Wenn es um Bestechung geht, liegt die Toleranzschwelle in China eigentlich hoch. Schon lange bevor der Wohlstand in die Volksrepublik kam, gehörte es zum guten Ton, sich gegenseitig Geschenke zu machen – egal ob es um Geschäfte ging oder nur um eine nette Geste. Und wenn dann manchmal in einem hübschen roten Umschlag mit goldenen Schriftzeichen etwas Bargeld steckte – warum denn nicht? Ein paar Scheine schenken Eltern ihren Kindern auch zum chinesischen Neujahrsfest.
Doch was in jüngster Zeit über „Geschenke“ an Beamte und ihren Familienangehörigen öffentlich wurde, übersteigt bei weitem das, was unter Chinesen üblich ist.
Kaum ein Tag vergeht, an dem sich nicht auf Sina-Weibo, dem chinesischen Kurznachrichtendienst, über einen neuen Korruptionsfall beklagt wird. Dazu gehören nicht nur Gefälligkeiten, etwa an Politessen, denen ein Hundert-Yuan-Schein zugesteckt wurde, um einer Strafe wegen Falschparkens zu umgehen. Gelder fließen an die zuständigen Beamten und Parteisekretäre auch dann, wenn es um die Genehmigung von Baugrundstücken, um Steuerhinterziehung oder Schutzgeld geht. Beliebt sind auch Schmiergelder bei Aufträgen an Privat- und Staatsunternehmen. All das ist in China an nicht unbekannt. Neu ist, in welcher Höhe sich so manch ein Kader in den vergangenen Jahren bereichert hat.
Ein Beispiel ist der Fall des örtlichen Parteisekretärs Wang Guoqiang aus Fengcheng, einer Stadt in der noch immer recht armen Provinz Jiangxi: Mit sage und schreibe 200 Millionen Yuan ist er getürmt und hat sich in die Vereinigten Staaten abgesetzt. Das sind umgerechnet rund 25 Millionen Euro.
Wang ist kein Einzelfall. Längst gibt es im chinesischen Sprachgebrauch eine feste Bezeichnung für diese Art von korrupten Staatsbediensteten: Als Luoguan werden sie bezeichnet – nackte Kader. Über Jahre hinweg berauben sie den Bürgern ihres Geldes und schaffen das entstandene Vermögen in Länder wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und Australien. Frau und Kinder haben sie häufig vorher ins Ausland gebracht.
Es ist keineswegs so, dass die Regierung diese Entwicklung verleugnet. Die Renmin Ribao (Volkszeitung), Zentralorgan der regierenden Kommunistischen Partei, hat erst vor kurzem berichtet, dass sich seit 1980 mindestens 4.000 Beamte auf diese Weise abgesetzt hätten – mit insgesamt rund 50 Milliarden Dollar. Das dürfte weit untertrieben sein. Lin Zhe, ein in China bekannter Korruptionsexperte an der Parteieigenen Hochschule in Peking, schätzt, dass allein zwischen 1995 und 2005 1,2 Millionen Staatsbediensteten auf diese Weise die Volksrepublik verlassen haben. Kein Wunder, dass in Vancouver die Immobilienpreise in die Höhe schießen.
Das heißt zugleich auch: Der weltweit so viel beachtete Skandal um Gu Kailai, der Ehefrau des Spitzenpolitikers Bo Xilai, war nur die – wenn auch besonders spektakuläre – Spitze des Eisbergs.
Immerhin hat Chinas Regierung reagiert und vor einigen Tagen eine Hotline eingerichtet, bei der sich Bürger über Korruption und Bestechung von Beamten und Parteikadern beschweren können. Ich habe die Nummer 90160 mal ausprobiert. Entweder war sie besetzt oder es kam die Ansage, niemand sei zu erreichen. Ich solle es doch später noch mal versuchen.