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Wie ich Keith Jarretts Feind wurde

 

Was verlangt ein Genie wie der Pianist Keith Jarrett auf der Bühne? Stille und absolute Regungslosigkeit. Aber ein Publikum kann nicht still und unsichtbar sein.

Wie ich Keith Jarretts Feind wurde
© Rose Anne Colavito

Am neunten Juli besuchte ich ein Konzert von Keith Jarrett im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins. Ich war aufgeregt. Ich hatte ihn nie zuvor live erlebt. Der Held meiner Jugend, noch aus jener Zeit, als ich dachte, ich könnte vielleicht selbst ein großer Jazzpianist werden.

Als die Lampen gedimmt wurden, hörten die Geräusche im Saal auf. So zumindest hätte ich das Leiserwerden beschrieben, aber der Veranstalter kam auf die Bühne und erklärte uns, dies sei ein besonderer Abend, an dem sich das Publikum bitte so lautlos wie möglich zu verhalten habe. Man zeichne das Konzert auf, daher bitte keinerlei Geräusche, besonders während der leisen Stellen.

Als Nächstes kam Keith Jarrett. Er sah nicht sehr glücklich aus. Er trat ans Mikrofon und sagte: „Ich spiele nicht eine einzige Note auf diesem Klavier, bis die zwei Personen, die Fotos gemacht haben, das Gebäude verlassen haben!“ Unsicherer Applaus. „Sie, die neben diesen Personen sitzen, haben hiermit meine Erlaubnis, die betreffende Person zu nehmen und hinauszubegleiten. Ich warte derweil hinter der Bühne.“

Und er ging tatsächlich zurück hinter die Bühne. Wieder Applaus, aber auch einzelne wütende Stimmen. Schließlich stand ein Mann auf, schrie „Aufruf zur Denunziation! Mir ist schlecht!“ und verließ den Saal.

Veranstalter und (ich glaube) Manager kamen auf die Bühne und erklärten: Die Musik, die gleich kommen würde, sei vollkommen improvisiert, das heißt reine Magie, daher absolut keine Fotos, bitte. Keine Handys. „Der Meister hat Adleraugen.“

Dann begann die Musik. Keith Jarrett spielte etwas. Ich weiß nicht, ob es gut war. Ich konnte der Musik nicht folgen, denn ich hatte plötzlich die Vision eines Publikums, das durch Jarretts Musik aufgelöst wird wie eine Brausetablette in Wasser. Ich hatte begriffen: Das hier ist nicht für uns. Es ist eine Aufnahme. Wir sollten nicht hier sein. Wir stören.

Ein moderner Don Quijote

Ich versuchte mir außerdem vorzustellen, wie es für ihn sein musste, heutzutage in allen großen Städten der Welt aufzutreten. Der bedeutendste lebende Jazzpianist in ständigem Kampf gegen Mobiltelefone. Es gibt, wie ich später herausfand, viele Artikel darüber. Die Verfasser loben ihn für seine hohe Integrität und seinen Mut. Schon seit den Siebzigern existieren unzählige Anekdoten, wonach ihn das Hüsteln eines Zuhörers völlig aus dem Konzept bringt. Nun kämpft er auf der ganzen Welt gegen Handys. Nicht gegen ihr nerviges Geläute, sondern gegen die Fotos, die sie lautlos und verstohlen machen. Eine Romanhandlung, tragisch und bewegend, ein moderner Don Quijote. Die Geschichte hat Größe. Ein Genie verlangt von seinem Publikum Konzentration, Stille, Reglosigkeit, kurz: die richtige innere Einstellung.

Nicht alle Musiker sind so. Der Komponist John Cage sah die Geräusche der Umgebung nicht als Unterbrechung der von ihm komponierten Musik an. Im Gegenteil, er wusste: Die Musik war immer größer als alles, was er sich ausdenken konnte. Also schuf er Stücke, die durch zufällige Klänge nicht beschädigt, sondern bereichert werden. Für ihn war nicht die Außenwelt eine Unterbrechung, sondern das Kunstwerk. Es unterbricht das Universum beim Vor-sich-Gehen. Ich glaube, ich sehe mich selbst auch lieber als Unterbrechung denn als das, was unterbrochen wird. Jarrett ist der große Anti-John-Cage. Doch interessanterweise brummte und quietschte er selbst den ganzen Abend über mit seinem eigenen Klavierspiel mit. An einer Stelle klang er haargenau so wie ein Teddybär, der aufgesetzt wird: Booooh.

Die Pause kam schnell, nach etwa fünfundzwanzig Minuten. Ein Klavierstimmer wurde auf die Bühne geschickt, er untersuchte und bearbeitete den Steinway-Flügel. Als der zweite Teil begann, trat Jarrett wieder ans Mikrofon. In ruhigem Zorn intonierte er den Satz, den Jack Nicholson in einer furchterregenden Szene in The Shining in identischem Tonfall zu Shelley Duvall sagt: „Let me explain something to you.“ Und er erklärte: „Dass Sie glauben, Sie können, trotz der einleitenden Worte, sich einfach in einen künstlerischen Prozess einmischen, durch Geräusche und durch Fotos, ist einer der Gründe, warum die Welt fucked up ist. Und wenn ich nicht in der Position wäre, dies in ein Mikrofon sagen zu können, wäre ich nicht mehr als ein Tier im Käfig, das von allen Seiten fotografiert wird.“ Begeisterter Applaus.

Jarrett setzte, mit einer Hand Schweigen gebietend, noch eins drauf. Er habe durch unsere Unverschämtheit den Kontakt mit der Musik verloren. „Maybe you liked what I played. But I wasn’t there.“ Der Künstler entzieht uns rückwirkend seine Seele! Was wir gehört haben, war nicht wirklich er. Und falls es uns gefallen hat, zeigt das nur, wie dumm wir sind. Herrje.

Zynische Musik

Er spielte weiter. Es war Musik, aber ich achtete inzwischen nur noch auf die wirkliche Musik im Raum, auf das Husten und das Knarren. Wie der ganze Saal knarrte! Und Niesen, so laut! Neben mir atmete ein Mann durch eine leicht verstopfte Nase. Ein wunderschönes Geräusch. Ein lebender Mensch. Und was für viele verschiedene Spielarten von Husten es gab, hohles, fauchendes, kicheriges … Übrigens, vor dem Konzert hatte ich von meinem Platz aus ein Foto des leeren Klaviers gemacht und es auf Twitter hochgeladen.

Gegen Ende spielte Jarrett einige Stücke, die er entweder kopfschüttelnd lachend beendete oder mit einem Achselzucken begann. Er schien uns zu sagen: Ihr beklatscht ohnehin alles, also was soll’s, hier ist ein Blues. Zynische Musik. Bittere Imitationen seiner selbst, virtuos hingeknallt für ein dummes Publikum, das nicht still und unsichtbar sein kann.

Aber es klang stellenweise immer noch herrlich. Besonders der Blues, dieser Rhythmus, derb und geil. War das nun Jarrett oder nicht? Ich stellte mir vor, wie der Künstler vor dem Konzert ins Mikrofon sagt: „Nehmen Sie die Brillen ab, alle, ausnahmslos, Sie brauchen kein gestochen scharfes Bild, um die Musik zu genießen. Fuck you. Und schauen Sie nicht dauernd auf die Armbanduhr. Was hat Technologie hier neben mir und meiner Kunst zu suchen?“

Der Applaus nach den letzten Stücken wurde immer begeisterter, oder vielleicht auch verzweifelter. Jedenfalls wurde er lauter. Dreimal verließ der Meister die Bühne und ließ sich lange bitten und beklatschen, bis er wiederkam und, was soll’s, noch etwas spielte. Es klang alles sehr gut. Ich hatte manchmal Gänsehaut. Aber was heißt das schon. Ich weiß nichts mehr von dieser Musik. Sie geht mich so viel an wie ein heiliger Text. Ich hatte einen visuellen Moment digital festgehalten. Zwar hatte ich nicht direkt dem Körper des Meisters Photonen gestohlen, als dieser die Bühne betreten hatte, aber egal, ich hätte es tun können. Ich war der Feind.