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Schlummernde Schande

 

Der Kommunismus hat gezeigt, dass die menschliche Natur miserabel und finster ist. Wie jedes totalitäre Regime. Es ist verstörend, die Spuren noch immer zu sehen.

© Maxim Zmeyev/Reuters

Es ist sechsundzwanzig Jahre her, dass der Kommunismus in meiner Heimat zusammenbrach. Seitdem verging eine kleine Ewigkeit, für manche sogar ein ganzes Leben. Die meisten Soldaten, die im ukrainischen Osten bereits gefallen sind, haben den Kommunismus nie erlebt. Ich erinnere mich selbst auch nur dunkel daran. 1991 war ich acht Jahre alt und trug keine Lenin-Abzeichen auf der Brust und keine Pionierhalstücher. Trotzdem zucke ich zusammen, wenn ich die Spuren des Kommunismus, vorwiegend in der Architektur, irgendwo außerhalb der Ukraine erkenne, auf der Karl-Marx-Allee in Berlin zum Beispiel, oder in den kleinen Orten an der Ostsee, oder im kroatischen Rijeka letzten Sommer. So reagieren Menschen, die eine tödliche Infektion überstanden haben.

Um geheilt zu werden oder gar am Leben zu bleiben, mussten sie Opfer darbringen und gesundeten trotzdem nicht vollständig. Die einen verloren ihre Familien, da ein oder mehrere Familienglieder an Hunger verstarben oder verhaftet, vernichtet, verbannt wurden. Die anderen opferten ihr gutes Gewissen, sie verleugneten, denunzierten oder ließen verhungern, verhaften, verbannen. Das Schlimmste am Kommunismus war eben dieser Zwang (oder die besten Konditionen dafür) gewissenlos, ehrlos zu sein. Wer das nicht konnte, büßte schwer. Büßen mussten jedoch auch diejenigen, die sich in den gewissenlosen Zeiten wohlfühlten. Ihre Biografien las ich früher gelegentlich, um meinen schwachen Glauben zu stärken und mich zu beruhigen, dass das Böse noch im selben Leben bestraft werden könnte. Bis zum Anfang des Zweiten Weltkrieges brachten sich zwei Volkskommissare für innere Angelegenheiten der ukrainischen sowjetischen Republik um. Einer versuchte es, überlebte, wurde aber später getötet und ein weiterer erwürgt. Und acht bekamen mehrere Kugeln in den Kopf auf einer Datscha vom ebenso kürzlich erschossenen Chef des sowjetischen Innenministeriums NKWD, Genrich Jagoda, in Moskau. Auf dieser Datscha namens Kommunarka fanden ungefähr fünfzehntausend hohe sowjetische Beamten ihren Tod und wurden anschließend in der Mehrzahl nicht rehabilitiert, weil sie selbst blutige Verbrechen verübt hatten.

Zu viel Lüge, zu viel Gewalt

Ein weiteres Spiel für mich war zu recherchieren, wer welche Nationalität unter den sowjetischen Tätern hatte. Ich wünschte mir, dass sie keine Ukrainer wären. Diese Hoffnung pflegen immer noch viele. Sie sprechen über den Kommunismus, als wäre er ausschließlich von außen durchgesetzt, eine Eroberung unter massivem Widerstand des ehrenhaften „wir“. Dabei fühlen sich diese „wir“ beleidigt und verletzt, sie möchten sich rächen und akzeptieren nicht, dass die kommunistische Gesellschaft, wie der arme Dr. Jekyll, geteilt, doppelgesichtig war. Der eine Teil der Gesellschaft misshandelte den anderen. Nachbarn gegen Nachbarn, Brüder gegen Brüder (obwohl in einem traurigen ukrainischen Weihnachtslied jedes Jahr „Brüder FÜR Brüder“ gesungen wird). Und es mag sein, dass die Rolle der Opfer in einer solchen höllischen Ordnung zufällig verteilt wurde. Unter anderen Umständen hätten die Opfer möglicherweise auch Täter sein können. Wie jede andere Form eines totalitären Regimes erinnert der Kommunismus daran, dass die menschliche Natur miserabel und finster ist, mehr als man denkt. Darum funktionieren solche Regime so gut. Aber wie genau?

Um eine befriedigende Antwort zu finden, muss ich an das Schicksal eines ukrainischen sowjetischen Schriftstellers, Hryhir Tjutjunnyk, denken. „Ich verspüre den Menschen wie eine Wunde Salz“, notierte er Anfang der 1970er Jahre in seinen Tagebüchern. Zu dieser Zeit wohnte er mit seiner Familie in Kiew und schrieb auf dem Fensterbrett, weil die Küche über keinen Tisch verfügte, rührende, erbarmungsvolle Erzählungen über die Kinder und Bauern, also über die Unschuldigsten. Zweifellos hatte er Talent, seine Geschichten sind schön, dennoch liest man Tjutjunnyk heute selten. Er war kein Dissident und trank oft. Die ukrainische sowjetische Literatur geriet immer mehr in Vergessenheit, viel zu viel Lüge, viel zu viel Gewalt verstecken sich darin. Oder will man einfach möglichst schnell die eigene Scham, die eigene Niederträchtigkeit aus dem Gedächtnis ausradieren?

Auch Tjutjunnyk erwähnte hin und wieder die braven Kolchosendirektoren in seinen Werken. Wie gesagt, er war kein Dissident, und seine Frau schwört, dass er nicht mal die Namen der Dissidenten kannte. Im Literaturbetrieb gab es nicht sehr viele Dissidenten, vielleicht dreißig. Alle anderen Autoren veröffentlichten regelmäßig Bücher in den staatlichen Verlagen und wenn sie Glück und gute Kontakte hatten, wenn sie lebensbejahende, optimistische Texte verfassten, bekamen sie verschiedene Ermäßigungen und eine jährliche Reise zum Schwarzen Meer, an dessen Ufer in Jalta der ukrainische sowjetische Schriftstellerverband ein Kurhaus besaß. Es war verpflichtend, Mitglied dieses Verbandes zu sein. Die Schafe Apollons brauchten einen Hirten und ein paar böse Hunde, die ihnen den richtigen Weg auf der blumigen Wiese zeigen würden. Im Jahr 1980 zählte der Schriftstellerverband mehr als eintausend solcher Schafe. Seine Verwaltung befand sich in einer schönen, alten Kiewer Villa, auch Lebkuchenhaus genannt, fast gegenüber dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der UkrSSR. Hier wurde buchstäblich über Leben und Tod bestimmt, so wie in den Literaturzeitschriften Die literarische Ukraine und Sowjetische Literaturwissenschaft — eine damalige Bühne der öffentlichen Hinrichtungen.

„Quält jemand anderen“

Erbarmungsvolle, jedoch etwas düstere Kindergeschichten von Hryhir Tjutjunnyk fanden gleich ihre Feinde auf den Seiten der genannten Zeitschriften. Die Charaktere von Tjutjunnyks Figuren schienen den Rezensenten (alle ukrainischer Nationalität) „verärgert, arm und beleidigt“, seine Texte, hieß es, litten an „Ideenmangel und soziale Passivität“, und Tjutjunnyk bekam die Bezeichnung eines Weihnachts-, Hochzeits-, Küchen-, Familienprosaautors. „So darf man nicht schreiben!“, schrie einmal der Direktor des Literaturinstituts Schamota auf einer literarischen Versammlung. Dieser Mann leitete oft Text-Begutachtungen, dank derer die wenigen ukrainischen Dissidenten im Gefängnis landeten.

Dutzende anonyme Anzeigen folgten, freundliche Gespräche mit KGB-Leute fanden statt, die mächtigeren Schreibkollegen wollten für Tjutjunnyk nichts riskieren und schwiegen. Es gab keinerlei Grund, Tjutjunnyk zu verhaften, er hatte ja Kindergeschichten geschrieben. Und er wurde auch nie verhaftet. Wenn ich mir das sowjetische Kiew vorstelle, erscheint sofort ein Bild vor meinen Augen: wie er, eigentlich ein hübscher Mann mit dunklem zerzaustem Haar, völlig betrunken durch die stickige Dämmerung unter den legendären Kiewer Kastanien trottet. Auf dem verlorenen Gesicht, wie er es selbst einmal ausdrückte, klebten nasse Spinnengewebe. Keine Luft zum Atmen mehr. An einem solchen berauschten Abend 1980 kam Tjutjunnyk nach Hause und hängte sich in der Toilette auf. Seine Frau und die zwei Söhne schliefen ahnungslos bis zum frühen Morgen. In seinem Abschiedsbrief, den die Polizei beschlagnahmte, stand: „Quält jemanden anderen“.

Dieser Tod erschütterte Kiew. Man sagte, es war Delirium, alkoholischer Wahn. Tjutjunnyk soll deprimiert gewesen sein, weil er den höchsten staatlichen Literaturpreis nicht bekommen hat. Wie peinlich, tuschelte man, wie unehrenhaft. Wäre seine Tat ein Protest gewesen, dann besser doch irgendwo in Sibirien, wie ein wahrer Held, als auf der Toilette. Aber die Wahrheit ist, dass der Kommunismus wenig Helden hervorbrachte. Man taumelte von einem Kompromiss zum anderen, unter der permanenten Angst, vom anonymen Nächsten angezeigt zu werden. Man war ein Opfer, aber ein Held war man nicht. Man misshandelte und wurde misshandelt. Sich auf der Toilette aufzuhängen, entsprach am ehrlichsten der Realität.

Daher zucke ich zusammen, wenn ich die Spuren des Kommunismus außerhalb der Ukraine wiedererkenne. Ich schäme mich für ihn. Und mit jedem Jahr sinkt in mir das Bedürfnis, nach Schuldigen zu suchen.

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