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Noch einmal fliegen und sein Herz verlieren

 

Wenn alle Götter jung sind wie Neymar oder Kroos, müssen viele gestandene Helden frühzeitig abdanken. Dabei zeigt uns der Fußball doch, wie anmutig das Alter sein kann.

© Marcus Brandt/dpa
© Marcus Brandt/dpa

Er fliegt, noch immer fliegt er. WM 2014 in Brasilien, ein unerwartet nickliges Vorrundenspiel gegen Ghana. Ich konnte es nicht sehen, sondern nur blechern hören über die Kopfhörer eines alten, kleinen Taschenradios, das ich immer wieder leise fluchend nach stabilem Empfang auf meinem Schoß ausbalancierte, auf einer Busfahrt über Long Island, New York, umgeben von Amerikanern, denen Soccer kaum mehr bedeutet als eine weitere europäische Extravaganz und die ungläubig den Kopf schütteln, wenn sie hören, dass so ein Spiel tatsächlich 0:0 enden kann.

Wahrscheinlich war ich schon den ganzen Tag angespannt gewesen, ich weiß nicht mehr warum, doch etwas entlud sich in mir, als der eingewechselte Miroslav Klose gerade noch den Ausgleich schoss und eine blamable Niederlage abwendete: Ich rief so laut „Jaaaa!“ in die Stille des dahinsurrenden Buses hinein, dass zwei Frauen vor mir ihrerseits erschrocken aufschrien, und als der Reporter beschrieb, wie Klose jubelte, kurz zögerte, noch einmal zum Sprint antrat und endlich wieder seinen lang erwarteten Vorwärtssalto machte, schossen mir Tränen in die Augen, erst ein paar, dann immer mehr.

Als Punctum hat der französische Philosoph Roland Barthes die sinnliche Wirkung einer Betrachtung bezeichnet, das Atopische, das Nicht-Sagbare eines Eindrucks, der die souveräne Reflexion des Betrachters durchbricht und diesen unmittelbar berührt. Punctum, das ist der Stich, der kleine Schnitt, den uns ein winziges Detail beizubringen vermag, das urplötzlich aus seinem Zusammenhang stößt wie der Pfeil aus dem Köcher und uns durchbohrt, uns verwundet.

Man wundert sich dann bisweilen über sich selbst. So zählte Miro Klose eigentlich nie zu meinen Favoriten, zu blass, zu uncharismatisch erschien er mir als Typus. Selbst seine vermeintlichen Eigenheiten wie der Salto oder die drei Finger am Herzen beim Torjubel kamen mir stets wie kalkulierte, vergebliche Versuche einer halbstarken Charakterbildung vor, wie die brüchige Form um einen leeren Kern. Seine Interviews nach Spielende nutzte ich gern zum Getränkeholen, und seit ich ihn in Sönke Wortmanns Film über das Sommermärchen 2006 bei der recht ansehnlichen Mannschaftsfrisörin wie einen eingeschüchterten Pennäler um Worte ringen sah, hatte ich nur noch Mitleid mit ihm – wie früher mit dem in allem höher begabten Nachbarsjungen, der keine Freunde hatte, weil ihm immer Rotz aus der Nase lief.

Vielen ging es ähnlich. Da zählt einer zu den zwei oder drei besten Stürmern, die wir je hatten, einer ohne Schwäche, in der Luft so durchsetzungsstark wie am Boden, technisch beschlagen, schnell und mannschaftsdienlich – und keiner kriegte es so richtig mit. Niemand hat öfter für Deutschland getroffen, niemand hat mehr WM-Tore geschossen, kein Ronaldo, kein Pelé. Doch im kollektiven Gedächtnis blieb lange vor allem ein Unvollendeter haften, ein Mr. Durchsichtig und bayerischer Bankdrücker, der in Zeiten der Torflaute beklommen bis an den Rand der Selbstauflösung über den Rasen schlich. Die lähmende Bangigkeit beim Zählen der torlosen Minuten kennt jedes Stürmerleben, aber bei Klose fiel sie immer besonders auf, vielleicht weil man das Gefühl hatte, sie sei der seiner Natur eigentlich gemäße Zustand.

Er redete nie Unsinn, aber er machte auch keine originellen Sprüche, er schoss seine Tore, aber fast nie ein spektakuläres, er spielte alle großen Turniere, aber von seinem Panini-Bild hatte man immer viele Doppelte. Er trug die Frisur, die Schweini schon vier Jahren zuvor hatte. Er hat mehrere Preise für Fair Play erhalten. Mit einem Wort: gähn.

Aber all das ist anders seit dem Ghana-Spiel. Für mich ist Klose heute ein Held, ein Heros im ursprünglichen Sinn, kein Zauberer wie Messi, sondern einer, der aushält, der widersteht. Das Zeug zum Popstar hatte er nie. Da hatte ja Manni Schwabl noch mehr Sexappeal. Doch genau hier kippt die Tragik ins Erhabene. Denn alles, was diesen Ausnahmefußballer so wenig schillern ließ, seine buchstäbliche L-a-n-g-w-e-i-l-i-g-k-e-i-t, wandelt sich in der langen Weile des Alterns in ihre kostbare Kehrseite, in Beharrungskraft und Stoizismus. Wer nicht zur Sonne stürmt, verbrennt auch nicht; nur der Unvollendete kann dem Ende trotzen.

No country for old men

Die Stoiker betrachteten das Leben als ein immerwährendes Bemühen um Seelenruhe, um die Kontrolle von Ängsten und Affekten. In einer Gesellschaft, die ihrer eigenen Veralterung mit einer hysterischen Fetischisierung des Jungseins begegnet und noch nicht einmal eine kapitalgedeckte Altersvorsorge hinbekommt, die nicht vor allem die Kassen von Banken und Versicherungen füllt, werden sie zu Schutzheiligen der vergessenen und furchtsamen Vielen. ‚Ich bin hier gewesen‘ lautete das Punctum, das Barthes aus den Fotos seiner toten Mutter ansprang. ‚Noch bin ich nicht weg‘ sagte jenes, das mich während Kloses Salto in den Nacken stach.

Den sogenannten Jungstars tut man übrigens keinen Gefallen, wenn man sie vorschnell zu Götterlieblingen hochjubelt. Sie stürzen dann so tief wie Engel, man denke nur an die traurigen Fußnotenkarrieren von Tobias Rau, David Odonkor und Fipsi … äh, dings … Rösler. Ach ne, der ist ja von der FDP. Aber für Politiker gilt das natürlich auch. Sollen doch alle erst mal beweisen, dass sie schon Haare am Sack haben, hätte mein C-Jugendtrainer dazu gesagt (Typ Ernst Happel).

Gerade vor Wahlen sind Altersthemen plötzlich hoch im Kurs, denn Alte – das sind Wähler, Vererber, Konsumenten, Kulturgüter. Alter ist Lifestyle, vor allem wenn es was einbringt und nicht stinkt. Im sozialen Spielfeld der Gesellschaft hat das Alter enorm an ökonomischer Bedeutung gewonnen, jedoch auf Kosten des tiefer greifenden symbolischen Kapitals. Alte sind jetzt well done – aber die Schattenseiten in Wahrheit schambehafteter denn je. Oldies sind Goldies, doch ihr Wert wird meist ex negativo bemessen, im Sinne der Verwertbarkeit. Am besten altert man gleich, indem man jung bleibt. Konservativ war gestern, jetzt ist neo: dynamisch, leistungsfähig, dauerpotent. Grundsicherung auf Hartz-IV-Niveau und Arbeiten bis achtzig, natürlich ‚freiwillig‘ – die Jungen Liberalen haben das gerade gefordert. Und mit neunzig noch zum Mond.

Wenn es aber um die mühsame Kleinarbeit an einer Pflegereform geht, die ihren Namen verdient und beherzt auf teilhabende Modelle setzt, ohne die Pflegegrade gegeneinander auszuspielen – oder um eine so differenzierte Flexibilität beim Renteneinstieg, dass sie die jüngeren Generationen nicht überlastet, oder um steuerliche Querzuschüsse aus Vermögen und Kapitalerträgen – dann fällt auch der sedierten Reformpolitik der Großen Koalition im Regierungsalltag wenig Couragiertes ein. No country for old men.

Der Fußball bekommt das oft besser hin. Dort ist ohnehin nichts ohne sein Gegenteil wahr. Das Schöne ist nicht ohne das Hässliche zu bestimmen, das Große nicht ohne das Kleine, das Junge nicht ohne das Alte. Und so war die vergangene Saison eben nicht nur ein mitreißender Sturm und Drang adoleszenter Selbstermächtigung, etwa von den vielgepriesenen Leroy Sané oder Joshua Kimmich, sondern auch ein nicht weniger bemerkenswertes Zeugnis vitalen Altertums – feinchirurgisches Präzisionspassspiel (Xabi Alonso), ans Auratische reichende Strafraumbeherrschung (Claudio Pizarro) und eine glamouröse Diva (Luca Toni), die mit jedem Jahr nur noch schöner wird. Das schafft ja sonst bloß Peter Handke. Im Ganzen: ein Aufstand gegen die Abwrackprämie, eine Revolte an der Resterampe.

Vom Adler getragen

Vielleicht beginnt man, mit den Alten zu fühlen, wenn man anfängt, das eigene Alter in sich pulsieren zu spüren. Wenn die Liste mit Dingen länger wird, die man früher einmal besser konnte. Dieses Jahr werde ich 40, und ich kann nicht mehr so scharf sehen wie einst, so schnell laufen und so viel trinken. Man verlegt plötzlich Dinge und findet sie lange nicht wieder – sogar das eigene Herz, wenn man es gegen alle Wahrscheinlichkeit noch einmal verliert, so rückhaltlos wie nie.

Als Klose seine ersten Saltos für Kaiserslautern sprang, konnte ich noch wochenlang in der Sonne sitzen und doch nie so viel Zeit verschleudern wie sich neu vor mir aufzutun schien. Der Tod war für mich nicht mehr als ein Wort mit drei Buchstaben. An manchen Tagen fühlte ich mich morgens nach dem Aufwachen so leicht, dass mir im Liegen schwindelte. Dann merkte ich irgendwann, dass sich auch Fallen anfühlt wie Fliegen, zumindest für einen kurzen Augenblick. Manche nennen es einfach Erwachsenwerden.

Ungefähr zu dieser Zeit begann ich, Kloses Saltos nicht mehr affig zu finden, sondern anmutig; und von da war es nicht mehr weit bis zu dieser Sekunde im Bus, als ich ihn vor mir sah, wie er noch einmal abhob, und mit ihm plötzlich wieder alles da war, was schon unwiederbringlich hinter mir lag, als wäre dies noch immer sein erster, nie endender Salto für Kaiserslautern und nichts verloren von dem, was seither geschah, Bilder und Worte, die nicht hierher gehören, nur meine Dankbarkeit, dass dieser geschundene Körper eines alternden Fußballers sich noch einmal in die Luft wuchtete, um wider Erwarten in schwereloser Eleganz aufzugehen. Dass dieser auf ewig unterschätzte Stürmer immer noch da war und ablieferte, sobald er den Adler trug (als trüge der Adler vielmehr ihn), wieder und wieder, während all seine ihn einst überstrahlenden Generationskollegen längst auf der Bank oder vor dem Fernseher saßen, die Del Pieros und Rivaldos, dass nur er noch da war – und immer noch flog.

Jeder Achill hat eine Ferse

Wer hier Kitscheinwände erhebt, darf gleich ein Fleißbildchen für sich verbuchen, denn natürlich ist der alternde Fußballer eine Figur moderner Alltagsmythologie, und nüchterne Subtilität ist der Mythen Sache nicht. Ihre Verführungskraft liegt ja gerade in der Idee eines emphatischen, idealen Verstehens der Dinge.

Das Fußballspiel ist als Fortschreibung religiösen Opferkultes begreifbar, bei dem die Wettstreitenden immer auch ringende Liebende sind, verbunden im Kampf gegen übermächtige gemeinsame Gegner, die tickende Uhr, das unhandliche Spielgerät, den Schiedsrichter, die Witterung. Aus den Widrigkeiten des Regelwerks, der Agilität seiner zeremoniellen Überwindung, dem dazu erforderlichen Mut und dem Kräftemessen formen sie gemeinsam eine Tragödie, deren Epilog der Tod ist. Selbst die besten ihrer Art, die Vollkommenen und Unverletzlichen, erlahmen irgendwann. Jeder Achill hat eine Ferse. Nicht umsonst wird Maradona in Argentinien als Gottheit verehrt, nannte man Attila Sallustro den ‚Göttlichen‘ und Toni Turek einen ‚Fußballgott‘, wird Messi zum ‚Messias‘ berufen und Real Madrid für ‚galaktisch‘ erklärt. Es sind hilflose Versuche, diesen Sport, der von Grund auf physisch definiert ist, ins Metaphysische zu stemmen, das Fehlbare und Endliche des Menschlichen zu negieren.

Am Ende schlagen all diese Versuche der Transzendierung fehl – und tatsächlich ist es genau dieses Scheiternmüssen, das uns am nachhaltigsten bewegt am Fußball, wie überhaupt dem Scheitern in der öffentlichen Betrachtung des Spiels viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Erst das Scheitern, nicht der viel profanere, flüchtigere Erfolg, verleiht ihm seine existenzielle Dimension. Warum wohl denkt man bei Frank Mill zuerst an das unglaubliche Verfehlen des leeren Tores gegen die Bayern, bei Michael Ballack an den ausgebliebenen großen Titel oder bei Roberto Baggio an den verschossenen Elfmeter im WM-Finale ’94? Dass Baggio den Spitznamen Divin Codino trug, der göttliche Zopf, zeigt die Fallhöhe noch einmal an. Götter spielen nicht mit Bällen. Jedenfalls schwitzen sie dabei vermutlich nicht.

Die Physis ist die Conditio humana des Fußballs, seine unhintergehbare Grundeinheit. Wie in der Commedia dell’arte die Kostüme und Masken die Figuren bereits vorausbezeichnen, ihre Rollen, ihre Haltungen und Intrigen, so kann auch der Akteur auf dem Fußballfeld nie über die Hülle seiner Körperlichkeit hinausgelangen. Das Kopfballungeheuer Dieter Hoeneß ist nicht von seiner Schlacksigkeit zu trennen, der Dribbelkönig Littbarski nicht von der Deformation seiner Beine, der atemberaubende Fußball des FC Barça nicht von der Wiederentdeckung des schmächtigen Offensivquirls, der innerhalb von Sekunden das Rochieren modernen Rasenschachs in einen staubigen Straßenkick verwandeln kann. Und der alternde Körper – er wird träge und anfällig, er schleppt die Vergänglichkeit wie ein Kainszeichen über den Platz und wird dabei selbst zu einer Bühne, zum inkorporierten Schauplatz eines tragischen Rückzugsgefechts gegen sich selbst.

Doch wenn das Fleisch auch schwach wird, ihre moralische Kraft kann den Alten niemand nehmen. Denn so weh diese Augenblicke des Scheiterns und Vergehens dem mitfiebernden Anhänger auch tun, so sehr fesseln sie uns an das Spiel – und machen uns zuletzt zu reiferen Menschen, zumindest wenn man den Aufklärern glauben darf, dass der mitleidende der beste aller Menschen ist. Wer nicht schlucken muss, wenn ein Holger Badstuber mit einem weiteren Kreuzbandriss vom Platz getragen wird, wem kein Schauer über den Rücken läuft, wenn im entscheidenden Dortmunder Spiel gegen Freiburg acht Minuten vor dem Ende doch noch Dede eingewechselt wird und ein ganzes Stadion sich erhebt und verbeugt vor diesem treu schlagenden alten Herzen im juvenilen Mannschaftskörper, der hat selbst keins.

Begehren, was uns im Leben zerfrisst

Was zu Zeiten der Aufklärung die soziale Funktion des Theaters war – dem Kollektiv gemeinsame kathartische Erfahrungen zu stiften – ist heute die des Sports. In den kurzen Momenten, da der Fußball seine hermetische Künstlichkeit verliert, da die Äußerlichkeit seiner Form gegenüber einer tieferen Interiorität zurücktritt und zur unmittelbaren Welt der Lust, der Angst und der Aggression wird, begehren wir an ihm, was uns im Leben zerfrisst. Es ist eben nie nur ein Spiel, es ist der irdische Vertrag, halb Kampf, halb Tanz.

Dabei darf, dabei muss selbstverständlich geweint werden. Nach jedem großen Finale sieht man Spieler weinen, vor Freude, vor Trauer, vor Erschöpfung, nach jedem verlorenen Abstiegsspiel sitzen sie weinend auf dem Rasen und beleben die alten Topoi des Leidens und der Demütigung vor der Öffentlichkeit, das Kreuz und den Pranger. Von den Fans ganz zu schweigen. Man schämt sich seiner Tränen nicht, sie markieren hier keine Schwäche, sondern sind im Gegenteil theatrale Zeichen stärkender Reinigung. Denn jeder Anpfiff ist eine Geburt und bei jedem Abpfiff stirbt etwas.

Linderung, ja heroische Schönheit im Schmerz selbst verspricht neben der befreienden Kraft der Tränen allein der Stil. Jedem Fußballfreund wird das Herz bluten, wenn er einen Ronaldinho verfetten, einen Thierry Henry auf der Bank schmoren, einen Jürgen Kohler in seinem letzten Spiel (dem Uefa-Cup-Finale!) vom Platz fliegen sieht, wenn diesen modernen Gladiatoren also nicht das gelingt, was man landläufig einen stilvollen Abgang nennt.

Stil, so hat es Barthes für die Welt des Sports beschrieben, bedeutet im Fußball, noch dem schwierigsten, dem letzten Akt eine graziöse Geste abzugewinnen, der Fatalität der Ereignisse einen selbstbestimmten Rhythmus, der unerbittlichen Trägheit voranschreitender Zeit die ästhetische Ordnung eines Schauspiels abzutrotzen. Das entspricht durchaus dem tiefen Wunsch der meisten Menschen nach einem gnadevollen, einem würdigen Tod. Erst wo es gelingt, wo moralische Tugenden zur Aufführung kommen – Verwegenheit, Ehrgefühl, Gerechtigkeit, Opferbereitschaft – werden aus Stars Helden und aus ihren Namen algebraische Zeichen epischen Wertes. Dann muss nur noch ein Name fallen, und alle wissen, was gemeint ist.

So verwandelt Zinédine Zidane im letzten Spiel seiner Karriere einen Elfmeter gegen einen der besten Torhüter der Welt, indem er den Ball zentral unter die Latte lupft. Im WM-Finale. Gegen Gianluigi Buffon. So etwas trauen sich die meisten nicht einmal im Training. Dann wuchtet er ausgerechnet mit seinem blanken Schädel den giftspeienden Unhold Materazzi von den Füßen, entgegen aller Vernunft, ohne Rücksicht auf die Folgen, ganz einfach weil es in diesem Augenblick sein musste. Manche fanden dieses Ende Zidanes seiner unwürdig. Doch das Gegenteil ist zutreffend. Nie war der große Melancholiker schöner als im Bewusstsein seines freien Falls, auf dem einsamen Weg in die Katakomben. Fallen fühlt sich an wie Fliegen, für einen kurzen Augenblick.

Auch Oliver Kahn hätte seine Degradierung zum WM-Ersatztorwart 2006 nicht stilsicherer in einen Triumph umwandeln können als durch den inzwischen schon ikonografischen Handschlag mit seinem Antipoden Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien. Selbst Titan konnte also erweichen, so sprachen diese Bilder, ein Getriebener überwand sich selbst; was waren dagegen schon ein paar versäumte Paraden in kurzen Hosen.

Oder Jörg Butt, der zu seiner schreiend ungerechten Verbannung bei den Bayern durch Louis van Gaal einfach gut vernehmlich schwieg und sich so klag- und selbstlos fügte wie der von Schlangen niedergerungene trojanische Priester Laokoon. „Edle Einfalt, stille Größe“ nannte das die deutsche Klassik. Schon als Elfmeterschütze war Butt freilich stets so stoisch angetreten wie Clint Eastwood zum Duell. In der Saison 1999/2000 war er neben Anthony Yeboah der erfolgreichste Torschütze des HSV. Als Torwart. Cooler geht’s nicht.

Und Miro Klose? Der ist jetzt 38 und hat seinen letzten Salto für die deutsche Mannschaft nicht mehr sauber stehen können. Aber er hat ihn gemacht, Knöchel hin oder her. Bei Lazio Rom hat er in seinen sieben letzten Spielen noch mal eben sieben Tore rausgehauen. Die Fans versuchten ihn sogar mit einer Petition dazu zu bewegen, seinen Vertrag zu verlängern. Bei der EM ist er nun nicht mehr dabei. Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski werden dort die Veteranenplätze einnehmen. Hat wirklich jemand gedacht, sie würden von Jogi Löw noch aussortiert? Seit sich Schweinsteiger im WM-Finale auf dem Platz eine Schusswunde tackern ließ, schwebt er schließlich in den Sphären mythischer Helden. Einen Voltaire sperrt man nicht ein. Einen Schweini verbannt man nicht aufs Sofa. Selbst wenn er Schweini heißt. Und Poldi – naja, okay, der wird zumindest wieder seinen Poldi-Daumen in die Kamera machen und im Training dem einen oder anderen Kollegen von hinten die Hose runterziehen.

Ein entfesselter fernöstlicher Flaschengeist

Aber das alles habe ich eigentlich nur erwähnt, um von jemandem zu erzählen, mit dem ich jeden Mittwochabend in einer abgestandenen Berufsschulturnhalle Fußball spiele. Toni ist 75 Jahre alt, und er hat in dieser Turnhalle schon gespielt, als Willy Brandt noch Bundeskanzler war. Jedes Mal aufs Neue kann ich das einfach nicht begreifen. Natürlich ist er Ehrenspielführer unserer Freizeittruppe, über die hier nicht mehr gesagt werden muss, als dass ich oft schon am Abend vorher keinen Schlaf finde, so sehr freue ich mich auf das Spiel.

Früher hatte Toni eine logopädische Praxis im Olympiadorf, und vor vielen Jahren hat einmal die Schauspielerin Eva Mattes an seiner Praxistür geklingelt und gefragt, ob sie bei ihm ein Bad nehmen dürfe. Aber das ist nochmal eine ganz eigene Geschichte, deren Ende Toni immer schmunzelnd verschweigt.

Ich kann nicht sagen, was mich mehr an ihm anrührt, die Fragilität seiner mit jedem Jahr zarter werdenden Erscheinung oder die zähe Entschlossenheit, mit der er Woche für Woche die hellblauen Stutzen anlegt und voll stolzer Ergebenheit bis zu den Knien hochzieht wie Gamaschen preußischer Grenadiere. In jedem Spiel muss er aufpassen, dass er sich nicht verletzt, denn wegen der Blutverdünner, die er in hoher Dosierung schluckt, könnte er an Ort und Stelle verbluten – wie an einem spät gebrochenen Herzen. Die Ärzte sagen, seins sei etwas zu groß für einen so verzehrenden Sport wie Fußball. Ein zu großes Herz. Das könnte man für keine Romanfigur besser erfinden.

Toni spielt meist den linken Außenstürmer. Was ihm die Zeit an Robustheit und Schnelligkeit genommen hat, macht er durch Intuition und Streitlust wett. Als Diplomlogopäde spricht er dabei freilich „Scheißkerl“ selbst im heftigsten Gefecht mit sauber gezischtem labiodentalem Frikativphonem aus. Vor allem aber verfügt er über eine ganz eigene, über Jahrzehnte eingeschliffene Art der Körperbeherrschung, ja der Körperbeschwörung. Schon beim Aufwärmen sieht man ihn bisweilen allein in einer Ecke der Halle auf engstem Raum von einem Bein auf das andere springen, vor und zurück, Linksausfall, Rechtsausfall, wie im Rhythmus einer rituellen Anbetung. Er sieht dann federleicht aus; und ich würde hohe Wetten darauf abschließen, dass er die Frauen einst beim Tanzen verführt hat.

Er schießt nicht mehr so viele Tore wie früher, aber noch immer die wichtigen. Manchmal läuft er sich ein ganzes Spiel lang immer wieder in den gegnerischen Abwehrreihen fest, nur um dann kurz vor dem Ende ein letztes, ungenaues Anspiel hoch abtropfen zu lassen und den vor ihm wie ein rasendes Tier zappelnden Ball wieder mit jener geheimnisvollen Schritt- und Wippstafette zu zähmen, die auch den Verteidigern einen Moment lang die Sinne vernebelt. Dann steigt er frei am Schusskreis hoch und steht – ich schwöre es – für die Dauer eines langen Wimpernschlags in der Luft, mit ausgebreiteten Armen, wie ein entfesselter fernöstlicher Flaschengeist oder ein im Aufwind schwebender Greifvogel, kurz bevor er niederstößt auf seine Beute – und versenkt den Ball trocken mit einem Spitzschuss unter der Latte. Er ist zu alt für halbe Sachen, er geht immer aufs Ganze. Kreuzeck oder Tod.

Seit Toni in Rente ist, hat er mehr Zeit für seine Interessen, er geht ins Konzert, besucht Vorlesungen und Seminare. Besonders hat es ihm das luzide Träumen angetan, eine Konzentrationstechnik, bei der sich der Schlafende bewusst bleibt, dass er träumt und dadurch die Inhalte willentlich steuern kann. Nichts sei schöner, nichts befreiender, sagt Toni, als im Traum zu fliegen, und wenn er erst so alt habe werden müssen, um sich diesen größten aller Menschheitswünsche zu erfüllen, dann sei es all die Mühsal wert.

Meistens kann Toni in der Nacht nach dem Mittwochsspiel nicht einschlafen, weil sein Blutdruck von der Anstrengung noch zu hoch ist. Er sitzt dann oft stundenlang allein in der Küche und trinkt zwei oder drei Bier, und ich stelle ihn mir vor, wie er irgendwann die Augen schließt und noch einmal die besten Szenen des Spiels in Gedanken durchgeht, bis er dort auf dem Platz irgendwann langsam aufzusteigen beginnt, unter das Hallendach schwebt und sanft hindurch, während unter ihm seine Freunde weiter dem längst abgewetzten gelben Filzball hinterherlaufen. Wie er dann hoch über den Münchner Dächern dahingleitet und, je weiter er sich von der Erde entfernt, desto klarer alles unter sich erkennen kann, den Königsplatz und die Glyptothek, die Nachtpassanten der Maxvorstadt und die Lichter von Schwabing, bis hin zum Olympiadorf, wo jetzt seine Tochter in der alten Praxis wohnt, und wie er dann immer höher steigt, hinein in Plutos Nacht, und dass er, wie die Wörter in einem geglückten Satz, schwerelos und sicher in ihr aufgehoben ist.

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