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China hat ein riesiges Rentenproblem

 

An Altersversorgung war in China lange Zeit nicht zu denken. Als ab den frühen neunziger Jahren Millionen von jungen Chinesinnen und Chinesen vom Land in die Industrieregionen der südchinesischen Provinz Guangdong zogen, um in den eilig hochgezogenen Fabriken am Perflussdelta einen Job zu finden, waren sie froh, überhaupt eine Einkommensquelle zu haben. Sie erhielten wenige Hundert Yuan im Monat, umgerechnet unter 50 Euro.

Die Löhne der Wanderarbeiter in der Region sind inzwischen zwar gestiegen  auf inzwischen mehrere Hundert Euro im Monat. Die Fabrikarbeiter sind zugleich aber auch älter geworden. Lag ihr Durchschnittsalter zu Beginn der neunziger Jahre noch bei unter 20 Jahre, haben viele von ihnen nun das 50. oder 60. Lebensjahr erreicht. Eine ausreichende Sozial- und Altersversorgung bietet ihnen die Mehrzahl der Unternehmer trotz eindeutig staatlicher Vorgaben jedoch nicht. Das ist der Grund, warum Zehntausende Fabrikarbeiter beim weltgrößten Zulieferer für Schuh- und Sportartikel Yue Yuen Industrial seit drei Wochen streiken. Sie sorgen ich um ihre Altersversorgung.

Konkret werfen die Arbeiter dem Fabrikbetreiber Yue Yuen vor, viele Jahre zu wenig Geld in die staatlich vorgeschriebenen Sozialfonds eingezahlt zu haben. Dabei hatte die kommunistische Führung bereits vor einigen Jahren das Arbeitsrecht gestärkt und eine stärkere Beteiligung der Arbeitgeber an den Sozialversicherungen für Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit und vor allem den Ruhestand festgelegt. Bei Yue Yuen arbeiten etwa 40.000 Menschen. Das Unternehmen beliefert neben Adidas unter anderem auch Puma, Nike und Timberland. Vergangenes Jahr wurden nach Firmenangaben etwa 300 Millionen Paar Schuhe hergestellt.

Der Arbeitsausstand bei Yue Yuen ist der größte und am längsten andauernde Arbeiterprotest in China seit Langem. Und er zeigt Wirkung: Zwar will Adidas die Verbindungen zu seinem Zulieferer nicht komplett kappen. Aber immerhin hat die Firma einige Aufträge abgezogen.

Doch das Problem ist nicht auf Yue Yuen beschränkt und es zeigt einen wunden Punkt im rudimentären chinesischen Sozialsystem. Die erste Generation der Wanderarbeiter, die China zur prosperierenden Werkbank der Welt machte, steht mittlerweile vor dem Ruhestand. Für Millionen von ihnen sind jedoch die Rententöpfe leer. Arbeitsmarktexperten weisen seit einigen Jahren darauf hin, dass Unterfinanzierung der Sozialfonds durch die Betriebe ein Problem ist, das sozialen Zündstoff birgt.

Zugleich wirkt sich im dicht industrialisierten Süden Chinas der demografische Wandel auf den dortigen Arbeitsmarkt aus. Wegen der ebenfalls nun mehr als 30 Jahre andauernden Ein-Kind-Politik ist die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter in den vergangenen zwei Jahren landesweit um sechs Millionen auf 920 Millionen gesunken. Viele Arbeiter fühlen sich deswegen in einer besseren Position, ihre Rechte einzufordern. Allein in diesem Jahr gab es nach Angaben der Arbeiterrechte-Organisation China Labour Bulletin bislang fast ein Drittel mehr Streiks als vor Jahresfrist. Dies ist der stärkste Zuwachs seit der globalen Finanzkrise.

Obwohl die Behörden Streiks und Demonstrationen in der Volksrepublik selten genehmigen, scheint die Zentralregierung in Peking die derzeitigen Proteste zumindest zu tolerieren. Viel berichtet wird über sie nicht, verhindert werden sie aber auch nicht. Ein Eingeständnis? Über viele Jahre war es der Regierung nicht gelungen, die arbeitsrechtlichen Bestimmungen gegenüber den Unternehmern durchzusetzen. Der Protest soll es nun offenbar richten.