Am Wochenende ist es in der ostchinesischen Stadt Qidong, nicht weit von Schanghai, zu massiven Protesten gekommen. Wahrscheinlich Zehntausende, vielleicht sogar bis zu Hunderttausend protestierten vor dem Hauptquartier der Stadtregierung, vertrieben den örtlichen Parteisekretär der Kommunistischen Partei und brachten die Behörden letztlich dazu, den umstrittenen Bau einer japanischen Papierfabrik zu verhindern. Das mag zunächst einmal außergewöhnlich klingen für ein Land, das ja eigentlich autoritär und mit harter Hand regiert wird.
Aber ist das wirklich so besonders? Dass es zu Massenprotesten kommt und die Forderungen der Demonstranten auch noch berücksichtigt werden, ist in China gar nicht so selten. So haben erst Anfang des Monats ebenfalls Zehntausende in der südwestchinesischen Stadt Shifang ebenfalls ein industrielles Großprojekt verhindert. Dort ging es um den Bau eines Werks für Kupferlegierungen.
Insgesamt berichtet die in Peking ansässige Akademie der Sozialwissenschaften (CASS), dass es allein 2010 mehr als 180.000 unangemeldete Demonstrationen gegeben hat – das waren im Schnitt 500 am Tag. An Unmut mangelt es in China also nicht.
Seitdem ich wieder in Peking lebe, habe ich mich immer wieder gefragt, warum das eigentlich so ist. Wenn auch bei weitem noch nicht alle Chinesen vom wirtschaftlichem Wachstum der vergangenen 20 Jahre profitiert haben, so geht es doch den meisten heute zumindest materiell gesehen sehr viel besser als damals. Das Land ist wirtschaftlich und damit auch kulturell vielfältiger geworden. Ab einem gewissen materiellen Standard haben die Menschen durchaus auch gesellschaftlich mehr Freiheiten und Möglichkeiten. Spricht man mit vielen Chinesen, ob alt oder jung, scheint die Unzufriedenheit derzeit aber so groß wie schon lange nicht mehr.
Ein Grund ist natürlich das politische System: Wie in jedem Land und in jeder Gesellschaft steigen mit zunehmendem materiellen Wohlstand auch die immateriellen Ansprüche. Und was die politischen Freiheiten betrifft, hat es von der Zentralregierung aus in den vergangenen Jahren nur wenig wirklich große Veränderungen gegeben. Die politischen Reformen können nicht mit den rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen mithalten.
Verschärft wird dies durch die zunehmende Bedeutung des Internets und der sozialen Netzwerke. Ob es um Behördenversagen bei Überschwemmungen, Lebensmittelskandale oder Korruption geht – über die diversen Mikrobloggingdienste haben sich die Nachrichten binnen weniger Sekunden im ganzen Land verbreitet. Fast die Hälfte der insgesamt 1,3 Milliarden Menschen verfügt inzwischen über einen Internetzugang. Trotz Internetsperren – wer wirklich will, kann sich über alles informieren. Denn bevor die Zensurbehörden zugeschlagen und die Einträge gelöscht haben, sind die Nachrichten über andere Dienste bereits weiter verbreitet. Inzwischen sind die Chinesen also flächendeckend über die Missstände im eigenen Land informiert.
Das schürt natürlich auch die Gerüchteküche. So ist auch im Fall der Proteste von Qidong unklar, wie umweltschädlich das Projekt der japanischen Papierfabrik wirklich ist. Weil jedoch im Land so vieles so intransparent ist und die Behörden ja auch nicht freiwillig mit den entsprechenden Unterlagen herausrücken, ist das Misstrauen groß und treibt die Menschen auf die Straßen.
Bislang hat es die Zentralregierung in Peking geschickt geschafft, über diesen zeitlich und örtlich begrenzten Protest den angestauten Frust vieler Bürgerinnen und Bürger zumindest ein wenig freien Lauf zu lassen. Das ist ja bis zu einem gewissen Grade auch durchaus im Sinne der Zentralregierung gewesen. Denn ein bisschen weniger Behördenwillkür und Korruption in den Provinzen kann nicht schaden. Eine Massenbewegung, die sich gar gegen sie richten könnte, die hat Peking aber bisher stets mit harter Hand verhindert.
Fragt sich nur: Wie lange noch? Proteste wie in Qigong werden vielleicht nicht das System als Ganzes ins Wanken bringen. Sie werden jedoch landesweit Schule machen. Und vielleicht mündet der eine oder andere Protest dann auch mal auf dem Tiananmenplatz in Peking. Gründe gebe es zuhauf. Das wäre eine gute Entwicklung. Mehr zivilgesellschaftliches Bewusstsein – das kann auch der Zentralregierung in Peking nicht schaden.