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Chinas Premier kämpft um sein politisches Vermächtnis

 

Erstaunliche Dinge gehen wenige Tage vor Beginn des 18. Parteikongresses in China vor sich: Die New York Times berichtet am vergangenen Freitag über das angebliche Familienvermögen von Chinas Premierminister Wen Jiabao. Es soll rund 2,7 Milliarden Dollar betragen. Wen selbst wird zwar kein nennenswertes Vermögen nachgewiesen. Dafür aber seiner Frau, seinen beiden Kindern, seiner Mutter, und anderen Verwandten.

Die Meldung ist für jeden politisch Interessierten in China keine Überraschung. Dass die Gattin von Wen, Zhang Peili, als Vizepräsidentin der chinesischen Juweliervereinigung und als langjährige Monopolistin im Gold- und Diamantenhandel steinreich wurde, ist seit Langem bekannt. Aus den durchgesickerten Botschaftsdepeschen des amerikanischen Außenministeriums geht außerdem hervor, dass Wen sich sogar „angeekelt“ gezeigt haben soll, wie sich Zhang mithilfe seines Namens Vorteile verschafft hat. Wen hat demnach ernsthaft an Scheidung gedacht. Auch das ist in Peking lange bekannt.

Interessant ist: Wen lässt die jüngsten Anschuldigungen nicht auf sich sitzen. Am Samstag meldete er sich über seine Anwälte zu Wort. „Die sogenannten versteckten Reichtümer bei den Mitgliedern der Familie Wen Jiabao gibt es nicht“, heißt es in einer offiziell von Wen autorisierten Stellungnahme, die in der Hongkong erscheinenden englischsprachigen Tageszeitung South China Morning Post erschien.

Es ist das erste Mal, dass sich ein ranghoher Topkader von einem ausländischen Medienbericht aus der Ruhe bringen lässt und öffentlich Stellung bezieht. Das ist insofern bemerkenswert, als dass der Bericht der New York Times in China überhaupt nicht zu lesen ist. Das Dokument ist blockiert, die Staatsmedien berichten nicht darüber. Die meisten Chinesen sind gar nicht informiert.

Wang Xiangwei, Chefredakteur der South China Morning Post hat eine interessante Analyse verfasst. Er sieht Wen in Zugzwang. Hätte er nicht so zügig reagiert, hätten seine Gegner innerhalb der chinesischen Führung diesen Vorwurf gegen ihn ausgeschlachtet. Auf dem 18. Parteikongress, der in der kommenden Woche beginnt, ist wahrscheinlich noch immer nicht geklärt, wer im Ständigen Ausschuss des Politbüros sitzen wird. Der sieben- bis neunköpfigen Ausschuss ist das eigentliche Machtzentrum der Volksrepublik. Wen, der als Reformer gilt, hatte in seiner Amtszeit einige Gegner in diesem Gremium sitzen.

Das klingt plausibel. Ich gehe aber noch einen Schritt weiter: Wen hat auch deshalb reagiert, weil er sich zu Unrecht von der New York Times vorgeführt fühlt.

Zur Erinnerung: In China sind in den vergangenen Jahren binnen kurzer Zeit rund 1,4 Millionen Menschen zu Dollar-Millionären geworden. Eine solche Entwicklung ist vielleicht vergleichbar mit der Gründerzeit im Deutschen Kaiserreich oder mit den Zeiten in den USA, als es Tellerwäscher wirklich noch zu Millionären geschafft haben. Es stimmt: Dass im kommunistischen China die reichsten 70 Delegierten des Volkskongresses über ein Vermögen von insgesamt rund 90 Milliarden Dollar verfügen, spricht nicht für das System. Dass die Familie von Wen dazu gehört, ist jedoch bei so vielen reichen Kadern nicht verwunderlich. Im Übrigen: Auch in den USA kommt – mit Ausnahme vielleicht des derzeitigen US-Präsidenten – so gut wie jeder Präsident oder Präsidentschaftskandidat aus einer wohlhabenden und einflussreichen Familie.

Die New York Times berichtet selbst, dass keinesfalls bewiesen ist, dass Wen sich tatsächlich der Vorteilsnahme schuldig gemacht hat, indem er in seiner Rolle als Premier seinem Bruder, Schwager oder Schwippschager mit Absicht Aufträge zugeschanzt hat. David Barboza, der Verfasser des Artikels betont auf Anfrage von ZEIT ONLINE, dass er in seinem Artikel Wen Jiabao keine konkreten Vorwürfe macht. Er habe in seiner Geschichte lediglich das zusammengetragen, was er über das Vermögen der Familie weiß. Barboza: „Ich lasse die Geschichte für sich selbst sprechen.“

Erst durch andere Medienberichte erschien das Zerrbild von Wen als korrupter Machthaber. Dabei sollte auch bei politischer Skandalisierung zuerst einmal die Unschuldsvermutung gelten. Der Fall Wen Jiabao unterscheidet sich insofern von Bo Xilai, dem in Ungnade gefallenen Spitzenpolitiker, dem nun wegen Korruption und Selbstbereicherung der Prozess gemacht wird.

Wen geht es nun um sein politisches Vermächtnis – vor allem im Ausland. Das zeigte sich bereits bei Merkels China-Besuch Ende August. Obwohl die deutsche Kanzlerin bereits im Februar in China war, bestand er auf die jährlich vereinbarten deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen bevor er im November seine Parteiämter abgibt. Wen möchte nicht als korrupter Regierungschef in Erinnerung bleiben, der in seiner Amtszeit seinen Familienmitgliedern zu Reichtum verholfen hat. Er will als derjenige in die Geschichte eingehen, der China im vergangenen Jahrzehnt zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gemacht hat.

Auch wenn der Streit zwischen ihm und den ausländischen Medien nur im Ausland ausgefochten wird und die chinesische Öffentlichkeit kaum etwas davon mitbekommt – die Debatte ist ein gutes Zeichen. Erstmals fühlt sich ein Topkader überhaupt genötigt, sich in der Öffentlichkeit zur Wehr zu setzen. Das lässt hoffen – auf mehr Transparenz in Pekings Blackbox.