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Gebrüll ist keine Sprache

 

Wir kommunizieren nicht mehr, wir überschreien uns nur noch. Schuld daran ist nicht die Politik, sondern das Internet. Wir brauchen einen digitalen Verhaltenskodex.

© dpa
Teilnehmer einer Pegida-Demonstration in Antwerpen © dpa

Gegenwärtig ertönt ein Gebrüll, das von Wut, vor allem jedoch von einer herrischen Unduldsamkeit zeugt, die Dialog und Diskussion, mithin die Meinungsvielfalt, durch das gute, alte Basta ersetzt sehen will, das uns die spanische Soldateska des Dreißigjährigen Krieges hinterlassen hat: Als einzig wahre Wahrheit, die jeden, der sie nicht teilt, zum Ungläubigen macht.

Gebrüll, ob von links oder rechts, ob aus politischen oder religiösen Lautsprechern hallend, ist keine Sprache, ja nicht einmal ein Kommunikationsversuch, sondern eine Form von Gewalt, wie sie von allen Fundamentalisten ausgeübt wird, egal, wer diese sein oder wie sie sich nennen mögen – ob Abend- oder Morgenländer, ob Teufel oder Beelzebub –, und sie geht stets mit höhnischer Abwertung und Diffamierung einher, denn irgendwie muss das Gebrüll ja doch begründet werden.

Wer erklären will, warum die Sprache von Gedröhne, Getöse und Gepolter übertönt zu werden droht, greift zu kurz, wenn er einzelne Parteien dafür verantwortlich macht. Zwar gibt es Gruppen, die sich das Gebrüll zunutze machen oder auch anheizen, aber diese sind wohl weder die eigentlichen Sprachrohre noch Quellen. Ursprung des Gebrülls in dessen aktueller Gestalt, jener Ort, der ihm sowohl Raum gibt, als auch sein weiteres Anschwellen erlaubt – dieser Ort dürfte das Netz sein, das die User, gerade weil es so gigantisch ist, dazu veranlasst, sich in Rudeln, Rotten und Herden, in Weilern und Dörfern mit weitgehend homogener Bevölkerung zu organisieren: ähnlicher Hintergrund, ähnliche Interessen, Meinungen, Vorlieben und Klamotten.

In diesen relativ kleinen sozialen Einheiten bestätigt man einander, heizt sich gegenseitig auf, bejubelt Grenzüberschreitungen, definiert sich nicht nur durch Gemeinsamkeiten, sondern auch durch Ab- und Ausgrenzung, bis man am Ende dem Irrglauben erliegt, man sei die Norm und stehe für das Ganze und alle anderen müssten denken wie man selbst, und wenn nicht, tja, dann gibt es eben Zunder. So gesehen fördert das Netz eine Enthemmung, die sich schließlich auch in der konkreten Realität auswirkt, und erzeugt gleichzeitig einen Anpassungsdruck, der durch Sanktionen (Verhöhnung, Mobbing, Ausgrenzung usw.) jederzeit erhöht werden kann. Ein ebenso perfektes wie perfides Instrument, um andere in Reih und Glied zu prügeln, und, da das Netz in Teilen immer noch unzivilisiert ist, die perfekte Echokammer für ein Gebrüll, das Andersdenkenden die eigene Meinung aufzwingen, sie zum Schweigen bringen soll, was, nebenbei gesagt, von erheblicher Arroganz zeugt.

Das Gebrüll versucht, die Sprache des Dialogs zu zerstören, der auf das Zuhören ebenso angewiesen ist wie auf das Sprechen, und weil unser Gemeinwesen auf genau diesem Dialog aufbaut, ist das Gebrüll eine Kampfansage an die Werte, Rechte und Freiheiten der Demokratie. Wollte man es auf ein erträgliches Maß reduzieren und der Sprache zu Ihrem Recht verhelfen, dann könnte eine Maßnahme darin bestehen, das Netz, in dem Meinungsfreiheit vielfach als Recht auf Verleumdung und Lynchjustiz aufgefasst wird, auf einen Verhaltenskodex zu verpflichten, der das Grundrecht auf Menschenwürde auch in der digitalen Welt durchsetzt.

Wie soll die Demokratie im konkreten Alltag funktionieren, wenn ihre Werte in der Parallelwelt namens Internet mit Füßen getreten werden? Zwei Welten, eine davon mehr oder weniger rechtlos? Nein: Zwei Welten, ein Recht, denn ohne Maximen und feste Regeln verwildert die Freiheit zu Willkür. Unsere Muttersprache jedenfalls, die uns zu Deutschen macht, die genau genommen alle, die hier leben und sie beherrschen, zu Deutschen macht, hat Besseres verdient, als für Gebrüll missbraucht zu werden.

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