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Der Hass bleibt auf der Strecke

 

Schade. Der Streik ist schon vorbei. Der hat immerhin dazu geführt, dass alle zu Hause bleiben mussten, die sonst ihre sozialen Abgründigkeiten in den Abteilen entladen.

© Adam Berry/Getty Images© Adam Berry/Getty Images

Wer an einem verlängerten Wochenende mit der Bahn Berlin verlässt und einen Ausflug macht, kann im Regionalexpress erleben, warum die europäische Flüchtlingspolitik so ist, wie sie ist, warum es Pegida gibt und was es heißt, deutsch zu sein.

Bei der Hinfahrt Richtung Usedom am vergangenen Donnerstag, Christi Himmelfahrt, schieben und stapeln die Fahrradfahrer ihre Räder im Zug in- und übereinander. Alle schimpfen über die Deutsche Bahn, an diesem Feiertag keine Sonderzüge einzusetzen, sind aber überwiegend frohen Mutes, von der Zuversicht geleitet, unbeschadet und einigermaßen pünktlich ans Ziel zu gelangen.

Auf der Rückfahrt am Sonntag herrscht dagegen eine Das-Boot-ist-voll-Atmosphäre. Offenbar liegt die Toleranzschwelle für Konflikte aller Art eine Woche nach dem längsten Bahnstreik in der deutschen Nachkriegsgeschichte niedriger als je zuvor. Als sich am Bahnhof in der Uckermark die Türen öffnen, heißt mich ein alter Mann mit Beinschiene mit den Worten willkommen: „Hier ist kein Platz mehr.“

Auf seinem Pullover, das sehe ich erst, als ich einsteige, steht: Team Deutschland.

„Auf der Hinfahrt war’s voller“, sage ich und stelle mein Rad ins nahezu freie Fahrradabteil.

Bei jeder Station stöhnen die Leute im Waggon angesichts der Wartenden auf dem Bahnsteig laut auf. Sie sagen: „Oh Gott!“ Und: „Noch mehr!“ Und: „Wo sollen die denn noch hin?“ Und doch geht es, und doch findet sich für jeden ein Platz.

In Angermünde steigt ein junger Mann ein und fragt ein vor mir in einem Vierer sitzendes Paar, offenbar Mutter und Sohn, ob neben ihnen noch frei sei.

„Nee“, sagt die Frau.

„Aber hier sitzt doch niemand.“

„Hier soll och niemand sitzen“, sagt der Junge. Er hat, das sehe ich durch die Sitze hindurch, extrem kurze Haare, trägt eine Goldkette und umklammert seinen Rucksack, als müsse er ihn vor dem Zugriff des Fremden verteidigen.

„Sie sehen doch, wie voll det hier is“, sagt die Frau, mit jedem Wort lauter und lauter werdend. „Det is ein Fluchtweg.“

„Für wen?“

„Für mich. Fürs Klo. Oder wollen Se mir den Arsch abwischen, wenn ick hier hinscheiße?“

Der junge Mann kommt kopfschüttelnd zurück, setzt sich hinter mir auf die Treppe und holt ein Buch hervor mit dem Titel Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten – wie als Kommentar zum eben Erlebten.

Ein paar Stationen später, inzwischen stehen wir dicht gedrängt nebeneinander, erzählt er von seinen Weltreisen, von Indien, von Nicaragua, wo er stundenlang mit dem Bus unterwegs gewesen sei, weil für jeden an der Straße Stehenden angehalten werde. Und jeder habe Gepäck dabei, Hühner, Koffer, Kisten, Fahrräder, und jeder werde mitgenommen, und keiner beschwere sich über die Dauer der Fahrt, über den mangelnden Komfort, die stickige Luft, die Enge, den Schweiß der anderen. Erst spricht er ganz ruhig, als habe er die Philosophie des Buches bereits verinnerlicht. Doch je länger er redet, desto aufgeregter wird er. Schließlich bricht es doch aus ihm heraus, und er lästert über den „Stoffel“ und die „Bratze“, die ihm den Platz verweigert haben: „Wenn man gehirnamputiert ist, sind Argumente natürlich nutzlos. Frieden beginnt im Kopf.“ Ein Fahrradfahrer neben uns mit Fahrradlenkermotiv auf dem Kapuzenpullover schaltet sich ins Gespräch ein und fragt: „Sie meinen den Typ mit dem Hundehalsband da drüben?“ Wir nicken beide und verspüren eine große Solidarität untereinander.

„Das ist Deutschland“, sagt der junge Mann mit dem Buch.

„Das ist Europa“, sage ich.

In dem Moment halten wir in Berlin-Gesundbrunnen. Damit die anderen aussteigen können, schieben wir unsere Räder auf den Bahnsteig. Ein Schwarzer mit Aktenkoffer drängelt sich vor, und eine blonde Frau bittet ihn, die Leute doch erst einmal rauszulassen. „Ich habe selbst Augen im Kopf“, schreit er. „Von dir lass ich mir keine Befehle erteilen.“

„Seien Sie doch nicht gleich so aggressiv.“

„Ich bin aber aggressiv. Ich hau dir gleich in die Fresse.“

Und als wir alle wieder drin sind und unsere Fahrt zum Hauptbahnhof fortsetzen, sagt der Fahrradfahrer neben mir: „Na, das nenn ich mal gelungene Integration.“

Ein paar Tage später sitze ich zu Hause und will meine kommenden Bahnreisen planen, da geht der nächste Streik los. Womöglich, denke ich, wird es danach – also schon morgen? – landesweite Ausschreitungen geben, Massenschlägereien, kollektiven Vandalismus, allerorts brennende Asylbewerberheime, und ich beschließe, für eine Weile – vielleicht sogar bis nach den Sommerferien oder nach Weihnachten – meine Wohnung nicht mehr zu verlassen.

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