In den 1980er Jahren kursierten Geschichten über Kriminelle in Südchina, die Kinder entführten, um sie dann an anderen Orten zum Betteln auf die Straße zu schicken. Damals hieß es: Diese grausamen Kinderhändler gebe es nicht wirklich. Eltern erzählten diese Geschichten ihren Kindern bloß, damit sie nicht wegrennen. In den vergangenen Jahren sind der Raub von Kindern und der Handel mit ihnen in China aber bittere Realität geworden und geradezu ein Massendelikt. Und zwar im ganzen Land.
Es vergeht in China kaum ein Monat, an dem die Polizei nicht irgendwo auf neue Kinderhändlerringe stößt und sie sprengt. Das klingt zunächst einmal erfreulich, zeigt das doch: Der Staat geht gegen den Kinderhandel vor. Doch die Zahlen sind erschreckend. Allein im September wurden mindestens 285 Kinder aus den Händen von Händlern befreit. Anfang des Jahres hatte die Polizei in der Provinz Shandong 37 Babys gerettet und 103 mutmaßliche Kinderhändler verhaftet. Im Februar rettete die Polizei 382 Säuglinge und nahm mehr als 1.000 Verdächtige fest, darunter auch Beamte der Behörde für Familienplanung und weitere ranghohe Amtsträger.
Offiziellen Angaben zufolge haben Sicherheitskräfte in den vergangenen fünf Jahren mehr als 11.000 Kinderhändler-Netzwerke ausfindig gemacht und 54.000 Mädchen und Jungen befreit. Wie viele Kinderhändler unentdeckt bleiben, vor allem aber die Frage, wie viele Kinder sich noch immer in der Hand von solchen Kriminellen befinden – dazu gibt es nicht einmal annähernd realistische Schätzungen. Die Polizei hat eine neue Website eingerichtet, auf der Eltern die Namen ihrer vermissten Kinder angeben, Fotos hochladen und um Hinweise bitten können. Innerhalb von nur zwei Tagen riefen mehr als 1,6 Millionen Menschen diese Webseite ab.
Trotz der inzwischen recht strengen Strafen: Der Kinderhandel blüht auch weiterhin. Die Profite sind zu verlockend. Für Neugeborene werden Preise zwischen umgerechnet 4.000 und 12.000 Euro bezahlt. Jungs kosten meist ab 8.800 Euro aufwärts, Mädchen gibt es schon für weniger Geld. Bei einigen handelt es sich um entführte Kinder. Doch häufig sind es die Eltern, die ihre Kinder zum Verkauf anbieten – sie können sich ihre Kinder nicht leisten. In einigen besonders unterentwickelten Regionen bieten arme Bauernfamilien ihre Babys auch schon für rund 3.600 Euro an. Die Kinderhändler verkaufen sie dann in reicheren Provinzen für das Mehrfache weiter. Ältere Kinder werden auch häufig als Arbeitskräfte angeboten.
Wie organisiert diese Kinderhändlerringe inzwischen vorgehen, zeigte eine Razzia vor zwei Jahren. Polizisten hatten nach einem anonymen Hinweis in der Provinz Henan zunächst vier Kinderhändler aufgegriffen und vier Säuglinge gerettet. Bei den Verhören merkten die Fahnder: Hinter den Händlern steckt ein größeres Netz. Sie stießen auf vier Geburtskliniken, in denen Krankenhausmitarbeiter und Zwischenhändler Säuglinge aus armen Familien unmittelbar nach der Geburt an zahlungswillige Paare verkauften.
Kinderhandel gibt es auch in einigen anderen Regionen der Welt. Doch in China ist er besonders weit verbreitet. Das hängt nicht zuletzt mit der staatlichen Ein-Kind-Politik zusammen, die 35 Jahre gültig war und erst im November offiziell für beendet erklärt wurde. Diese äußerst restriktive Familienplanung führte dazu, dass vor allem Jungen besonders gefragt waren. Da nur ein Kind erlaubt war, verkauften viele Familien ihre Mädchen.
Mit dem Ende der Ein-Kind-Politik müsste der Kinderhandel in China zurückgehen – sollte man meinen. Doch Experten sind skeptisch. Solange es in China auf dem Land immer noch so viele arme Menschen gibt, werde auch der Kinderhandel weiter blühen.