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Ich habe Angst

 

Es gibt unzählige Dinge, die einem Angst machen können. Nach dem Amoklauf in München und den Terroranschlägen in Europa ist es vor allem der Mensch selbst.

Copyyright: Michael Dalder/Reuters
Copyright: Michael Dalder/Reuters

Ich habe Angst. Ich habe Angst vor dem Zahnarzt, ich habe Angst davor, etwas zu verpassen, ich habe Angst im Flugzeug, aber nicht vor einem Absturz und nicht mehr so oft. Ich habe keine Angst vor dem Tod, oder aber ich mache mir keine Gedanken darüber. Ich habe keine Angst vor dem Anders-Sein, aber davor, dass meine Kinder an ihrem Anders-Sein leiden könnten, und ich mag mich selbst nicht für diesen Gedanken. Ich habe keine Angst vor Terror, aber ich habe Angst vor dem Menschen. Ich habe Angst, nicht schreiben zu können, obwohl es doch das Einzige ist, was ich zu können meine: Schreiben.

Die Welt war schon lange nicht mehr in Ordnung, aber wir debattierten nur darüber, und wir machten uns Sorgen, wir schüttelten die Köpfe, wir glaubten schon lange nicht mehr, wir fragten uns, und andere fragten wir nicht, weil wir nicht mehr miteinander sprechen wollten, aber wir lebten so, als wäre noch gar nichts passiert. Wir lebten in München, und genau genommen war nur dort noch gar nichts passiert. Nizza war bereits ein Begriff, dem Sonne und Strand in der Assoziationskette abhanden gekommen waren. Und in der Türkei hatte bereits ein Putsch stattgefunden, im Laufe dessen Hunderte Menschen auf offener Straße getötet wurden, und Erdoğan hatte sich die Macht wieder gegriffen, als führe er einen Hund an der Leine wieder zurück, komm jetzt her! Und in einem nächtlichen Regionalexpress hatte ein Jugendlicher, ein Gerade-noch-Kind-Gewesener mit einer Axt um sich geschlagen, und während sich manche möglicherweise innerlich freuten, dass die Opfer allesamt aus Hongkong kamen, diskutierten wir schon über reflexive Verben: Wie radikalisiert man sich selbst? Und über Akkusativ-Objekte: Wer radikalisiert hier wen? Die Welt war längst nicht mehr in Ordnung, aber wir taten gerne so als ob, und wir klangen klug dabei, reflektiert und uns unserer Verantwortung in dieser Welt bewusst: Immerhin, wir hatten Klamotten für die Flüchtlinge gesammelt. Und gefaltet haben wir die Klamotten auch.

Dann war dann Schluss mit der Egomanie. Wir leben in München, und München ist diese Stadt, in der nichts, aber auch gar nichts geschieht. Das Leben ist wie der Englische Garten: Am Eisbach sind die Surfer, ein paar Meter weiter die Nackten, man radelt zur Arbeit hindurch und kann dort im Winter auch Schlitten fahren, beim Milchhäusl mit Spielplatz gibt es für die Kleinen ein Bio-Eis zu unbezahlbaren Preisen, und irgendwie haben sich im Englischen Garten alle ganz furchtbar lieb. Dann schoss da aber einer, bei uns, in München, einer, der todunglücklich war, einer, den keiner gemocht hatte, und so hatte er am Ende auch niemanden gemocht. Also nannte er sich Hass. Also schoss er, erst auf dem Bildschirm und später dann im OEZ, und wir dann, und wir so, und wir, als wäre es eine Überraschung, und wir, als hätten wir nicht zugehört, nicht in den vergangenen Jahren, nicht in den vergangenen Monaten, nicht in den vergangenen Wochen, und wir dann so: Was? Bei uns? In München?

Ich habe Angst. Ich habe Angst vor dem Menschen. Ich habe Angst vor dem Kind im Menschen, nicht dem neugierigen, zeitlosen, urteilsfreien, sondern dem ich-bestimmten Kind. Ich habe Angst vor dem Kind, das ein Ich schreit, ein einziges Ich. Ich habe Angst vor dem Sandkasten-Gefühl: Erwachsene, die sich im Sandkasten wiederfinden, in dem es eng wird. Mein Eimer, meine Schaufel, alles meins, meins, meins. Und das Kind, das am Rand steht und mit den Augen fragt, weil ihm die Sprache noch fehlt, ob es mitspielen darf, wird nicht hineingelassen. Nein, darfst du nicht. Alles meins. Mein Eimer, meine Schaufel, alles meins, meins, meins. Ich habe Angst vor dem, was mit dem Menschen passiert, der in Angst ertrinkt.

Die falschen Fragen, die falschen Antworten

Als die Ordnung in München ausgehebelt wurde, saß ich in den Kammerspielen, einem Münchner Theater, fest. Das Projekt, das ich mit leitete, und das gerade auf der Bühne war, wurde abrupt abgebrochen, die Polizei bat alle Anwesenden, den Raum nicht zu verlassen, weil das den Saal umgebende Foyer verglast sei und somit eine Einladung für einen Schützen. Das sagten sie so, eine Einladung für einen Schützen, und bis zu diesem Moment hatte ich in den vorangegangenen Probetagen bei „verglast“ hauptsächlich „Hitze“ gedacht. Diese Tage, in denen den Begriffen die Bedeutung entrissen wird, und den Menschen ein Lebensgefühl, ein Glaube an das Fortwähren des eigenen Lebens. Es war stickig im Raum, und im Raum war Angst. Jemand drehte ohne Vorwarnung die Lüftungsanlage an, die Ventilatoren hörten sich an wie Flugzeugturbinen, und ein Schrecken ging durch den Raum, ein Aufschrei, ein Zusammenzucken der Masse, eines, das Wochen, Monate zuvor gefehlt hatte, dann freute man sich über die kühle Luft. Jemand von den Kammerspielen ergriff das Mikro, gab die Regeln der Polizei noch einmal durch und machte sich besondere Mühe hinzuzufügen: Es ist ein Terrorangriff. Das war, während die Polizei über Twitter inständig darum bat, den Begriff Terror sowie keine weiteren Gerüchte zu verbreiten, und ich hörte auf, die weinenden Menschen zu zählen. Ich weiß nicht, warum ich keine Angst hatte.

Ich habe Angst davor, nicht berührt zu werden. Ich habe Angst vor Silberfischen, aber keine vor Spinnen, ich weiß nicht, jeder hat seine eigenen Ängste. Ich habe Angst, dass wir die falschen Fragen stellen. Ich habe Angst, dass wir nach Religion und Herkunft fragen, aber nicht nach psychologischen Krankheiten und nicht nach situativen Umständen. Ich habe Angst, dass wir nach ihnen fragen, und nicht nach uns. Ich habe Angst, dass wir nach Computerspielen fragen, und nicht nach Bildungssystemen und Wohnbrennpunkten. Ich habe Angst, dass wir nach islamistischer Radikalisierung fragen, aber nicht nach rechtsradikaler. Ich habe Angst, dass wir Fragen vergessen: zum Beispiel die, was jemandem zugestoßen sein muss, und wie wir es zugelassen haben, dass ihm das zugestoßen ist, dass er im Tötungsaffekt noch schreien muss „Ich bin Deutscher!“, dass er das noch beweisen muss. Und die Frage nach dem Wem. Ich habe Angst, dass wir keine Antwort finden auf die Frage, was ein Achtzehnjähriger erlebt, gefürchtet, durchlitten haben muss, dass er sich gefreut hat, am selben Tag Geburtstag zu haben wie Hitler. Ich habe Angst, dass wir die falschen Fragen beantworten, und mit den Antworten noch mehr Angst schüren. Ich habe Angst, vor dem Danach, und dass das Danach ein Jetzt sein könnte.

Man darf, man darf, man darf

Zwei Tage nach dem Amoklauf in München fuhren meine Kinder und ich durch die Innenstadt, und sie baten mich darum, es war heiß, stickig und blauhimmelig, einmal durch den Stachhus-Springbrunnen rennen zu dürfen. Ich überlegte nicht lang: Wir hatten keine Ersatzklamotten dabei und waren eigentlich auf dem Weg, ein Eis zu essen, ich trug ein weißes T-Shirt, und einen Parkplatz in der Münchner Innenstadt zu finden, ist eine große Herausforderung, auch wenn man nicht so ein talentfreier Autofahrer ist wie ich. Genug Gründe also, um genau das zu tun: Durch den Springbrunnen zu laufen. Wir zählten bis drei, im Springbrunnen glitzerten Regenbögen, der Kleinste schrie, weil er Wasser in den Augen nicht mag, alles an mir triefte, alles lachte, ich freute mich an diesem Pippi-Langstrumpf-Gefühl. Zwei Tage zuvor hatte es hier an dem Springbrunnen eine Massenpanik gegeben, weil jemand Gerüchte in die Welt gesetzt hatte, auch hier würde geschossen. Wir rannten durch das Wasser und feierten Sommer und Kindheit in einer Bewegung, und nichts davon war ein Trotz. Ich blickte nicht nach rechts und nicht links, und fragte mich nicht, ob und wer und warum. Ich war nass von oben bis unten und wieder zurück. Im Laufe des Wochenendes hörte ich von vielen Veranstaltungen, privater und öffentlicher Art, die trotzdem stattfanden. Trotzdem.

Ich habe keine Angst vor Menschen, die am Stachhus schießen oder sich selbst und andere in die Luft jagen. Ich habe Angst vor dem Trotz. Der Trotz hat eine einfache Ableitung, die nennt sich Um nicht. Um nicht in einem Trotz leben zu müssen, darf man eine ganze Menge. Man darf zum Beispiel Menschen in Länder abschieben, in denen Krieg herrscht. Man darf pauschalisieren. Man darf im Stich lassen. Man darf, und man darf, und man darf.

In der Nacht, als die Polizei in München den Menschen riet, zu Hause zu bleiben, weil sie nicht wusste, ob und wie viele Täter noch unterwegs waren, startete jemand, der keine Angst hatte, einen Aufruf per Twitter, die eigenen Türen für Gestrandete zu öffnen: Menschen, die nicht nach Hause kamen, Menschen, die der Aufforderung der Polizei folgten und sich nicht durch die Stadt bewegen wollten. Unzählige folgten diesem Aufruf: Der Hashtag #offenetueren entfaltete eine ebensolche Geschwindigkeit wie die Gerüchte um weitere Schießereien quer durch die Stadt. Viele öffneten ihre Türen, andere schlossen ihre ab und kontrollierten noch einmal. Ich habe Angst, dass es weniger offene Türen geben wird, je mehr passiert, und das Mehr wage ich nicht zu benennen. Ich habe Angst, dass jemand lauter schreit als jemand anders, ich habe Angst vor Fehlern, nicht wieder gutmachbaren.