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Gegen den Brexit hilft nur Aufklärung

 

Was die enthemmte, volksverdummende Brexit-Rhetorik angerichtet hat, macht viele Briten fassungslos. Auch wenn der Mörder von Jo Cox psychisch gestört ist, bleibt seine Tat politisch.

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Als ich am Donnerstagabend von Jo Cox‘ Tod hörte und erfuhr, dass sie einen Mann und zwei Kinder hinterlässt, musste ich an das Buch Trauer ist ein Ding mit Federn von Max Porter denken. Es schildert, wie ein Mann und seine beiden Söhne nach dem überraschenden Tod der Mutter trauern und versuchen, mit der neuen Lage zurechtzukommen. Ihre Leben sind auf immer verändert. Eine Krähe, rau, schwarz, brutal, Aasfresser, Allesfresser, riesig, zieht bei ihnen ein.

Porters Roman sagt radikale Taten gegen Andersdenkende (Politiker, weiblich) nicht voraus. Er hat mit dem Fall von Jo Cox nichts zu tun. Doch Trauer fühlte ich, wie mir angesichts der brutalen Tat in Birstall deutlich wurde, bereits seit Wochen.

Erst am Donnerstagmorgen war wieder eines der Flugblätter der Brexit-Befürworter durch meinen Postschlitz gefallen. Vor vielen Wochen, irgendwann im Frühjahr – es wirkt Lichtjahre entfernt –, hatte mich auf diesem Weg eine umfassende, sachliche, und, wie ich fand, sehr gut gemachte Broschüre der Regierung erreicht. Die Schlagworte der Brexit-Befürworter, Argumente dagegen, Zahlen. Das, was ich mir als Beitrag zu einem Prozess politischer Meinungsbildung vorstelle.

Inzwischen ist das gründlich anders. Die Brexit-Befürworter führen eine effektive Kampagne, die exklusiv darauf abstellt, was man hier „gut instincts“ nennt. Wenn dir die Argumente ausgehen oder Wirtschaft, Vernunft und Zahlen gegen dich sprechen: lass sie weg. Appelliere an die „Darminstinkte“ (niedere Triebe, unter der Gürtellinie). Das Blatt, nach dem ich mich am Donnerstag bückte, war schmutzig grau. Darauf stand in großen Lettern „EU“, begleitet von der Zeile „a leap in the dark“ (ein Sprung ins Dunkle), „to the postdemocratic era“ (in eine nachdemokratische Epoche). Ich drehte das Blatt um. Entschiedenes Rot, viel Text, die wichtigen Fangphrasen (catchphrases – genau darum geht es) fett gedruckt: „The EU is fascism.“ Gezeichnet: leftagainsttheeu.com.

Exakt, hatte ich gedacht: Höllenfarben. Billigste Rhetorik. Rot und Schwarz, Gut gegen Böse, Leben gegen Tod. Wie simpel, verführerisch, bösartig kann man werden?

Die Kampagne der Brexit-Befürworter hat viele überrascht: rücksichtslos, argumentfrei, effektiv. Die Intellektuellen in Oxford ziehen lange Gesichter. Plötzlich weiß man nicht mehr, wie das Referendum ausgehen wird. Man erschrickt ob des Sprachgebrauchs, ob der Stimmungsmache, ob der Verfänglichkeit der Sprüche, ob des Aggressionspotenzials. Und ob der infamen Verschiebung von einer Debatte über die EU zu einer Abstimmung gegen Flüchtlinge. Ängste werden geschürt, nationale Traumata bedient (Make Britain great again).

Männer gehen auf Politikerinnen los

Der Mord an Jo Cox ist keine politische Tat. Der Mann, der sie niederstach und mehrfach auf sie schoss, Thomas Mair, wurde für psychisch gestört erklärt. Allerdings ist Mairs Tat auch nicht nicht-politisch. Er soll vor dem Angriff auf Cox „Britain first“ („Britannien über alles“) gerufen haben; Britain First ist zudem der Name einer rechtsextremen Partei. Selbst falls dies nicht zutrifft: Der Zeitpunkt der Tat knapp vor dem EU-Referendum und der Kontext (eine Veranstaltung für den Verbleib in der EU) sprechen für die politische Einbettung. Wie bekannt wurde, erhielt Cox seit einigen Wochen Morddrohungen. Mair soll seit Jahren rechtsradikal denkenden Kreisen angehört haben.

Am 16. Oktober 2015 wurde Henriette Reker, die für das Kölner Oberbürgermeisteramt kandidierte, auf einem Wochenmarkt von einem Mann niedergestochen und lebensgefährlich verletzt. Deutschland befand sich mitten in der Flüchtlingskrise. Reker hatte Glück und überlebte; der Täter, Frank S., handelte aus fremdenfeindlichen Motiven. Erschrocken frage ich mich, ob derartige Taten sich zu häufen scheinen. Gehört es nun zu unseren „politischen“ Umgangsweisen, dass mittelalte Männer auf (eher ungefährliche, jedenfalls unbewaffnete und ungeschützte) Politikerinnen losgehen?

Nicht ohne Grund fürchten Diktatoren und Demagogen Worte. Sie sind mächtig. Eine Rhetorik, die keine Grenzen mehr kennt, setzt Kräfte frei, die sie nicht kalkulieren kann. Geschaffen wird ein Klima der Brutalität und Verrohung, des anything goes. Auch das ist nicht neu. Doch scheint der Effekt schneller einzutreten in Zeiten, in denen mehr und mehr Menschen daran gewöhnt sind, auf diversen medialen Kanälen Aggressionen auszuleben. Damit meine ich nicht, dass Computerspiele oder Ähnliches automatisch Gewaltbereitschaft fördern. Wirksam wird der Cocktail erst, wenn verschiedene Bestandteile zusammenkommen. Es gibt hier eben keinen einzelnen „Schuldigen“ oder „Bösen“, sondern eine Gemengelage, die unseren Umgang miteinander nachhaltig zu verändern scheint. Aggression im öffentlichen Raum feiert fröhliche Urstände: Prügeleien wegen eines weggeschnappten Parkplatzes, schwerste Unfälle durch Raser, Shitstorms, rassistische oder sexuelle verbale Übergriffe in der Maske eines virtuellen Pseudonyms. Mischt man dann noch eine demagogische Schwarzweißrhetorik hinzu, wie sie hier in England in der Werbung für den Brexit seit Wochen angeheizt und verstärkt wird, steigt das Rohheitspotenzial in einer Gesellschaft derart, dass manche aus den Worten Taten machen.

Die Sehnsucht nach Vereinfachung

Die Tat eines vermutlich psychisch gestörten Mannes lässt sich weder von Computerspielen noch von politisch unverantwortlichen Zündeleien unmittelbar ableiten. Doch jeder von uns reagiert auf Stimmungen und Atmosphären. Psychische Wahnvorstellungen tragen historische Gewänder. Menschen mit verschobenen Realitätswahrnehmungen sind labil und empfänglich; ihr Handeln ist nicht einfach pathologisch (irrelevant individuell), sondern auch symptomatisch. Rhetorik, umgesetzt in eine Tat. Erleichtert dadurch, dass der Täter glaubt, dank der geschürten Aufregung weniger Angst davor haben zu müssen, geächtet zu werden. Mehr noch: Einige werden ihm applaudieren.

Der Mörder von Jo Cox agierte – ebenso wie der Mann, der Reker lebensgefährlich verletzte – etwas aus, das uns alle angeht: unsere hässliche Seite. Unser dunkles Potenzial. Unsere Lust an Zerstörung. Unsere Sehnsucht nach Komplexitätsreduzierung in einer komplexen Welt.

Dagegen hilft nur eines: Wachsamkeit. Kultur. Aufklärung. Mein Nachbar hängt eine Sternenflagge an seine Hausfassade. Ein Fahrradfahrer bleibt mitten auf der Straße stehen und fotografiert sie.

Auch die Wahlkämpfer sind wieder da: In Oxfords Fußgängerzone werben zwei junge Männer für den Brexit. Lebhaft und gut gelaunt sprechen sie Passanten an. Das Mädchen neben ihnen, das für Europa eintritt, ist still. Es hält einen Luftballon an einer Schnur fest, scheint ein wenig an ihm über dem Boden zu schweben.