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Der Schmerz der Nachgeborenen

 

Ein junger Mann hinkt. Sein Vater war in Auschwitz. Wie hängt beides zusammen? Wir müssen begreifen, dass die Vergangenheit in unserer Gegenwart anwesend ist.

© Christopher Furlong/Getty Images
© Christopher Furlong/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE

Bis ins dritte oder vierte Glied suche Gott die Missetaten der Väter heim an den Kindern, heißt es im Alten Testament. Zu den Glaubensinhalten der Bibel mag man stehen wie man will, ein über lange Zeit zusammengetragenes Archiv menschlichen Erfahrungswissens, dargeboten in Geschichten, ist dieses Buch gewiss. Bis ins vierte Glied, sagen Psychologen heute, bis ins dritte. Dabei blicken sie auf beide Seiten, Opfer wie Täter. Auf beiden Seiten werden noch in den Lebensläufen der Enkel und ihrer Kinder Gefühle und Ängste wirksam, die aus den Leben der Großeltern stammen.

Wir denken, allemal in diesen Tagen, an denen sich die Befreiung von Auschwitz jährt, an deutsche Täterschuld, an die siebziger Jahre und ihre Auseinandersetzungen von Söhnen und Töchtern mit Vätern, die zur SS gehörten oder als Handlanger der Nationalsozialisten fungierten, mit Eltern, die wussten, profitierten und wegsahen. Wir denken an die Auseinandersetzung mit diesen Familienfragen auch eine Generation später – bezogen auf spätgeborene Eltern, selbst Kinder während des Krieges, die die eigenen Eltern nicht befragten. Wir haben von der Neigung der Enkelgeneration gehört, die eigenen Großväter in Schutz zu nehmen, gehört vom Wirken einer dem Einzelnen nicht bewussten selbstschützenden Blindheit, haben, hoffentlich, besser zu verstehen gelernt, wie stark der Wunsch nach einem guten Familienbild unsere Wahrnehmungen, auch jene in bester Absicht, untergründig prägt. Und wir wissen, dank der Forschung zunächst in Holocaustfamilien, dass Schuld und Leid insbesondere dann, wenn das Erlebte traumatisierend oder sehr belastend war, weniger durch Worte als durch Schweigen weitergegeben werden.

Wir wissen es, weniger selten, als man noch vor zwanzig Jahren angesichts des öffentlichen Diskurses hätte glauben wollen, oft genug auch aufgrund eigener, von kriegsgeschädigten Großeltern und Eltern übernommener Lebensängste und Gefühlsdefizite.

Die Befreiung von Auschwitz ist als Akt ebenso inkommensurabel wie die Existenz von Auschwitz.

Der Schrecken endete.

Und endete nicht.

Jahrzehnte später fiel auf, dass sich in den Berichten der Kinder und Enkel von Holocaustüberlebenden Gefühle von Nichtidentität, unheimliche Träume, unerklärliche Ängste häuften. Finstere Ballungen. Schrecken und Verzweiflung, vermittelt durch Schweigen. Es dauerte, bis man begreifen oder wahrhaben wollte, wie unvergangen Vergangenheit sein kann. Nicht, weil wir sie in Erinnerung halten wollen als Gedenken, Trauer und Mahnung. Sondern weil sie wirksam wird in Menschen, die erst zur Welt kamen, als das zerstörende Geschehen auf der Ebene der äußeren, sichtbaren Ereignisse bereits beendet worden war.

Psychologen sprechen von postgenerationeller Traumatisierung.

Die Weitergabe seelischer Verletzungen innerhalb eines Familienzusammenhanges trifft nicht jeden: Manchmal werden die Aufgaben des Bewahrens in Körper und Gedächtnis zwischen Geschwistern aufgeteilt. Der eine scheint empfindlicher zu sein als der andere, der eine übernimmt das Familienerbe, der andere zieht davon. Was geschieht, ist erschreckend und berührend zugleich. Ein Freund, ich nenne ihn Sami, ein amerikanischer Dichterkollege, war der erste, der mich eine Geschichte dieser Art sehen ließ.

Im Sommer 1996 in Berlin erzählte er mir von seinen Rückenproblemen in den vergangenen Jahren – sie hatten so weit geführt, dass er sich zeitweise fast nicht mehr bewegen konnte – und von der nahezu magischen Heilung von all diesen Beschwerden. Sami war damals knapp unter 40, viel zu jung für seine Symptome. Man hatte ihn geröntgt, in die MRT-Röhre geschoben, abgetastet, den gesamten Körper „durchgecheckt“, ohne eine Erklärung zu finden. Mein Freund muss verzweifelt gewesen sein. Er machte sich auf die Suche nach alternativen Heilmethoden und stieß auf Feldenkrais. Erst dort fiel jemandem auf, dass Sami auch dann hinkte, wenn er keine Schmerzen hatte. Das Hinken war tatsächlich kaum wahrnehmbar, ich hatte es nie bemerkt; nur der geschulte, genaue Blick und eine Ganganalyse hatten es zu Tage gebracht. Bald stellte sich heraus, dass Samis Hinken auf dem linken Bein – er rollte den Fuß nicht richtig ab, obwohl er das, rein anatomisch, mühelos hätte tun können und auf der rechten Seite auch tat – schuld war an bestimmten einseitigen Abnutzungen und Verkürzungen des gesamten, beim Gehen aktiven Knochen-, Sehnen- wie Muskelapparates. Er musste neu gehen lernen; seine Beschwerden besserten sich und nach einigen Monaten intensiven Trainings fand er sich wieder so beweglich wie es seinem Alter entsprach.

Unglaublich war seine Erklärung: Sein Vater hatte auf dem rechten Bein gehinkt. Ich erinnere mich nicht, ob Sami mir damals in klaren Worten erzählte, dass sein Vater Überlebender des Holocaust war; ich erinnere mich heute daran, das damals zumindest vermutet zu haben. Schon als Kleinkind, beim Laufenlernen, hatte Sami das Hinken des Vaters übernommen. Nicht, weil er hätte annehmen müssen, der Mensch könne nur so laufen – andere in seiner Nähe, etwa seine Mutter, hinkten nicht. Dass es sich nicht einfach um einen Fall von Imitation handelte, zeigte sich auch in der „Verwechslung“ des rechten und linken Beines. Sami hatte ein Leben lang, sich selbst unbewusst, das Hinken des Vaters mit dem eignen Körper spiegelnd aufgefangen, sodass sie, erklärte er mir, wenn sie auf die richtige Weise nebeneinander gingen, nämlich er an der rechten Seite des Vaters, zusammen einen ganzen, gehrichtigen Menschen ergaben: ein nicht hinkendes rechtes und ein nicht hinkendes linkes Bein außen.

Kinder versuchen, ihre Eltern zu stützen und zu halten. Sie suchen auszugleichen, erlittenes Unrecht gut zu machen oder wenigstens zu lindern. Ohne Vorstellung, welchen Preis sie dafür zahlen.

Ich umarmte Sami. Erschrocken, und berührt. Am Grund seiner Geschichte, inmitten des unausgesprochenen Leidens, hatte sich unverhofft etwas so ganz Anderes gezeigt: die bedingungslose Liebe eines Kindes.

Lassen Sie uns daran denken.

Lassen Sie uns in diesem Sinn verstehen, wie Vergangenheit „unter uns“ ist. Wie wir in mehreren Zeitschichten zugleich leben – ob wir wollen oder nicht.

Wie andere, neben uns, es tragen und spüren.