Was für ein Paukenschlag: Am späten Freitagabend Pekinger Ortszeit verkündet Chinas Führung das faktische Ende der Ein-Kind-Politik. 1980 eingeführt, um die sprunghafte Bevölkerungszunahme zu drosseln, dürfen junge Paare in der Volksrepublik nun schon bald zwei Kinder zur Welt bringen – sofern einer von beiden ein Einzelkind ist. Das ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Paare im entsprechenden Alter inzwischen der Fall.
Zwar gehen die Behörden schon seit einigen Jahren nicht mehr ganz so restriktiv vor und erlaubten zwei Kinder, wenn bereits beide Elternteile geschwisterlos waren. Doch trotzdem haben die Behörden angehende Mütter immer wieder zu Abtreibungen gezwungen. Mit der jüngsten Lockerung wird die Ein-Kind- durch die Zwei-Kind-Politik abgelöst.
Völlig überraschend kommt die Ankündigung aber nicht. Schon seit einiger Zeit rechnen Experten immer wieder vor, dass die rigide Beschränkung auf ein Kind schlimme gesellschaftliche Folgen hat. Ziemlich einhellig kommen Beobachter zu dem Ergebnis, dass ein Ende der restriktiven Familienpolitik auch aus ökonomischen Gründen überfällig ist.
Zwar ist das Bevölkerungswachstum in den vergangenen 30 Jahren tatsächlich deutlich zurückgegangen: Brachte eine Chinesin zu Beginn der siebziger Jahre statistisch gesehen noch 5,8 Kinder zur Welt, ist diese Zahl im vergangenen Jahr auf 1,5 Kinder gesunken. Ohne Ein-Kind-Politik gebe es zu den bereits existierenden 1,3 Milliarden rund 400 Millionen Chinesen mehr. Doch diese Politik hat eine Reihe von Folgeproblemen geschaffen.
Da ist zum einen die Überalterung der Bevölkerung. Schon jetzt ist mit über 200 Millionen Menschen fast jeder siebte Chinese über 60 Jahre alt. Bis 2025 wird sich die Zahl auf 300 Millionen erhöhen – das entspricht etwa der Einwohnerzahl der USA. Dabei reicht Chinas Sozialsystem schon jetzt nicht aus.
Hinzukommt das Geschlechterungleichgewicht. Weil viele Chinesen nach wie vor glauben, ein Junge sei mehr wert als ein Mädchen, sind in den vergangenen drei Jahrzehnten viele weibliche Föten abgetrieben worden. Auf 100 Frauen, die jährlich das Erwachsenenalter erreichen, kommen 120 Männer. Jeder fünfte Mann geht bei der Partnersuche statistisch gesehen leer aus. Die Erfahrung zeigt: Unzufriedene junge Männer neigen zu Krawall und bleiben ökonomisch und sozial auf der Strecke.
Mit der Überalterung einher geht zugleich ein zunehmender Arbeitskräftemangel. So hat das Nationale Statistikamt im Frühjahr darauf hingewiesen, dass die verfügbaren Arbeitskräfte zwischen 15 und 59 um über drei Millionen Menschen gesunken ist. Und das ist freilich erst der Anfang. Diese Zahl wird in den kommenden Jahren steigen.
Zumindest dieses Problem hat die chinesische Führung stets abgewiegelt, mit dem Argument, dass auch Produktivität und Automatisierung in China in den nächsten Jahren deutlich steigen. So viele Arbeitskräfte wie bisher würden künftig gar nicht mehr benötigt.
Experten der Deutschen Bank gehen davon aus, dass mit dem Wechsel von der Ein-Kind zur Zwei-Kind-Politik die Zahl der Neugeborenen um jährlich 1,6 Millionen steigen wird und auf diese Weise die Zahl der Arbeitskräfte ab 2030 zumindest auf einem stabilen Niveau gehalten werden könne.
Gesamtwirtschaftlich, so die Studie, werde es mit der Zwei-Kind-Politik in den ersten 16 Jahren zunächst zwar keine nennenswerten Wachstumsschübe geben. Doch zwischen 2030 und 2050 bringe diese Reform China jährlich 0,2 Prozentpunkte zusätzliches Wachstum ein. Das klingt auf den ersten Blick nicht nach viel, summiert sich über die Jahre aber.
Die Marktexperten haben auch den kurzfristigen Nutzen für bestimmte Branchen errechnet. Hersteller von Kinderwagen oder Babykleidung etwa könnten nur mit wenig Umsatzsteigerungen rechnen. Denn Zweitgeborene nutzten erfahrungsgemäß die Waren ihres älteren Geschwisterchens. Ausländische Milchpulverhersteller hingegen dürften sich auf einen ordentlichen Schub für ihr Geschäft freuen, glaubt die Studie.
Aber das ist nur Theorie: Nach diversen Skandalen heimischer Hersteller kommen sie in der Realität der gigantische Nachfrage aus China schon jetzt nicht hinterher – trotz Ein-Kind-Politik.