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Meine Ohrwürmer (1): Die C-Dur-Tonleiter

 

Unser Autor Florian Werner wird andauernd von Ohrwürmern heimgesucht. Was wollen sie ihm nur sagen? In dieser Reihe begibt er sich auf die Spuren der allgegenwärtigen, aber noch weitgehend unerforschten Lebewesen.

Beschreibung: Eine trügerisch schlichte C-Dur-Tonleiter, c-d-e-f-g-a-h-c. Wenn der oberste Ton erreicht ist, springt mein Ohrwurm eine Quinte nach oben und singt eine G-Dur-Tonleiter. Wenn deren oberster Ton erreicht ist, springt er wieder auf das c und singt eine weitere C-Dur-Tonleiter, nur diesmal eine Oktave höher. Wenn deren höchster Ton erreicht ist, springt er um eine Quinte nach oben … und so weiter.

Vorkommen: Sehr häufig. Keine erkennbaren Auslöser.

Bedeutung: Zweierlei ist an dieser scheinbar simplen Melodie interessant. Erstens verfügt mein Ohrwurm über das absolute Gehör: Er beginnt seine Tonleitern stets mit einem lupenreinen c in einer Schwingung von 261 Hertz (kein Witz: Ich bin gerade zum Klavier gegangen und habe es nachgeprüft). Dies ist umso erstaunlicher, als ich selbst über kein absolutes Gehör verfüge, anders gesagt: Der Ohrwurm ist musikalischer als ich.

Zweitens kann mein Ohrwurm diese Etüde beliebig lang fortsetzen. Wie bei einem Trugbild von M. C. Escher, auf dem Menschen eine scheinbar endlose Treppe immer weiter nach oben steigen, schraubt mein Ohrwurm sich höher und höher. Wie er das macht, ist mir schleierhaft − wenn ich versuche, es ihm gleichzutun, muss ich spätestens nach zwei Oktaven kieksend abbrechen.

Damit ist klar, wes Geistes Kind dieser Ohrwurm ist: Er ist ein Verfechter der wirtschaftsliberalen Ideologie des unbegrenzten Wachstums. Wie meine sich so rätselhaft in die Höhe schraubenden Escher-Tonleitern, scheint er sagen zu wollen, kann auch das Bruttoinlandsprodukt immer weiter steigen. Wenn alle Ökonomien so stetig in die Stratosphäre gingen wie ich, wären wir alle Rezessionssorgen los.

Was mein Ohrwurm dabei vergisst: Er kann nur so lange singen und steigen, wie das System, von dem er sich parasitär ernährt, ihn noch erträgt. Es ist auf mein Hörzentrum als Lebensraum angewiesen − und meine Geduld ist allmählich am Ende: Spätestens wenn mir wegen dieser ständigen C-Dur-Tonleitern der Schädel platzt, sind auch für ihn die Grenzen des Wachstums erreicht.