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Chinas kaufkräftige Herzen

 

Was für Karnevalisten aus dem Rheinland den Beginn der fünften Jahreszeit markiert, ist für Chinas Paketdienste die stressigste Zeit des Jahres. Der Grund: Chinesische Konsumenten begehen am 11. November „Guanggunjie“, den „Tag des Singles“. Dieses Ereignis geht auf den chinesischen Online-Großkonzern Alibaba zurück. Weil an diesem Tag auf dem Kalenderblatt vier Mal die Ziffer „eins“ steht, hat das Unternehmen ihn prompt zum Tag der einsamen Herzen erklärt. Und was kann über Einsamkeit hinweg trösten? Ausgiebiges Shoppen.

2009 hatte Alibaba über seine Online-Handelsplattform Taobao erstmals die vielen Unverheirateten des Landes mit zahlreichen Sonderangeboten überschüttet. Seitdem bieten die chinesischen Online-Händler jedes Jahr am 11. November Preisnachlässe von bis zu 70 Prozent. Letztes Jahr gab es auf mehr als eine Million Produkte Rabatt.

Entsprechend groß war der Ansturm. Nur drei Minuten nach Mitternacht hatte Alibaba bereits Waren im Wert von einer Milliarde Dollar verkauft. Mehr als 278,5 Millionen Päckchen wurden an diesem Tag verschickt. Rund 27.000 Händler machten mit. Bis zum Ende des Tages brachte es Alibaba auf einen Umsatz von rund 9,3 Milliarden Dollar. Das ist vier Mal mehr als beim Cyber Monday in den USA, dem Pendant am ersten Montag nach Thanksgiving. Der 11. November 2014 war der umsatzstärkste Einkaufstag in der Weltgeschichte.

Allen Prognosen zufolge, soll dieser Rekord dieses Jahr geknackt werden. Für diesen 11. November stehen sechs Millionen Produkte im Angebot, 40.000 Händler machen mit. Und auch ausländische Marken sind aufgesprungen: Lego, Fisher Price, der Disney-Konzern, Calvin Klein, selbst Metro und Costco wollen Singles mit Angeboten verführen. Die chinesische Post rechnet mit 760 Millionen versendeten Paketen an diesem Tag der Singles.

Und davon gibt es in der Volksrepublik eine Menge. Über 143 Millionen Chinesen gelten offiziell als Singles. Sie machen elf Prozent der Gesamtbevölkerung von China aus. Und das in einem Land, in dem Ehe und Familie einen hohen Stellenwert haben. Doch vor allem Männer zwischen 30 und 40 haben es heutzutage schwer, eine Partnerin fürs Leben zu finden. Die soeben abgeschaffte Ein-Kind-Politik lässt grüßen. Ihre Einführung vor knapp 35 Jahren hat zu einem erheblichen Männerüberschuss geführt. Auf 100 Frauen kommen 117 Männer. Im industriereichen Süden des Landes, am Perlflussdelta, wo es viele Fabriken und Wanderarbeiter gibt, leben und arbeiten besonders viele ungebundene Männer. Entsprechend hoch war die Konsumquote in den vergangenen Jahren am 11. November.

Aber auch unter Frauen wächst die Zahl der Singles. In den Großstädten geben immer mehr Frauen der Karriere den Vorrang anstatt zu heiraten und eine Familie zu gründen. Zudem ist die Scheidungsrate in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Vor 20 Jahren war die Beendigung einer Ehe noch fast unmöglich. Heute kommt auf vier Eheschließungen eine Scheidung.

Aus der Not haben die Online-Händler eine Tugend gemacht. Und freilich sind es längst nicht nur Singles, die an diesem Tag wie wild auf den einschlägigen Webseiten herumklicken und sich ihrem Konsumrausch hingeben. Auch liierte Konsumenten freuen sich über die vielen Rabatte im Netz.

Die Zeitung China Daily allerdings befürchtet, dass die Zahl der Singles gerade durch die Shopping-Euphorie noch steigen könnte. Das Staatsmedium hatte vor zwei Jahren am 11. November in einem Bericht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der gestiegenen Scheidungsrate und dem immer stärker in China um sich greifenden Konsumrausch ausgemacht. Der Materialismus habe einen schlechten Einfluss auf das Eheleben junger Menschen, schrieb die in Peking erscheinende englischsprachige Zeitung.

Das hielt sie im vergangenen Jahr dennoch nicht davon ab, zum 11. November mit ganzseitigen Anzeigen von Alibaba und anderen Online-Handelsplattformen auf den „Tag des Singles“ aufmerksam zu machen. „Shoppen macht glücklich“, lautete der Slogan einer Reklame.