Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Leichenberge, bäm!

 

Ja, es gibt Probleme mit der deutschen Erinnerungskultur. Das kann man kritisieren. Aber Shahak Shapiras drastische Online-Aktion „Yolocaust“ will nur den großen Effekt.

Copyright: Sean Gallup/Getty Images

Im letzten Sommer fuhr ich mit einem israelischen Freund, der zuvor noch nie in Berlin gewesen war, in meinem Auto durch die Stadt. Weil wir vom Westen in den Osten wollten, düsten wir vom Potsdamer Platz über die Ebertstraße Richtung Brandenburger Tor. Haltend vor einer roten Ampel stieß ich Assaf mit dem Ellenbogen in die Rippen und sagte: „Hier, schau, das ist übrigens das Holocaust-Mahnmal!“, und Assaf drehte sich zu mir um, runzelte seine Stirn und fragte: „Was hat das mit dem Holocaust zu tun?“ „Keine Ahnung“, antwortete ich und fuhr los, als die Ampel auf Grün schaltete.

Das Mahnmal ist wohl auch nicht für uns Juden gebaut worden, so las ich vor ein paar Tagen, sondern für die Deutschen. Vielleicht deshalb unsere Schwierigkeit, einen Zusammenhang zwischen schwarzen Steinblöcken und sechs Millionen toter Menschen herzustellen. Aber nicht nur Assaf und mir scheint es emotional unmöglich, auch vielen deutschen wie nicht-deutschen Besuchern des Mahnmals. Warum ich das denke? Weil Menschen dort rumknutschen, Selfies machen, Kinder Fangen spielen, auf die Steinblöcke geklettert wird und vieles andere, das man vielleicht nicht täte, würde man emotional berührt, würde also in dem Moment, wie man sich zwischen diesen Steinstehlen befindet, das Leid und der Schmerz der Millionen Ermordeten sowie ihrer Nachfahren und die Unmöglichkeit Verständnis für diese Jahrhundertkatastrophe aufzubringen, plötzlich offenbar werden.

Jetzt bitte einmal gedenken!

Peter Eisenman, der Architekt des Holocaust-Mahnmals, das offiziell „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ heißt, sagte in einem Interview, das er 2005 dem Spiegel gab: „Ich war von Anfang an gegen den Graffitischutz. Wenn ein Hakenkreuz darauf gesprüht wird, dann ist es ein Abbild dessen, was die Menschen fühlen. Wenn es dort bleibt, ist es ein Abbild dessen, was die Regierung davon hält, dass Menschen Hakenkreuze auf das Mahnmal schmieren. Das ist etwas, das ich nicht steuern kann. Wenn man dem Auftraggeber das Projekt übergibt, dann macht er damit, was er will – es gehört ihm, er verfügt über die Arbeit. Wenn man morgen die Steine umwerfen möchte, mal ehrlich, dann ist es in Ordnung. Menschen werden in dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie eine Schießerei zwischen Spionen in dem Feld endet. Es ist kein heiliger Ort.“

Weitsichtig war Peter Eisenman. Vielleicht hatte er jenen Umgang auch eingeplant. Vielleicht wollte er jenen Umgang mit dem Mahnmal provozieren. Und vielleicht wollte er sogar, ein Mann, der sich rein gar nichts aus Denkmälern macht, wie er im selben Interview zugibt, die Frage aufwerfen, wozu überhaupt ein Denkmal, wenn an einem solchen Ort alles Mögliche getan wird, außer zu gedenken.

Gedächtnistheater

Die allgemeine Erwartungshaltung, dass an diesem Mahnmal jener gedacht wird, für die dieses Mahnmal erbaut wurde, wird schon seit Jahren nicht erfüllt. Das erste Mal wies auf das Nicht-Gedenken das Blog Totem & Taboo: Grindr remembers the Holocaust hin. Er zeigt Fotos von Männern, die ihr Profilbild auf der Dating-Plattform Grindr am Holocaust-Mahnmal aufgenommen haben. Als dieses Blog 2011, also sechs Jahre nach Eröffnung des Mahnmals, viral ging, löste es in mir Unbehagen aus. Als ich durch die Bilder scrollte, schüttelte es mich. Nicht, weil der Besuch des Mahnmals mich berührte, sondern, weil ich natürlich wusste, dass an diesem Mahnmal der ermordeten Juden gedacht werden soll. Und dass ein solches Verhalten, das Peter Eisenman schon vor der Eröffnung voraussagte, pietätlos und unangebracht ist. Weil: Das macht man nicht!

Weitere sechs Jahre später, im Januar 2017, fällt dem Satiriker und Buchautor Shahak Shapira Ähnliches auf wie dem Macher des Totem & Taboo-Blogs: Menschen machen am Holocaust-Mahnmal Selfies, anstatt der ermordeten Juden zu gedenken. Krasser Scheiß!

Shapira glaubt, darin den Beweis für eine katastrophale Erinnerungskultur zu sehen. Man kann sich bildlich vorstellen, wie er wohl vorging: Er kauft die Website Yolocaust.de, googelt nach Selfies, die am Mahnmal aufgenommen wurden, schneidet die Personen mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms aus dem Selfie und setzt sie in historische Aufnahmen aus den Konzentrationslagern. Yoga neben dem Leichenberg und so. Weil: schwarze Steine = tote Juden. Oder: Mahnmal = KZ. Jetzt noch ein Mouse-over-Effekt für die richtige Schockwirkung. Bäm!

Geht man auf Yolocaust.de, sieht man als Erstes die lustigen Selfies, scrollt man mit der Maus rüber, erscheint eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, die Selfie-Leichenberg-Montage nämlich, die Person zusammen mit den toten Juden. Das sitzt! Nun noch ein bisschen mehr am Scham-Regler drehen und den abgebildeten Personen die Möglichkeit geben, das Foto von sich löschen zu lassen, indem man Shapira eine Nachricht an folgende E-Mail-Adresse schicken kann: undouche.me@yolocaust.de.

70 Jahre Leichenberge und nichts ist passiert

Kurz nachdem Yolocaust.de online ist, twittert Jan Böhmermann die Website, und sie ist aufgrund der vielen Aufrufe nicht mehr erreichbar. Mehr als 3.000 Personen liken den Post auf Shapiras Facebook-Seite, Medien berichten, mehr Leute twittern. Nur einen Tag später postet Shapira, dass sein Buch Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen neun Monate nach Erscheinen endlich auf der Spiegel-Bestsellerliste gelandet ist. Ein paar Lehrer haben sich auch gemeldet, erfährt man in den Facebook-Kommentaren, sie begreifen, dass man im Unterricht anscheinend noch mehr Leichenberge zeigen muss. Das beweise ja schließlich Yolocaust.de. Böhmermann twittert, Medien berichten, und Personen teilen die Seite mit Tränen-Emoticons. Das sind doch alles Beweise für den Mega-Effekt „Leichenberg“.

Und ich denke: Aber haben wir denn nicht alle diese Leichenberge längst gesehen? 70 Jahre Leichenberge, und die Leute machen trotzdem Selfies am Mahnmal. 70 Jahre KZ-Besuche, und Björn Höcke nennt das Mahnmal „Denkmal der Schande“. 70 Jahre abrasierte Haare, Goldzähne und Schuhe, und man beschimpft sich auf dem Schulhof mit „Ey, du Jude!“.

Ja, denke ich, wir haben ein Problem mit der Erinnerungskultur, aber darauf hinzuweisen, ist in etwa so wie zu sagen, übrigens die Erde ist rund und keine Scheibe. Wir wissen also längst darum, dass es ein Problem gibt. Das ist nichts Neues. Das ist Fakt. Sonst würde schließlich niemand andere mit „Ey, du Jude“ beschimpfen. Wir wissen auch, dass im deutschen Geschichtsunterricht den Leiden der Juden ziemlich viel Raum geschenkt wurde und immer noch wird. Wir wissen, dass ein Teil der Deutschen endlich mit diesem Scheiß-Holocaust in Ruhe gelassen werden will. Und wir wissen, dass ein anderer Teil der Deutschen wie auf Knopfdruck Shapiras Yolocaust-Seite gelikt und geteilt hat, weil sie krasse Empathie für die toten Juden empfinden.

Shapira glaubt, dass mit seiner Aktion all jene erreicht werden können, die die Schnauze voll vom Scheiß-Holocaust haben. Nach dem Motto: Wer bis jetzt nicht auf Leichenberge mit Empathie reagiert hat, kriegt eben noch mehr Leichenberge vor den Latz geknallt. Ein bisschen so wie Menschen, die ihren Welpen zwingen, die eigenen Exkremente zu riechen, um ihm beizubringen, dass er nicht mehr in die Wohnung zu machen hat. Das nennt man „mit Scham und Schuld arbeiten“.

Dabei müsste endlich die Art und Weise, wie mit dem Holocaust in Deutschland umgegangen wird, hinterfragt werden. Denn auf Scham und Schuld reagieren eben manche mit Empathie und andere mit Abwehr. Deshalb ist die Frage ja, wie erreichen wir jene, die bis jetzt mit Abwehr reagiert haben? Ein Mahnmal-Selfie-Verbot zu erlassen, wird jedenfalls nur dazu führen, dass jene, die sowieso schon gernervt waren, jetzt noch genervter sind, weil man nicht mal mehr Selfies machen darf.

Geschichte lebendig machen

Wie wäre es also mit einer anderen Form der Erinnerungskultur? Einer, die nicht nur auf die Opfer verweist und die die Täter nicht ikonisiert. Schließlich fühlt es sich so an, als hätten Himmler, Goebbels, Hitler, Göring, Eichmann und ein paar gelandete Außerirdische alle geliebten Juden umgebracht. Wie wäre eine Erinnerungskultur, die Kindern beibringt, dass sie Teil der Geschichte sind, weil sie verstehen, dass ihre Großeltern und Urgroßeltern auch Teil der Geschichte waren? Nicht, um ihnen irgendeine Erbschuld anzulasten, sondern ihnen Verantwortung zu lehren. Wie wäre es also, neben den obligatorischen KZ-Besuchen und dem Zeigen von Leichenbergen während der Schulzeit, ein Projekt ins Leben zu rufen, bei dem alle Schüler dazu angehalten werden, beim Bundesarchiv die Akten ihrer Vorfahren zu beantragen? Wie wäre es, diese Leerstelle in der persönlichen Geschichte der deutschen Nicht-Juden endlich zu schließen? Nicht auf intellektuelle Weise, sondern auf emotionale. Denn, wenn ich meinen eigenen Opa sehe, wie er auf einem Foto den Hitlergruß macht, wenn ich erfahre, wo mein Großonkel stationiert war, wenn ich meine Ururoma in voller Bund-Deutscher-Mädel-Montur sehe, dann verstehe ich vielleicht mehr, als wenn man meinen Kopf ständig in Leichenberge drückt? Just an idea, guys!

Geschichte ist längst vom Menschen entkoppelt. Geschichte sind Fotos, Gedenkstätten, Daten, Zahlen und Exponate. Geschichte sind irgendwie nicht wir. Und genau da liegt der Irrtum. Und genau da muss endlich neu angesetzt werden.

Am Ziel vorbei

Shapiras Aktion berührt jene, die von den Leichenbergen längst berührt waren und schreckt die ab, die sich schon beim KZ-Besuch mit In-der-Ecke-Rauchen und Snapchatten abgelenkt haben. Und das müssen nicht mal nur die ignoranten Arschlöcher sein, einfach deshalb, weil der Anblick dieser Leichenberge nun mal schwer auszuhalten ist. Und die, die emotional reagieren, verkaufen sich gerne als Moralisten, weil sie besser sind als die ignoranten Arschlöcher, dabei machen sie nur das, was man gemeinhin in Deutschland tut, sein eigenes Gedächtnistheater zu veranstalten, dass mit wirklicher Empathie nicht zu tun hat, sondern nur damit, sich irgendwie besser zu fühlen.

Mit shock-value hat sich Shapira auf die Bestsellerliste gebeamt, ohne etwas Nachhaltiges für die Erinnerungskultur getan zu haben. Wäre er kein Jude, hätte man ihn dafür verurteilt. Dafür, dass er KZ-Häftlinge und ermordete Juden instrumentalisiert, Menschen, die vielleicht kein Teil dieser Aktion sein wollen, weil sie nicht für immer und auf alle Zeit zum Opfer der Deutschen stilisiert werden möchten. Um diese Aktion nicht als nächste „Geiz ist geil“-Kampagne in die Geschichte eingehen zu lassen, sollte sie genutzt werden, um ernsthaft über die deutsche Erinnerungskultur nachzudenken.

Eine All-Jew-Talkrunde wäre der Anfang. In der man Juden, deutsche Juden, junge, deutsche Juden, zu Wort kommen lassen könnte, wie sie sich das Gedenken zukünftig vorstellen, in ihrem Land, von ihren Mitmenschen. Oder was sie vom Gedenken im Allgemeinen halten. Mal kein Henryk M. Broder, weil der so schön berechenbar ist, sondern jene Generation, die in der Lage sein wird, zu denen zu sprechen, die aufgrund ihrer späten Geburt keine Zeitzeugen mehr erleben werden. Ein nächster Schritt wäre, den Umgang mit dem Holocaust im deutschen Geschichtsunterricht zu hinterfragen und neue Formen der Auseinandersetzung zu entwickeln. Vielleicht mit eben jenen jungen, deutschen Juden, die als Berater fungieren. Anders, als man es gemeinhin in Deutschland tut. Ich erinnere da nur an das Antisemitismus-Gremium ohne Juden, weil die möglicherweise befangen seien. Was soll das?

Dann könnte diese so dermaßen beschissene Aktion wirklich noch einen Sinn gehabt haben, außer dem, dass Shapira ein bisschen mehr Bücher verkauft oder den Moralisten ein gutes Gefühl gegeben hat.