Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Der Muttersprachenillusion auf der Spur

 

Engländer geraten nicht vom Regen in die Traufe. Sie springen von der Grillpfanne ins Feuer. Unser Bild von der Welt hängt von der Sprache ab, die wir für sie finden.

Ich stehe in einem Oxforder College-Büro, wo man mir erklärt, wo die Drucker zu finden sind. Es schüttet, was nichts macht, nass bin ich schon. „Walk through Monk’s Passage, turn to your right at the scaffolding, look for the tiny staircase, if it is flooded, just climb over… “ Gestern Abend ist der Feueralarm in meinem Miethaus innerhalb von zehn Tagen zum 13. Mal losgegangen. Ohne jeden Anlass, wie immer. Jetzt die Flut.

Are you still with me?„, fragt die IT-Frau. Ich nicke. Sie beginnt ihre Erklärung von vorn, zeichnet dazu. Sieht nach einer halben Meile aus, mindestens. Statt vom Regen in die Traufe zu geraten, springen die Engländer von der Grillpfanne ins Feuer. Verstehe. Kommt mir ausnehmend vernünftig vor!

Redewendungen sind chatter-bags: kleine Plaudertaschen. Verraten Träume und Ängste. Und immer auch das Wetter! Sehr viel öfter als einem funktionierenden Drucker bin ich inzwischen englischem „drizzle“ begegnet. Er fiel auf mich herab, während alle Engländer so taten, als handele es sich bei diesem Wasser um Luft. Unter diesen Bedingungen können Regen und Traufe keine Kategorien seien, um die Verschlechterung eines Zustandes auszudrücken (die Menschen hierzulande müssen ein amphibisches Moment erfolgreicher im Körper bewahrt haben als im fernen „Europe“). Da man für alles einen Preis zahlt (sagt man das auch auf Englisch?), hat man dafür mehr Angst vor Flamme und Rauch.

Redewendungen: Der Muttersprachenillusion auf der Spur
© Donald Miralle/Getty Images

Sprachen bewahren und verstärken nationale Eigenheiten. Sie geben Bilder vor, in denen Erfahrungen und Weltsichten gespeichert werden, legen Zusammenhänge nahe, schreiben Differenzen fest. Und bestimmen, was der „common sense“ zu wissen meint. Wie sehr sie dies tun, spürt man, wenn man die erste Fremdsprache lernt. Wie kann es sein, dass die Russen für „blau“ zwei Wörter haben, wenn ich doch nur eine Farbe sehe. Und auch noch glaube, das sei richtig, der eine naturgemäße Blick in die Welt, nein in „die Welt“ an sich! Diese Muttersprachenillusion lässt sich gut mit dem herrlichen „Die Engländer fahren auf der falschen Seite“ vergleichen. Das stimmt. Aber stimmt aus englischer Sicht genauso: auf der falschen Seite fahren wir.

Jede Sprache hat eigene Regeln dafür, wie etwas miteinander verknüpft bzw. voneinander unterschieden wird. Mein Kind staunt, dass man hier Substantive mit „of“ aneinanderhängen muss. Für einen Augenblick wird fühl- und sichtbar, was für eine Klebstoffsprache das Deutsche doch ist.

Semantische Unterschiede? Geschenkt. Dass balls nicht nur Bälle oder Kugeln heißt, weiß das Kind und bestellt in der Eisdiele scoops. Dann wieder diese Nähe, sogar Reime sind analog: tame und lame, lahm und zahm. Doch warum heißt bear „Bär“ und „tragen“? Warum sitzt die englische Teekanne auf dem Tisch statt zu stehen? Und erst kettle und cattle! Ergebnis: die Engländer kochen Wasser im Rind.

Was erst einmal festzuhalten und zu bewundern ist.

Zweitens: Kommt Literatur diesen Sprach- und Welt-Eigenheiten auf die Schliche? Entlarvt sie sie gar?

Die Antwort auf die erste dieser Fragen lautet: selbstverständlich. Wie sonst wäre Literatur Literatur – die Kunst, die davon lebt, Welt in Sprache zum Funkeln zu bringen. Um knapp, präzise, unterhaltend und schön von so realen wie imaginären, erfundenen wie fiktiven wie wahren Leben zu erzählen.

Zugleich lautete die Antwort auf die erste Frage (ja, die erste): nein! Zumindest, was die Schliche-Metaphorik angeht, die die Frage auf Deutsch ausmacht: nachschleichen, heimlich ausforschen, ein Versteck aufspüren. In Sprache ist nichts versteckt. Es liegt zutage, man muss es nur sehen wollen oder können. Dafür ist Literatur gut; mit ihr geht es wie mit dem Brief in Edgar Allan Poes Erzählung The Purloined Letter. Offen liegt er da – sodass niemand ihn sieht, weil jeder davon ausgeht, er sei höllisch gut versteckt.

Literatur nutzt die Wahrnehmungsweisen und Überzeugungen, die Sprache enthält. Das mag manchmal entlarvend sein. Gewiss, die eine oder andere fiktive Figur wird so „gebaut“, dass sie sich über ihre Sprechweise selbst verrät. Ein Gedicht wird immer zeigen, wie die Sprache, die das Gedicht selbst ist, die Welt zerlegt und wiederverknüpft, wie es sie mit rhythmischen Phantasien, lautlichen Spiegeln und historischen Bildern und Wissensgerinnungen füllt. Entlarvung als „wir stoßen von der irreführenden Oberfläche zur Wahrheit vor“ wird es dabei indes nicht geben. Denn Sprache ist Sprache ist Sprache ist…

Statt von Entlarvung möchte ich von Forschung mit Sprachstrukturen und Freude am Weltenbau mithilfe von Wörtern und Grammatik sprechen. Wer sie sucht, ist gut beraten, sich einer literarischen Übersetzung zuzuwenden und sie neben das Original zu halten.

Welche Achterbahnfahrt!

Julian Barnes‘ jüngster Roman heißt The Sense of an Ending. Ein eher gewöhnlicher Ausdruck im Englischen. Dass „Der Sinn eines Endes“ im Deutschen falsch ist (hässlich zudem), ist evident. „The sense of an ending“ bedeutet auch, ein Gefühl dafür zu haben, dass etwas zu Ende geht. Das Englische spannt durch die Kombination der Mehrfachbedeutung von ’sense‘ als Sinn und Gefühl/Empfinden (die uns in dem Wort ‚Sinn‘ nicht fremd ist, sich hier aber nicht abrufen lässt) mit dem zweideutigen of-Genetiv die Bewertung eines faktischen Geschehens (Sinn bzw. Zweck eines „Endes“) mit dem Erleben eben dieses Prozesses in einem Ausdruck zusammen.

Literatur lebt vom Einsatz derartiger Abkürzungen, Verklebungen und Mehrfachbedeutungen. Sodass man beim Übersetzen bzw. vergleichenden Lesen von Übersetzung und Original Satz um Satz durch die Eigenheiten der einen wie anderen Sprache geführt wird. Auf keine andere Weise ist das so intensiv und dabei so bequem möglich: solange ich mich nur in einer Sprache bewege, bin ich ihr gegenüber blind. Sie ist mein einziges Erkenntnisinstrument. Will ich auf sie blicken, brauche ich einen Standpunkt außerhalb ihrer selbst.

Auf der ersten Seite von The Sense of an Ending, das man auf Deutsch unter dem Titel Das Ende einer Geschichte finden wird, liest man den einfachen Satz: „No, I mean ordinary, everyday time, which clocks and watches assure us passes regularly; tick-tock, click-clock.

Kaum will man übersetzen, findet man sich heillos verstrickt. Weder Semantik noch Lautlichkeit noch Grammatik wollen passen. Allein schon dieses clocks and watches. Das Englische unterscheidet Uhrentypen zwingender als das Deutsche. Wanduhren, öffentliche Uhren, tickende Uhren, stille Uhren, Uhren an Menschen. Inzwischen auch auf Tablets, Handys, Computern. Spricht Barnes gezielt nur von watches (als Armbanduhren), weil das zum Alter der sprechenden Figur passt (die später im Buch aber durchaus Computer benutzt)? Oder nimmt er schlicht das, was im Englischen Standard ist, wenn man an Zeitangaben denkt? Sodass man mit „Uhren“ übersetzen sollte?

Wunderbar auch die Geradeaus-Konstruktion „assure us passes regularly„. Das Deutsche macht eine Kurve, oder auch zwei. „Nein, ich meine unsere gewöhnliche, alltägliche Zeit, die, wie sämtliche Uhren ohne Unterlass kundtun („uns versichern“ scheint mir zu personifizierend), äußerst gleichmäßig vergeht (verrinnt?): tick-tack, klick-klack.“

Oder „tick-tock„. Die Wiederholung von „clock“ geht so oder so verloren.

Literatur dient ihrem Leser als Spiegel. Eine literarische Übersetzung erhält diesen Spiegel, indem sie ihn verändert. Legt man sie neben das Original, treten die Veränderungen zutage. Sie lösen Sprache und „Welt“ ein Stück voneinander. Auf die Schliche kommt man dabei, im besten Fall: sich selbst.

You are still with me, aren’t you„, sagt die IT-Frau, „And please avoid to even only try to climb any wall in our precincts. It might collapse. I’ve been pulling your leg!

Ich schaue an meinem Bein hinunter. Es sieht normal aus. Die Hose ist nass von unten bis zum Knie.

Don’t worry„, antworte ich, „I didn’t mean to try it with this bear tied to my back.

Schade, dass ich den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht fotografierte. Weitere Kurzkommereien meinerseits (short-comings, yes!) bitte ich ebenfalls zu entschuldigen. Ausgedruckt habe ich an diesem Tag nichts mehr. Ich fuhr nach Hause. The Sense of an Ending wurde im Rucksack vollkommen durchweicht. Nun warte ich auf den Feueralarm.

_________________

Sie möchten keinen Freitext verpassen? Aufgrund der großen Nachfrage gibt es jetzt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.