Es war ein Irrglaube. Er sorgte dafür, dass Chinas Pläne zum Ausbau der Atomkraft für einen kurzen Moment ins Wanken gerieten. Im März 2011, kurz nach dem Unfall im japanischen Kernkraftwerk Fukushima, war Salz in chinesischen Supermärkten ausverkauft. Die Chinesen meinten, man könne sich mit dem erhofften Jod im Salz vor radioaktiver Strahlung schützen.
Die Panikkäufe machten der chinesischen Regierung klar: Sie kann die Katastrophe von Fukushima im Nachbarland nicht einfach ignorieren. Wie die meisten Länder legte China deshalb den Bau all seiner vorgesehenen Atomkraftwerke für kurze Zeit auf Eis.
Heute ist von dieser Vorsicht nichts mehr übrig. Bereits im vergangenen Jahr hat die chinesische Regierung den Baustopp aufgehoben. Mitte Februar ging mit Hongyanhe in der nordöstlichen Provinz Liaoning der erste neue Meiler ans Netz – und das war erst der Anfang.
Nach derzeitigem Stand will Chinas Führung bis 2020 mindestens 60 neue Anlagen errichten, 26 sind bereits im Bau. Inklusive dem neuen Meiler in Liaoning sind derzeit 16 Anlagen in Betrieb mit einer Kapazität von 12,57 Gigawatt. Damit nicht genug: Die US-amerikanische Energieagentur (EIA) prognostiziert, dass die Volksrepublik bis 2040 Atomstrom in einer Kapazität von 160 Gigawatt produzieren wird. Zum Vergleich: Die USA gewinnt derzeit rund 101 Gigawatt aus der Atomenergie.
Offiziell hat die chinesische Führung kein Kapazitätsziel für 2040 definiert. Es handelt sich lediglich um eine Prognose der EIA. Doch ist dieser Wert durchaus realistisch. Die Regierung in Peking will zehn Prozent des Energiebedarfs mit Atomkraft decken. Daraus ergibt sich der gigantische Wert von 160 Gigawatt bis 2040. In den kommenden 25 Jahren soll fast die Hälfte aller neuen Atomkraftwerke weltweit in China entstehen.
Chinas zügige Rückbesinnung auf die Atomkraft ist nicht allein der Technikgläubigkeit geschuldet. Die Volksrepublik steht vor einem Dilemma. Immer noch mehr als 70 Prozent der produzierten Elektrizität stammt aus Kohlekraft. Mit rund 3,9 Milliarden Tonnen Kohle im Jahr verbrauchen die Chinesen inzwischen fast so viel Kohle wie der gesamte Rest der Welt. Die Folgen sind unverkennbar: Große Teile des Landes lagen im vergangenen Winter unter einer dicken Smogdecke. Die Feinstaubwerte lagen an einigen Tagen bei mehr als dem 30-fachen dessen, was die Weltgesundheitsorganisation für unbedenklich hält.
Zwar investiert Peking auch kräftig in erneuerbare Energien. Einer Studie des Analysedienstes Bloomberg New Energy Finance (BNEF) zufolge kam 2012 jede dritte neue Windkraftanlage aus der Volksrepublik. China ist damit das vierte Jahr in Folge Spitzenreiter beim Ausbau von Windkraft. Auch beim Bau neuer Solaranlagen ist China ganz vorne dabei.
Doch der Energiebedarf der insgesamt 1,3 Milliarden Chinesen ist gigantisch: Angesichts des anhaltend hohen Wirtschaftswachstums und der Armutsbekämpfung wird der Bedarf in den nächsten Jahren weiter steigen. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IAEA) ist der Energieverbrauch Chinas im Vergleich zu den anderen Ländern schon jetzt der höchste der Welt. Bis 2030 werde der Verbrauch um 60 Prozent höher liegen als in den USA und doppelt so hoch sein wie in der EU.
Die Chinesen produzieren bei der Atomkraft nicht nur für den Eigenbedarf. Sie wollen ihre Atomtechnologie auch exportieren. Der staatlich geführte Atomkonzern China National Nuclear Corp hat im Frühjahr angekündigt, dass noch in diesem Jahr mit einem Partnerland ein Vertrag zum Bau eines von Chinesen entwickelten CAP1400-Reaktors unterzeichnet werde. Um welches Land es sich handelt, wollte der Konzern nicht verraten. Nur so viel: Die Verhandlungen seien schon „sehr weit fortgeschritten“.