Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Fertig, fertiger, am fertigsten

 

Eine goldene Erziehungsregel besagt: Beherberge keine Kinder, die längst ausgezogen sind. Natürlich kommen sie doch immer wieder. Allseitige Überforderung ist garantiert.

© Shannon Stapleton/Reuters Pictures
© Shannon Stapleton/Reuters Pictures

Wann immer ich nachts wach werde, mein Sohn David ist auch wach. Mal schaut er neue amerikanische Serien, mal liest er in historischen Magazinen oder verfolgt die Nachrichten auf Spiegel online. Da würde ich auch nicht mehr schlafen können. Er sagt, er leide an einer schweren Form von Schlaflosigkeit, ich bin mir da nicht so sicher. Morgens schläft er umso länger, schaut träge auf sein iPhone und schläft weiter.

Mein Vater, also sein Großvater, war nicht unähnlich, gleich nach der Tagesschau schlief er ein, und um zwei, drei Uhr nachts war er wieder wach. Ab da verfolgte er auf allen Radiosendern des In- und Auslands die Nachrichten, ging frisch gebadet um sechs Uhr morgens in sein Arbeitszimmer und beklagte sich bitterlich, dass nicht alle schon so munter seien wie er. Natürlich war er beleidigt, wenn man ihm sagte, er leide nicht an Schlaflosigkeit, er habe einfach einen verdrehten Rhythmus. Wie auch immer – es war unmöglich, ihn dazu zu bringen, nicht um 20.15 Uhr, direkt nach der Tagesschau, einzuschlafen.

Diese Semesterferien ist es bei David besonders schlimm. Ich überlege, mir Rat zu holen.

Generell gilt ja, das sagt einem jeder Erziehungsratgeber: Kinder, die einmal ausgezogen sind, soll man nicht wieder beherbergen. Man fällt augenblicklich in alte Mechanismen zurück, auf beiden Seiten: „Steh auf, es ist fast Mittag, ich habe Ferien, das ist übrigens die Waschmaschine, wer hat meine T-Shirts zu heiß gewaschen… usw“

Was mir aber ernsthaft Sorgen macht, ist die innere Unruhe, die David packt, sobald er bei Dreilinden Berlins Stadtgrenze überschreitet. Es ist eine Mischung aus „bloß nichts verpassen“ und „es ist mir alles zu viel“. Weil er drei, vier Monate nicht in seiner Geburtsstadt war, geht er die erste Woche praktisch durchgehend aus, um die zweite krank im Bett zu verbringen. Halsweh, Kopfweh, Husten. Auch das ist noch nichts Ungewöhnliches.

Nachdem alle Ärzte konsultiert, alle Allergietests überwunden sind mit dem beruhigenden Ergebnis, der Junge sei kerngesund, bleiben noch weitere vier Wochen Semesterferien.

Wenn wir uns mitten in der Nacht oder in den allerfrühsten Morgenstunden auf dem Sofa treffen, herrscht eine besondere Stimmung, eine Art Schwerelosigkeit. Die Streitereien vom Tage liegen scheinbar weit, weit zurück. Das Gewicht des Alltags, des neuen Tages drückt noch nicht auf die Seele, wir können entspannt miteinander plaudern. Warum ich um diese Zeit wach bin, lasse ich mir nicht anmerken. Statt zu schlafen, halten mich bohrende Gedanken wach, ob das Geld reicht für Winterreifen und Implantat? Ob ich die letzte Operngage nicht unbedingt hätte höher verhandeln müssen? Wieso männliche Regisseure noch immer mehr verdienen als ihre Kolleginnen? Dass ich nachts nicht schlafen kann, ist also einleuchtend und hat seine Gründe. Aber mein Sohn?

„Bist du eigentlich auf der Uni auch so fahrig?“, frage ich unschuldig. Was, wenn er das Studium abbricht und wieder ganz nach Hause zieht?

„Nein“, erwidert er sehr kurz angebunden und liest weiter.

„Also, was ist dann … irgendwas muss es doch … normal ist das doch nicht!“ Ich bin so mutterlike, dass ich mich freiwillig schäme.

Stille.

Stille.

„Berlin macht mich fertig!“, presst er nach einer Weile durch die Lippen.

Ich lache: „Dein Berlin macht dich fertig? Was heißt das denn? Geh halt nicht so oft aus… Wer zwingt dich denn dazu?“ Das muss gerade ich sagen, wo ich auf das Gefühl abonniert bin, immer irgendwo irgendwas zu verpassen, – was, wenn man es genau überlegt, bei den Dimensionen, die der Globus hat, durchaus wahrscheinlich ist. Ich krame fieberhaft in meiner Erinnerung.

Es gab im alten Westberlin drei Clubs, die etwas zählten: Dschungel, Far Out und Abraxas. Später kam das 90 Grad dazu und einige Loser-Läden sowieso. Aber mehr oder minder war es das schon.

Im Far Out umarmten sich um Mitternacht alle und hatten sich lieb. Jeder wurde reingelassen, auch mein dicker Freund Aaron, der aussah wie ein bacchiantischer Bankdirektor und wie ein Gott tanzen konnte.

Abraxas war Latino. Ich kannte den Barkeeper. Südamerikanische Musik nervt auf die Dauer ein bisschen, aber der Schuppen war entspannt und die Getränke umsonst.

Ich aber hatte den Schlüssel zum Dschungel. Wieso und woher, weiß ich nicht mehr. Der Laden war mein zweites, vielleicht sogar mein eigentliches Zuhause. Der DJ Martin legte begnadet auf, viel schwarzes Zeug, Ska und Punk. Ein Springbrunnen stand in der Mitte des Raumes, einige sind reingefallen, das war wohl ein Test. Nicht selten zeigte die elektronische Uhr urplötzlich 6 a.m., ich ging direkt ein paar Straßen weiter ins Schwarze Café, um zu frühstücken, anschließend in die Uni. Um uns rum war die Mauer, überschaubares Programm, von Überforderung keine Spur. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Monika, die mit den schwarz umrandeten Augen, das Tablett hoch über ihren Kopf balancierend, die Personifikation des Dschungel, jetzt in Rente gegangen ist. „Kinder wie die Zeit vergeht!“ sage ich jetzt nicht, aber denke es kurz…

„Die Stadt ist fahrig und nervös, nicht ich…“, höre ich David nuscheln. „Das war nicht immer so, aber inzwischen … zu viel los, zu viel Hipe, überall Trends, absolute Geheimtipps, special guests only, zu viel, zu viel. Ständig ziehen Leute her, die es sagenhaft toll in Berlin finden, ist es wahrscheinlich auch, halb Tel Aviv zieht hierher in die alte Reichshauptstadt, allen gehört die Stadt – nur ich, ich kann mich hier nicht mehr finden.“

Er meint es ernst. Ich werde zuhören und ausnahmsweise keinen witzelnden Kommentar abgeben.

„Wenn es alles gibt, wo hinterlasse ich meine Spuren? Wo zeige ich etwas Neues, wo erfinde ich die Welt neu? Ich, ja ich! Es ist doch das Privileg der Jugend, die Welt neu zu erschaffen, aber dazu ist hier kein Platz mehr. Alles ist da, alle sind wichtig, ich werde hier verrückt, ohne mich überhaupt bewegt zu haben.“

Wow.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich David verstanden habe, aber dass man seine Fußabdrücke irgendwo für die Nachwelt lassen möchte, leuchtet mir ein.

Freie Gruppe, Off-Theater hieß das damals, was wir machten. Wir fühlten uns unglaublich „in“, irgendwie ganz vorne. Ich würde heute nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass wir genial waren, aber dass wir in irgendeiner Form Avantgarde waren, das glaubte ich damals und das glaube ich heute noch. Wir fühlten uns wie Pioniere, wir erfanden die Welt, das Theater, die Kunst neu. Wir waren die Weltmeister im Fußabdrücke hinterlassen. So muss das sein. Wenn das nicht mehr geht, wird man natürlich nervös.

Wenn ich es also richtig verstehe, bringt die Masse der Möglichkeiten die Kids in eine Art Implosion, in vibrierende Untätigkeit. Dann wird die Flucht nach vorn ergriffen, ins Vergnügen: fun fun fun, was das Zeug hält! So eine Art Leistungsdruck, es zumindest in der Freizeit zu etwas zu bringen. Könnte auch eine gute Ausrede sein?

„Bleib eine Zeitlang fort!“, sage ich. „Je überschaubarer dein Radius, desto besser fühlst du dich. Und stress dich doch nicht so, wir waren damals …“

Das leise Knattern ist Davids Atem, er ist eingeschlafen, mitten im Satz. Draußen höre ich die Müllabfuhr, es ist kurz vor sieben. Zeit, den Kleinen für die Schule zu wecken.

Es war eine gute Zeit, damals, aber innovativ war vor allem Prince. Der ist zum einen genauso klein oder groß wie ich und hat zum zweiten gerade ein neues Album rausgebracht. Er jedenfalls scheint sich keine Sorgen darüber zu machen, dass es zu viel von seiner Musik gibt und er keine Fußspuren mehr hinterlassen könnte. Er macht weiter, ohne Platz 1 der Charts einzunehmen, aber für mich bleibt er die Nummer eins und als Vorbild ist er kaum zu toppen.

Ich decke den Großen zu und summe Purple Rain zum Frühstück. Was für ein Song!

_________________

Sie möchten keinen Freitext verpassen? Aufgrund der großen Nachfrage gibt es jetzt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.