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Wovon träumen die Menschen in Sibirien?

 

Immer mehr Menschen verlieren den Glauben an die Demokratie. Wie kann das sein? Auf einer Reise an die Ränder Europas, nach Nowosibirsk, beginnt man zu verstehen. 

© Valery Titievsky/AFP/Getty Images
© Valery Titievsky/AFP/Getty Images

In den letzten Monaten habe ich beinahe ununterbrochen dunkle Gedanken. Eines der wichtigsten Ereignisse im Leben meiner Eltern war unsere Auswanderung von Polen in die BRD. Meine Eltern hatten ihre Jugend und die ersten Jahre ihres Familienlebens unter einer kommunistischen Diktatur verbracht, weshalb unsere Ankunft im demokratischen Westen für sie wirtschaftliche Selbstbestimmung, die Freiheit, zu denken und zu äußern, was sie wollten, und ein Ende der staatlichen Willkür bedeutete. Wie kann es sein, so frage ich mich, dass es heute in Europa, rund 25 Jahre nach dem Mauerfall, Menschen gibt, die nicht mehr an die demokratischen Institutionen glauben und populistische Parteien wählen? Parteien, die, wie man es am Beispiel der polnischen PiS sieht, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Medien einschränken, sobald sie an der Macht sind, und Fremdenhass schüren. Ich liege manchmal nachts wach, weil ich es nicht begreifen kann.

Den September des letzten Jahres verbrachte ich auf Einladung des Goethe-Instituts in Nowosibirsk, und ich meine, dort viel verstanden zu haben, vielleicht durch die Entfernung von zu Hause. Allmählich wird mir immer klarer, dass Russland einen Schlüssel darstellen könnte zum Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Vorgänge auch hier bei uns. Ich denke oft über diesen meinen Monat in Sibirien nach, hinter dem Ural.

Am Tag meiner Ankunft – es war mein Geburtstag – lernte ich die Gastfreundschaft der in Nowosibirsk lebenden Leute kennen. Aber ich begann auch bereits den Abgrund zu spüren, der mich von ihnen trennt. Elena und Natascha vom Goethe-Institut luden mich in eine Bar ein. Bei einem Bier sprachen wir über ihre Lieblingskneipen in Berlin, über Serien und über Bücher. Wir sprachen über den Druck seitens ihrer Eltern und Freunde, so schnell wie möglich zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ich empfand eine große Sympathie für sie als Menschen in meinem Alter, die ihr Leben mit allen dazugehörenden konkreten menschlichen Problemen führten.

Pelz und High Heels

Dann kam das Gespräch auf die Krim. Neunzig Prozent der Krimbewohner hätten in einem inoffiziellen Referendum dafür gestimmt, an Russland angeschlossen zu werden, sagte Natascha. Sie verstehe nicht, warum die Europäer die Annexion als Problem ansähen. Außerdem sei die Krim ein Geschenk Chruschtschows an die Ukraine gewesen, sie gehöre also eigentlich noch immer Russland. Diese Logik traf mich ganz unvorbereitet. Es schien plötzlich aus Natascha etwas zu sprechen, angesichts dessen mir mein Argument von der Verletzung des Völkerrechts ganz schwächlich vorkam. Als Argument für die Verbindlichkeit von internationalen Absprachen schien es mir zu einer anderen, von Nataschas Argumenten ganz unabhängigen Sphäre zu gehören. Ich führte es trotzdem aus, worauf Natascha antwortete, dass die Krim russisch sei, schließlich habe Katharina die Große sie vor 250 Jahren von den Tataren erobert. Für einen Augenblick kam mir meine europäische Position, die doch auf Kants universalem moralischen Vernunftgedanken, der Erfahrung des Grauens im letzten Weltkrieg und auf dem Wissen um die Realität der Gaskammern basierte, erschreckend relativ vor.

In den nächsten Tagen sah ich in der Stadt Matrosen, Polizisten und Korporale. Menschen mit chinesischen Gesichtszügen. Tataren. Eine Frau in Pelz und High Heels, geschminkt wie ein Model. Eine junge Frau in schwarzem Mantel, mit schwarz gefärbten Haaren und bleich geschminktem Gesicht ging an mir vorbei, ich tauchte durch die Vanilleduftwolke ihrer elektronischen Zigarette. Auf einem Platz vor einem Park spielte eine Punkband, der Bassist und der Schlagzeuger trugen Sonnenbrillen. Ich sah Usbeken, Kasachen, Mongolen. Ich wurde auf einen Empfang im Rahmen eines Dokumentarfilmfestivals eingeladen und sprach dort mit der Festivaldirektorin, die aus dem Ural stammte und 1986 Kamerateams nach Tschernobyl geschickt hatte. Ich unterhielt mich mit einem italienischen Dokumentarfilmer, einer amerikanischen Dichterin und Übersetzerin und einem schwedischen Diplomaten aus Moskau, der mit mir fehler- und akzentfrei Polnisch sprach.

An einem Samstagvormittag ging ich zu einer Friseurin, die Englisch sprach. Als sie mich kurz zu warten bat und im hinteren Bereich des Ladens verschwand, stand ich alleine etwas herum. Eine andere Angestellte tauchte auf und stellte mir Fragen auf Russisch, die ich nicht verstand, sodass sich alle Angestellten im Laden aufgeregt auf die Suche nach der Verschwundenen machten.

Stalins Konterfei

Ich begriff allmählich, dass der Körper dieses Landes, hier hinter dem Ural, ganz in sich ruht, seit Jahrhunderten. Nowosibirsk ist dreieinhalb Tage mit dem Zug von Moskau entfernt. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Großteil der russischen Kriegsindustrie nach Sibirien verlegt. Im Kalten Krieg war das Städtchen Akademgorodok in der Nähe von Nowosibirsk eines der Zentren der Sowjetischen Forschung in den Bereichen Teilchenphysik, Genetik und Militärtechnik. Hier ist Russland, spürte ich, vor jeder europäischen Armee sicher, vor jedem Europa. Natascha hat polnische Vorfahren, die vom letzten Zaren in eine sibirische Kolonie deportiert worden waren. Andere haben usbekische, kasachische oder mongolische Vorfahren, weil Stalin ganze Volksgruppen aus einem Landstrich in einen anderen verschoben hat, um sie zu Sowjetmenschen ohne eigene Geschichte zu machen. Das, was für uns Europäer Englisch ist, ist hier Russisch.

Von Tag zu Tag spürte ich deutlicher etwas, das mir bekannt vorkam.

In der Stadt sprach man zu der Zeit von einem Ereignis, das alle den Tannhäuser-Fall nannten. Ein Regisseur hatte ein paar Monate zuvor Tannhäuser inszeniert und darin eine nackte Frau an einem Kreuz gezeigt. Die orthodoxe Kirchengemeinde von Nowosibirsk war empört gewesen, Menschen hatten vor dem Operngebäude auf dem Lenin-Platz gegen die Aufführung des Stücks demonstriert. Der Intendant der Oper wurde entlassen. Der neue Intendant setzte das Stück ab, trotz der Proteste anderer Stadtbewohner.

Putin stilisiere sich gerne als Verteidiger der christlichen Werte, sagte Konstantin, der in Nowosibirsk geboren und aufgewachsen ist und mir an einem Nachmittag eine historische Stadtführung gab. In den staatstreuen russischen Medien lasse er Europa als dekadent und islamfreundlich und als Gefahr für das christliche Abendland darstellen.

In jedem Metro-Durchgang der Stadt, in jedem Park kamen wir an Stellwänden mit Fotografien von jungen Männern in Uniform vorbei, die im Kampf gegen Nazi-Deutschland gefallen waren. Die Erinnerungen an den Vaterländischen Krieg und die Millionen von Menschen, die ihr Leben ließen, auch für Europa, sind in der ganzen Stadt präsent. Tatsächlich sollte man das anerkennen; Russland hat im Zweiten Weltkrieg ohne Zweifel unvorstellbar gelitten. An einem Tag im Jahr fahren in ganz Russland Busse, auf deren Seitenwände die Besitzer das Konterfei Stalins aufgemalt haben. Es gibt Menschen in der Bevölkerung, die dagegen protestieren und daran zu erinnern versuchen, dass Stalin ein Massenmörder war. Aber immer mehr Leute haben die Sowjetzeit nicht selbst erlebt, sie sind stolz auf ihren großen Staatsmann. Die Regierung unterstützt diesen nationalen Stolz, kontextualisiert ihn nicht.

Moderner Großinquisitor

Wovon träumen die Menschen in Sibirien, fragte ich mich immer wieder. Mitte des Monats fuhr ich mit der Sibirischen Eisenbahn in die Nachbarstadt Krasnojarsk. Auf der Rückfahrt traf ich im Zug Pawel. Er wollte sein Englisch üben, schaute vor jedem dritten Wort zur Decke des Abteils, rang mit den Händen, lachte und sagte dann doch ein russisches, das ich mit meinem Polnisch verstand. Seine Firma verkaufe Elektrobauteile, erzählte er mir. Er habe eine Freundin, sie seien aber nicht verheiratet, er wohne noch immer bei seinen Eltern. Ich würde mir gern eine eigene Wohnung leisten können, sagte er. Ich würde außerdem gern nach Europa reisen. Matthias, wohin würdest du gerne reisen? Ich würde gerne einmal mit dem Auto durch die USA fahren, sagte ich. Ja, das wäre interessant, rief er und lachte wieder. Dann wurde sein Gesicht ernst. Russland exportiere nichts außer Öl und Holz. Der Ölpreis falle, und sofort sei der Rubel nur noch die Hälfte wert. Ich weiß nicht, wovon wir in Zukunft leben sollen, sagte er. Dann fragte er, wie es mit den Flüchtlingen in Deutschland eigentlich wirklich sei, denn er wisse, dass er vom Fernsehen und den anderen Medien angelogen werde.

Zurück in Nowosibirsk sah ich junge Mädchen, die sich im Park gegenseitig mit ihren iPhones fotografierten. Vor jedem Plattenbau waren die Parkplätze überfüllt mit den neusten asiatischen Autos. In den Randbezirken der Stadt, zwischen den Plattensiedlungen, sah ich Holzbaracken, in denen Menschen wohnten – hinter Zäunen aus Holztüren und Plastikplanen.

Ich musste jetzt immer häufiger an die Legende vom Großinquisitor aus Die Brüder Karamasow von Dostojewski denken. Ivan Karamasow, der an den Gräueln der Kriege seiner Zeit und der Verrohung der Menschheit verzweifelt, erzählt sie seinem Bruder Aljoscha, dem Mönch, der scheinbar unverwüstlich an das Gute im Menschen glaubt. Ivans Erzählung beginnt mit einer Bibelszene, in der Jesus auf seiner Wanderung durch die Wüste vom Teufel versucht wird. Der Teufel bietet ihm ein echtes Wunder an, auf Basis dessen die Menschen ohne jeden Zweifel an ihn zu glauben beginnen würden. Aber Jesus lehnt ab, er will, dass die Menschen sich aus freien Stücken für ihn entscheiden, auch wenn sie nicht sicher sein können, ob sie nach dem Tod wirklich etwas erwartet. Ivan Karamasow fügt in seiner Erzählung einen neuen Teil hinzu: Zur Zeit der spanischen Inquisition kommt Jesus zurück auf die Erde, wo ihn ein Priester gefangen nimmt. Der spanische Großinquisitor sagt zu Jesus, dass die Menschen ihn nicht mehr brauchen. „Das Ende wird sein, dass sie ihre Freiheit uns zu Füßen legen und uns sagen: ‚Macht uns zu euren Knechten, aber macht uns satt!‘ Sie werden endlich einsehen, dass Freiheit und irdisches Brot, ausreichend für alle, unvereinbar sind, denn niemals, niemals werden sie lernen, miteinander zu teilen.“

Ich fragte mich, ob Putin ein moderner Großinquisitor ist, der sich zum Retter der wirtschaftlichen Stabilität und der christlichen Werte in einer neuen unsicheren Zeit emporschwingt.

In diesem Zusammenhang lasse ich mir oft eines meiner letzten Erlebnisse in Nowosibirsk durch den Kopf gehen. Bei einem Treffen mit in der Stadt lebenden russischen Schriftstellern erzählte mir einer von ihnen, Witalij, die folgende Geschichte: Er habe als junger Mann, fünf Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, ein Mädchen vor dem Selbstmord gerettet. Er habe damals im achten Stock eines Plattenbaus gewohnt und sei sehr verliebt gewesen in eine Frau, aber als armer Schriftsteller und Redakteur habe er bei ihr, obwohl sie ihn ebenfalls geliebt habe, keine Chance gehabt. Eines Tages sei er nach Hause gekommen und habe das Fenster geöffnet, und genau in diesem Moment sei die Tochter seiner Nachbarn aus dem Fenster über ihm gesprungen. Und er habe sie, so unglaublich das klinge, aufgefangen. Kurz darauf habe sich herausgestellt, dass der Vater des Mädchens beim SB arbeitete, der Nachfolgerorganisation des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Wenn ich dir irgendwann helfen kann, habe der Vater mit Tränen in den Augen zu Witalij gesagt, wenn du meine Kontakte brauchst, ich werde alles für dich tun, sogar jemanden ermorden lassen. Es gebe da eine Sache, habe Witalij gesagt. Er habe den Vater gebeten, dafür zu sorgen, dass die Frau, die er liebe, keinen seiner Konkurrenten heiratete, sondern ihn. Heute, zwanzig Jahre später, sagte Witalij, seien sie immer noch verheiratet. Sie hätten wenig Geld und wohnten noch immer in der Wohnung im achten Stock des Plattenbaus, aber sie liebten sich und seien glücklich. Als Witalij die Geschichte beendet hatte, war in seinem Gesicht eine herzzerreißende Zärtlichkeit zu sehen, er schien die zwanzig Jahre mit seiner Frau noch einmal vor sich ablaufen zu sehen. Ich fragte mich, ob die Geschichte wahr sein konnte. Aber als ich diesen seinen entrückten Gesichtsausdruck sah, glaubte ich Witalij. Ich hatte Sympathie für ihn; gleichzeitig wurde mir bewusst, wie bedeutungslos die Idee der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit für die Menschen letztlich ist.

Metaphysische Ungewissheit

Heute, zwei Monate nach meiner Rückkehr aus Nowosibirsk, muss ich oft an die Leute denken, die ich dort traf und mit denen ich sprach. Mir drängt sich auch die Legende vom Großinquisitor immer wieder auf, denn sie handelt, wie ich glaube, von den Menschen ganz im Allgemeinen, nicht nur von denen in Russland.

Im Sommer, noch vor meiner Reise nach Sibirien, lernte ich in der Schweiz mehrere Leute in meinem Alter aus Polen kennen, die auf den Feldern im Seeland in der Nähe von Biel, wo ich studiert habe, zehn bis zwölf Stunden am Tag Erdbeeren, Salat oder Spargel ernteten, oft auch an Sonntagen, den gesamten Sommer über. Sie sagten, dass man in Polen nicht genug verdiene. Einer von ihnen, Andrzej, war schon seit zehn Jahren in Italien, Süddeutschland, England oder in der Schweiz zum Arbeiten unterwegs, für jeweils sieben Monate im Jahr. Er erzählte, dass er das Geld für die Bauarbeiten an seinem Haus brauche, in dem sein vierjähriger Sohn und seine Frau wohnten.

Warum, frage ich mich, haben so viele Menschen in Polen die PiS-Partei gewählt, die, seit einem Jahr an der Regierung, systematisch die demokratischen Institutionen demontiert und einen neuen Nationalismus zu etablieren versucht? Wie kann es sein, dass in ganz Europa fremdenfeindliche und EU-kritische Parteien Zulauf bekommen? Vor kurzem hatte ich eine Lesung in Dresden. Ich sprach dort mit einer Frau, die sagte, dass Investoren sie nach der Wende aus ihrem Viertel vertrieben hätten und dass die demokratische Regierung solche Vorgänge unterstützt habe und noch heute unterstütze. In der DDR hätten die Menschen zusammengehalten, der soziale Gedanke sei sehr wichtig gewesen.

Wenn ich über all das nachdenke, verstehe ich, dass die Menschen sich Sicherheit gegenüber der Zukunft wünschen, und dass sie Ängste haben in einer unübersichtlich gewordenen Welt mit wirtschaftlichen Krisen und näher rückenden Kriegen (während ich dies hier schreibe, hat in Berlin, wo ich lebe, ein Terrorist einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt verübt und zwölf Menschen getötet). Ich verstehe, dass jeder Mensch sich fragt: Bin ich besonders, sodass mich irgendetwas schützt? –, oder ist die Welt der Ökonomie und der internationalen Konflikte eine Todesmaschine, in der ich ohne weiteres vernichtet werden kann? Dass aus der fehlenden Antwort auf diese Fragen sich Wut gebären kann, und aus dieser die Lust auf Rache, kann ich, auch wenn ich eine solche Reaktion kategorisch von mir weise, leider auch nachvollziehen – im Grunde ist das ja nichts anderes als die Angst vor dem Tod und die Wut über die Unmöglichkeit, diesem zu entkommen. Die Geschichte geht plötzlich weiter und enthüllt den Abgrund der metaphysischen Ungewissheit, in dem das Grauen aufscheint.

Aber sehen die Menschen nicht, dass die Vernunft das Einzige ist, das wir angesichts dieser metaphysischen Ungewissheit haben? In meiner Furcht vor dem, was der Mensch in seiner Verlorenheit anrichten wird, suche ich Zuflucht in der Lektüre von Kant, der angesichts der Freiheit des Menschen in dieser seiner Ungewissheit eine Verantwortung zum guten Handeln geschlussfolgert hat. Es tröstet mich, mit jemandem über die Jahrhunderte hinweg in Verbindung zu stehen, der an den Menschen glaubt. Ich hoffe, dass nicht immer mehr Menschen sich aus der Ungewissheit in die Scheinsicherheit der Lüge flüchten werden.

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