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Chinas Ein-Kind-Politik war grausam – und überflüssig

 

Angesichts der vielen Zwangsabtreibungen und anderen drakonischen Strafen halten die meisten Bevölkerungsexperten Chinas Ein-Kind-Politik zwar für grausam. Doch sie glauben: Sie war ein notwendiges Übel. Immerhin habe sie seit ihrer Einführung vor 35 Jahren 400 Millionen Geburten in dem ohnehin bevölkerungsreichsten Land der Welt verhindert. Ohne sie hätte China heute nicht 1,4 Milliarden Einwohner, sondern fast zwei Milliarden. Die Ein-Kind-Politik sei ein wesentlicher Grund für Chinas erfolgreiche Armutsbekämpfung gewesen, meinen sie.

Der britische Economist nannte in einem Themenheft zum Klimawandel im vergangenen Herbst Chinas Ein-Kind-Politik sogar als einen der wichtigsten Gründe zur Eindämmung des weltweiten CO2-Ausstoßes. Ohne diese restriktive Politik wären bis 2005 rund 1,3 Milliarden Tonnen mehr Kohlenstoffdioxid ausgestoßen worden, schrieben seine Autoren.

Der chinesische Soziologe Cai Yong kommt nun zu einem völlig anderen Ergebnis. Nicht die Ein-Kind-Politik war ausschlaggebend für Chinas Geburtenrückgang, sondern die ökonomische Entwicklung, schreibt er. Die Grausamkeiten hätte sich die chinesische Führung also sparen können.

Cai Yong lehrt derzeit an der University of North Carolina in den USA. Anders als andere Demografen hat er nicht nur auf die Bevölkerungsentwicklung in China geschaut. Er hat sie auch in Beziehung gesetzt mit der politischen und ökonomischen Entwicklung und sie mit anderen sich entwickelnden Ländern verglichen.

Für den größten Humbug hält er die weit verbreitete Annahme, die Ein-Kind-Politik habe 400 Millionen Babys verhindert. Diese Zahl sei reine Propaganda der chinesischen Führung, die Forscher aus aller Welt nur nachbeten. Wie diese Zahl zustande kommt? Statistiker haben die Geburtenrate von den frühen fünfziger Jahren bis in die Gegenwart linear verlängert. Eine völlige Fehlannahme: Der Blick auf andere sich entwickelnde Länder zeigt, dass es eine solche lineare Bevölkerungsentwicklung in keinem sich entwickelnden Land gibt. Im Gegenteil: Mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung geht die Zahl der Kinder von alleine zurück.

Cai hat denn auch herausgefunden, dass der größte Rückgang der chinesischen Geburtenrate gar nicht in die Zeit ab 1980 fiel, als die Ein-Kind-Politik eingeführt wurde. Die Zahl ist bereits vorher deutlich zurückgegangen. Anfang der siebziger Jahre kamen auf jede Frau im Schnitt noch sechs Kinder. Gegen Ende des Jahrzehnts waren es nur noch 2,8.

Der Grund: Nach den wirren Anfangsjahren der Kulturrevolution hatte sich Chinas Wirtschaft ab 1972 langsam erholt. Zur gleichen Zeit gab es in den Dörfern erste Aufklärungskampagnen. Später heiraten, weniger und in größerem Abstand Kinder kriegen, lautete das Motto. Zwangsmaßnahmen gab es damals noch nicht. Nach Einführung der drakonischen Strafen ab 1980 ist die Fortpflanzungsrate dann nur noch minimal gesunken. 1990 lag sie weiterhin bei 2,5 Kindern pro Frau.

Die Kehrseite der Ein-Kind-Politik wiegt jedoch schwer: Mehr als 300 Millionen Abtreibungen in den vergangenen 30 Jahren, viele davon waren erzwungen. 1983 war ein besonders grausames Jahr: Es gab 14,4 Millionen Abtreibungen und 29,7 Millionen Sterilisationen. Trotzdem ging die Geburtenrate in dem Jahr nicht signifikanter zurück als in den Jahren zuvor.

Und auch die gesellschaftlichen Folgen sind dramatisch. Mit nur einem Kind pro Familie sind im ganzen Land verwöhnte kleine Kaiser herangewachsen, die fast alle von zwei Eltern- und vier Großelternteilen gehätschelt wurden. Es gibt einen dramatischen Männerüberschuss, weil viele Eltern lieber Jungen haben wollten und Mädchen abgetrieben haben. Zudem steht China vor einem massiven Alterungsprozess: Bereits in 15 Jahren werden in der Volksrepublik 300 Millionen Rentner leben. Das entspricht etwa der Einwohnerzahl der USA. Inzwischen hat China die Ein-Kind-Politik zwar gelockert. Ehepaare dürfen nun zwei Kinder bekommen, wenn einer Einzelkind war. Die Probleme lassen sich nun aber nicht mehr umkehren.

Das Fazit des Professors: So bitter es für die meisten chinesischen Familien klingt – das Opfer, das sie in den vergangenen 35 Jahren auf sich genommen haben, war umsonst. Die Geburtenrate wäre auch ohne Zwangsmaßnahmen zurückgegangen.