Was für eine Sensation: Seit dem Ende der Kulturrevolution vor fast 40 Jahren hat die Führung von Chinas Kommunistischer Partei keinen so ranghohen ehemaligen Spitzenkader festnehmen lassen wie am vergangenen Wochenende: Zhou Yongkang war nicht nur oberster Sicherheitschef und hatte in seiner Amtszeit einen gigantischen Polizei- und Geheimdienstapparat aufgebaut. Der 72-Jährige gehörte bis 2012 auch dem damals Ständigen Ausschuss des Politbüros an, er war also einer der neun Führer der Volksrepublik. Doch was genau steckt hinter der Festnahme?
Die Vorwürfe reichen von Machtmissbrauch, Korruption, Ehebruch bis zum Verrat von Staatsgeheimnissen. Zhou habe seine Macht missbraucht, „um Verwandten, Geliebten und Freunden zu großen Profiten zu verhelfen“, heißt es in einer Erklärung der Parteispitze. Allein auf Staatsverrat droht in China die Todesstrafe. Zhou war in den neunziger Jahren als Vize-Minister zuständig für die Ölindustrie. In dieser Zeit gelang es zahlreichen Firmenchefs der staatlichen Erdöl-Unternehmen und einer Reihe von weiteren Akteuren in dieser Branche, zu sehr reichen und einflussreichen „Baronen“ aufzusteigen. An den Vorwürfen gegen ihn ist deshalb sicherlich was dran.
Und doch stellt sich nun nach mehr als zwei Jahren ununterbrochener Korruptionsbekämpfung mehr denn je die Frage: Geht es Xi tatsächlich um die Eindämmung des in China grassierenden Grundübels? Oder spielt Machterhalt die entscheidende Rolle?
Antikorruptionskampagne zeigt Wirkung
Fakt ist: Das Ausmaß der Korruption in China ist gigantisch. So sollen sich nach Angaben der chinesischen Volkszeitung Renmin Ribao in den vergangenen 35 Jahren mindestens 4.000 Beamte ins Ausland abgesetzt und insgesamt rund 50 Milliarden Dollar illegal mitgenommen haben. Experten halten diese Zahlen sogar noch für weit untertrieben. Sie gehen vielmehr von über einer Million Staatsbediensteten aus, die auf diese Weise die Volksrepublik verlassen haben. Diese hohen Zahlen belegen, wie weit verbreitet Amtsmissbrauch, Selbstbereicherung und Vetternwirtschaft in der Volksrepublik bereits seit Jahrzehnten sind.
Mittlerweile zeigt die Antikorruptionskampagne von Chinas Staatspräsident Xi Jinping aber Wirkung – auf ungewöhnliche Weise: So ist der Verkauf von Luxusartikeln in den vergangenen zwei Jahren in China deutlich zurückgegangen. Der Preis von Maotai etwa, einem edlen Reisschnaps, ist seit Beginn der Kampagne um mehr als 60 Prozent gefallen. Der Luxusartikel-Konzern LVMH (Moët-Hennessy – Louis Vuitton) hat im Oktober erstmals offiziell zugegeben, dass der weltweite Absatzrückgang von Cognac, Champagner, Handtaschen und Uhren unmittelbar auf Chinas Antikorruptionspolitik zurückzuführen sei. Die Branche wächst so langsam wie seit 2009 nicht mehr.
Größte politische Säuberungswelle
Ein scheinbar großer Erfolg. Es gibt aber auch eine andere Lesart: Die Kampagne sei allein machtpolitisch motiviert. So hat die KP-Spitze mittlerweile mehr als eine Viertel Million Parteimitglieder ausgeschlossen oder bereits bestrafen lassen. Rund 650 Beamte und Parteisekretäre sind wegen Korruption überführt und wurden öffentlich an den Pranger gestellt, darunter auch fast 80 vom Rang eines Ministers oder Provinzgouverneurs. Zweifellos handelt es sich auch zahlenmäßig um die größte politische Säuberungswelle seit der Kulturrevolution.
Was dabei jedoch auffällt: In der großen Mehrheit der Fälle werden rechtsstaatliche Prinzipien nicht eingehalten. Tatsächlich entscheidet zunächst die Disziplinarkommission der KP über die Schuld. Erst wenn sie zu einem Urteil gekommen ist, werden Richter und Anwälte eingeschaltet. So auch bei Zhou Yongkang: Bislang hat die KP-Spitze lediglich über seinen Parteiausschluss entschieden. Er ist dennoch bereits verhaftet. Das juristische Verfahren lässt auf sich warten.
Auffällig ist außerdem: Von den Dutzenden an den Pranger gestellten Spitzenkadern, die der Korruption bezichtigt werden, befindet sich so gut wie keiner der Prinzlinge, die Söhne und Enkel der einstigen KP-Gründer, die allesamt hinter hochgezogenen Mauern im Pekinger Regierungsviertel aufgewachsen sind und ranghohe Posten in der KP-Führung besetzen. Der 2012 in Ungnade gefallene Spitzenpolitiker Bo Xilai und seine Frau waren Ausnahmen. Xi Jinping selbst ist ein Prinzling. Dabei ist auch von seinen Verwandten bekannt, dass sie über Milliardenvermögen verfügen.
Schon Xis Vorgänger Hu Jintao, Jiang Zemin, aber auch Deng Xiaoping hatten sich einst ähnlicher Mittel bedient und ihre Amtszeit mit Antikorruptionskampagnen begonnen. Stets dienten sie vor allem dazu, die innerparteilichen Gegner auszuschalten. Diese Kampagnen waren meist nur von kurzer Dauer. Die Korruption blieb.
Unter Xi dauert die Kampagne schon mehr als zwei Jahre. Das lässt zwei Interpretationen zu: dass er parteiintern besonders viele Feinde hat. Oder aber, dass er besonders mächtig ist.