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Über Leonard Cohens unfassbare Komik

 

Du singst für eine Angebetete, die aber mit Musik leider gar nichts am Hut hat? Das zeugt schon von Humor. Der verstorbene Liedermacher hatte eine Menge davon.

© Nicolas Maeterlinck/AFP/GettyImages
© Nicolas Maeterlinck/AFP/GettyImages

Natürlich habe ich geweint, morgens um sechs in der Küche, die Fenster der Nachbarn gegenüber schwarz, der Himmel darüber noch dunkler. „Weißt Du, wer gestorben ist?“ fragte mich meine Frau, und ich wusste es, obwohl ich es nicht wissen konnte, und hielt das Lied, das gerade im Radio kam, fälschlicherweise für einen Cohen-Song, obwohl doch eindeutig eine Frauenstimme sang, alle Lieder waren in diesem Moment von ihm.

Und natürlich habe ich nicht um Leonard Cohen geweint, sondern um mich selbst. Um die erste große Liebe, mit der ich immer Songs From a Room hörte in ihrem großen weißen Zimmer. Um den Freund, den ich in seinem Blut und Erbrochenen fand, die Pulsadern aufgeschnitten, das leere Chorbleichegebinde daneben, aber er lebte und fragte mich: „Kannst Du Songs of Love and Hate auflegen?“ und ich konnte, und während wir auf den Notarzt warteten, hörten wir Avalanche. Und natürlich weinte ich um die bittere Erkenntnis, dass wir, wenn es selbst jemanden wie Cohen erwischt, alle irgendwann sterben müssen, there ain’t no cure, weder für die Liebe noch das Leben, diese verdammte Krankheit zum Tode.

Aber spätestens, als ich das Haus verließ und das Schwarz des Novembermorgens sich in ein frostiges Mittelgrau aufgehellt hatte, begann ich zu lächeln, ja ein paar Mal lachte ich sogar, diskret mit geschlossenem Mund, Dampfwölkchen aus der Nase. Weil alle Cohen-Zitate, die mir einfielen, so gar nicht zum Klischee des düster alttestamentarisch raunenden Psalmisten passten, sondern ausgesprochen lustig waren. Weil mir klar wurde, dass ich Cohen stets vor allem als komischen Dichter gesehen hatte. Komisch im Sinne von Kafka und Beckett und Nietzsche und Cioran, das heißt: erhaben. Seine Komik ist eine, die sich nicht fassen lässt. Ich versuche es trotzdem.

Zeilen, die mich zum Aufschnauben brachten: Der Anfang des herrlichen, hundertfach gecoverten Lobpsalms Hallelujah, „I heard there was a secret chord / That David played and it pleased the Lord / But you don’t really care for music, do you?“ Die vierte Strophe von Tower of Song, in der Cohen über dem billigen Pluckern eines Kinderkeyboards deklamiert: „So you can stick your little pins in that voodoo doll / I’m very sorry, baby, doesn’t look like me at all“. (Ich weiß, wahre Fans jauchzen immer schon eine Strophe vorher, wenn Cohen mit rauchiger Stimme von seiner golden voice singt; aber ich warte auf das Voodoo-Püppchen). Fast der gesamte Text des Ethno-Elektro-Stampfers Everybody Knows, beispielsweise das bittere Couplet „Everybody knows that you’ve been faithful / Give or take a night or two“. Oder jene Zeilen, in denen Cohen seinen erst vor wenigen Wochen aufgefrischten Vorsatz, ewig zu leben, formuliert: „Everybody knows that you live forever / When you’ve done a line or two.

Die Themen sind bitterernst: Gotteslob, Hass, Eifersucht, Sex, Tod, Drogen, die Sprache nüchtern wie ein Anonymer Alkoholiker. Was gibt’s da also zu lachen?

 

Wir sind nur zugekokst unsterblich

David Foster Wallace hat, in einem großartigen Essay namens Some Remarks on Kafka’s Funniness from Which Probably not Enough Has Been Removed, einmal versucht, dem Geheimnis von Franz Kafkas Komik auf die Spur zu kommen. Der „Witz“ von Kafkas Aphorismen, Geschichten und Fabeln bestehe, so Wallace, darin, dass der Erzähler dem Leser stets eine entscheidende Information (oder besser: Exformation) vorenthalte und erst in allerletzter Sekunde meist betont beiläufig nachreiche.

Man denke an Kafkas Kleine Fabel, in der wir ausführlich den Monolog einer Maus referiert bekommen, die nicht in die Falle rennen will, aber erst im letzten Satz erfahren, dass die größte Gefahr die ganze Zeit woanders lauerte: „‚Du musst nur die Laufrichtung ändern‘, sagte die Katze und fraß sie.“ Oder an Kafkas lakonisches Diktum: „Es gibt Hoffnung, aber nicht für uns“. Die Pointe stellt alles, was wir vorher zu wissen glaubten, auf den Kopf. Gewissheiten implodieren, Hoffnungen entgleiten. Wir retten uns notgedrungen ins Lachen.

Ganz ähnlich, so scheint es mir an diesem traurigen Tag, funktioniert auch die Komik bei Cohen. Ein Mann behauptet, er kenne eine geheime Akkordfolge aus der Feder von König David persönlich, ein Lied, das sogar den Ohren des HERRN gefalle – aber die von ihm Angesungene kann, wie sie herausstellt, mit Musik leider ü-ber-haupt nichts anfangen. Eine Frau durchbohrt ein Voodoo-Püppchen mit Nadeln, um den Sänger zu töten – aber hey, die Puppe sieht ihm gar nicht ähnlich (andererseits: Hat das ein Voodoo-Püppchen je getan?). Universale Wahrheiten werden verkündet: Alle wissen, dass Du mir treu bist – aber nicht immer, also eigentlich gar nicht, also ist alles gelogen. Und natürlich die bitterste Pointe: Alle wissen, dass wir Menschen unsterblich sind – aber nur, wenn wir zugekokst sind. Nüchtern betrachtet wissen wir gar nichts, wir erfahren die Wahrheit immer erst, wenn es zu spät ist, wenn der Rausch sich verflüchtigt hat, das Lied an taube Ohren verschwendet ist, wenn die böse Miezekatze uns frisst.

Cohen war sich dieser tragikomischen Dimension des Daseins stets bewusst. Auf dem Cover des Albums I’m Your Man, auf dem auch Tower of Song und Everybody Knows enthalten sind, trägt er Armani-Anzug und Sonnenbrille, die Haare nach Miami-Vice-Art zurückgegelt – und schlingt dabei gierig eine Banane herunter. Nicht gestellt, ein Schnappschuss, wie er später erzählte. „‚Da ist dieser Typ, ziemlich cool‘, dachte ich, ‚er wirkt, als hätte er alles im Griff, er weiß, wer er ist‘ Und dann wurde mir klar, dass das unser aller Dilemma ist: Immer wenn wir denken, dass wir gerade besonders cool sind, sehen alle anderen bloß einen Typen mit einer Banane im Mund.“

Primat im Nadelstreifenanzug: Franz Kafka, der die äffische Natur des Menschen durchschaute wie kein zweiter, hätte an dem Foto sicherlich seine dunkle Freude gehabt. Der zentrale Witz in dessen Werk bestehe darin, schrieb David Foster Wallace, dass es die Idee einer abgeschlossenen, gereiften Persönlichkeit, eines Subjekts, das mit sich und seinem Lebensweg im Reinen ist, ad absurdum führt: „Der schreckliche Kampf, ein Ich herauszubilden, führt zu der Bildung eines Ichs, das die Spuren dieses schrecklichen Kampfs unveräußerlich in sich trägt.“

 

Der Mensch lebt in seinen Trümmern

Auf dem vorletzten und großartigsten Stück seines letzten Albums besingt Cohen genau diesen struggle: „Steer your heart past the truth that you believed in yesterday / Such as fundamental goodness and the wisdom of the way / Steer your heart, precious heart, past the women whom you bought / Year by year, month by month, day by day / Thought by thought.“ Die Geister der Vergangenheit stehen da wie Ruinen aus einer vergangenen Epoche: der Glaube an das Gute im Menschen, an die Richtigkeit getroffener Entscheidungen, sexuelle und menschliche Verfehlungen … aber sie sind noch in jedem atmenden Gedanken präsent, die Trümmer lassen sich nicht wegräumen, die Geister nicht vertreiben, du musst dich ihnen stellen. Bis zuletzt.

Das ist dann, zugegeben, eine sehr dunkle Komik, wenn überhaupt. You want it darker? Bitteschön. Und plötzlich erscheint mir alles gerade Geschriebene unsinnig, absurd, haltlos, als würde ich mich umdrehen und in die Augen einer riesigen, hungrigen Katze blicken, die mich und meine gesamten Gedanken zur Cohenschen Komik mit einem Happs verschlingt. Und während ich den Schlund hinunterrutsche, erhasche ich noch einen letzten Blick auf die Trümmer meiner Theorie, ein Schein am Ende des Tunnels: Vielleicht hat Cohen seine melancholisch-weltmüden Texte, das subsonische Raunen seiner Stimme, die tiefergelegten Bässe und Streicher und Keyboardebenen nur ausgebreitet, damit die raren Momente der Komik darauf umso heller funkeln.

Vielleicht ist es die vornehmste Aufgabe der Finsternis, komische Momente umso strahlender leuchten zu lassen. Wie Diamanten in der Mine, ein Sonnenstahl im November. Sterne am Firmament.