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Zurück zu den Hunden

 

Jeder hat Psychosen. Auch unsere Hunde. Warum die Instrumente der Psychologie nur noch dazu da sind, Antworten auf Fragen zu finden, die es eh nicht gibt.

Ein Bekannter von mir hatte mal einen chinesischen Nackthund, der als sogenanntes Notfell aus einer spanischen Todesstation gerettet worden war. Er konnte sich auf Kommando mit den Pfoten die Augen auswischen, kam aber nie, wenn man ihn rief.

Wenn ich mich hatte breitschlagen lassen, mit diesem Bekannten auf irgendeine Ackerfläche nach Niederschönhausen zu fahren, analysierte er während des zweistündigen Spaziergangs detailgenau, warum er als Sechstklässler seinem Klassenkameraden den Arm gebrochen hatte oder bis heute manchmal völlig grundlos zu heulen anfing. Für alles, was ihm an sich selbst „nicht normal“ erschien (Schlafprobleme, zwei gescheiterte Ehen sowie der permanent thematisierte, ritterliche und selbstlose Impuls „anderen helfen zu müssen“) hatte er eine messerscharfe, im gespannten Verhältnis zu seinen Eltern liegende Erklärung. Seine Eltern waren ein linksorientiertes Ehepaar aus Düsseldorf-Ulmbrink, Vater Ingenieur, Mutter Hausfrau, genau genommen also das, was ich in der Grundschule jahrelang als meinen eigenen familiären Background vorgelogen hatte.

© Kathrin Krottenthaler
© Kathrin Krottenthaler

Was meinen Bekannten noch mehr zu beschäftigen schien als seine eigene Psyche, war die Psyche seiner Freunde, denen er abwechselnd permanente Selbstbezogenheit oder entfesselten Jähzorn unterstellte, beides Eigenschaften, die ihm in seinem „hochsensiblen Helfer-Syndrom“ angeblich fremd waren.

Wir liefen durch moorige Landschaften an Naturschutz-Eichen vorbei. Der Hund wälzte sich in Taubenkadavern oder rempelte alte Ehepaare an. Zwei Wochen später gab der Bekannte den Hund ins Tierheim. Er hatte zweimal hintereinander in sein Bett gekotzt, das Internetkabel angenagt und sich den Brustkorb geprellt. Ich begann, den psychologischen Erkundungstrieb meines Bekannten grundlegend infrage zu stellen.

Ich sagte ihm, dass er mich nervte, woraufhin er mir einen „narzisstischen Geständniszwang“ unterstellte und den Kontakt abbrach, um sich „zu schützen“.

Das war auch schon die ganze Liebesgeschichte. Den Hund sah ich nie wieder. Dafür habe ich jetzt einen eigenen, und der hat Freunde: Hunde, die zum Tierpsychologen müssen, weil sie nicht mehr fressen oder stundenlang auf terracottafarbene Blumentöpfe starren. Andere pinkeln nur im Handstand, haben eine Allergie gegen Leberwurst oder sich beim Agilitytraining die Sehne in der Vorderpfote angezerrt.

Außerdem kennen wir zwei narbenübersäte Pitbulls, die, nachdem man sie aus dem Tierheim mitnahm, als erste Amtshandlung die Katzen ihrer neuen Besitzerin zerfleischt haben.

Die Besitzerin ist eine ambitionierte Tierrechtlerin im „kampf dem kapitalismus“-Sweatshirt, zusammen mit den Pitbulls lief sie vorgestern durch den Görlitzer Park in Berlin. Einer der Hunde hatte ein Blumenbouquet gefressen, es aber offensichtlich nicht anständig verdaut, der Strauß hatte sich so fest in seinem Darmausgang verkantet, dass er ihn über zwanzig Meter erfolglos abzuschütteln versuchte.

Die Besitzerin musste ihm die Margeriten aus dem Arsch zu ziehen. Es gab keine andere Lösung. Nachdem sie das geschafft hatte, übergab sie sich. Sie bückte sich zu ihrem Rucksack, holte etwas zum Aufwischen raus, der Pitbull fing an, ihre Kotze fressen. Sie sah nach links, wo sich eine zehnköpfige Gruppe lokalprominenter Frauen gerade um einen Verhaltenscoach drapierten, den sie für viel Geld aus Amerika hatten einfliegen lassen, um ihre Ehen zu retten. I kid you not.

Die Frauen lachten. Wahrscheinlich über Hitler, die Atombombe, den Nato-Doppelbeschluss und über Ebola.

Sie sah nach rechts, und dort saß ich.

Ich sagte: „Keine Sorge, ich hab’s nicht gefilmt.“

Sie reagierte nicht, nahm den Hund auf den Arm, und trug ihn aus dem Park. Ich blieb sitzen. Auf Frauen der gehobenen Mittelklasse zu starren, die sich am größten Drogenumschlagplatz Berlins auf Manolo-Blahnik-Heels von einem Amerikaner einreden lassen, sie könnten durch meditative Spaziergänge „Antworten“ finden, auf was für Fragen auch immer, ist schön.

Weniger schön ist, was sie antreibt: ein komfortabler medizinischer Materialismus, der alles, was heilig ist, mit Darmbeschwerden oder der Klassifizierung psychischer Verhaltensstörungen neutralisiert. Temperamentvolle Ungewissheit, Selbstmordgedanken, Kriege oder das religiöse Erweckungserlebnis der heiligen Theresa sind ihrer Meinung nach ausschließlich eine Sache von sexueller Frustration, überreizter Nerven oder Problemen im Verdauungstrakt.

Mehrere Dinge auf der Welt ärgern mich. Zum Beispiel, dass die Instrumente der Psychologie …

Sie wissen schon.