spitzenpolitikern anprangert – die Spitzenvermögen in den eigenen Reihen scheinen ihn bisher noch nicht misstrauisch gemacht zu haben. Dem britischen Economist zufolge, der sich auf Daten des alljährlichen Hurun-Reports stützt, Chinas Reichenliste, verfügen die reichsten fünfzig Delegierten im Nationalen Volkskongress über ein Vermögen von umgerechnet 94,7 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Das Vermögen der 50 reichsten Delegierten im US-Kongress liegt bei insgesamt 1,6 Milliarden Dollar. Dabei sind auch US-Politiker nicht gerade als arme Kirchenmäuse bekannt.