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Unser Freund, der Baum

 

Bäume vor dem Balkonfenster gaukeln immerhin ein wenig Idylle vor. Aber was, wenn die Stadt sie abholzen will? Dann bangen wir nicht nur um das lauschige Grün.

© Mad House/Unsplash.com

Erst war uns noch nicht klar, was das bedeutete: Der Baum war gar nicht tot. (Unser Baum, von dem wir annahmen, er würde zu den vom Grünflächenamt ausgewählten Kandidaten gehören und gefällt werden müssen.) Es ist gut, einen Baum vor dem Haus zu haben. Wir haben es auch L. zu erklären versucht, der allerdings behauptete, Bäume vor dem Haus zu haben, empfände er als irgendwie „unsauber“. Bäume im Libanon, zum Beispiel in Beirut, woher L. stammt, erscheinen dort zunehmend als irrealer Luxus, der die Stadt daran hindert, sich aller Räume zu bemächtigen, die Geld einbringen und für höhere Mieteinnahmen sorgen. Entwicklungen, unter denen L. jetzt in München so furchtbar leidet. Er wohnt in einer Wohnung, die so klein ist, dass wir ihn leider nicht besuchen können, da er eigentlich nur über einen einzigen Schlafplatz verfügt. Trotzdem sind wir natürlich erleichtert und glücklich: Der Baum hat überlebt.

Es ist noch gar nicht so lange her, da hat das Grünflächenamt, Fachbereich Grünflächen, Pflege, Unterhaltung und Entwicklung angekündigt, dass „eine Eberesche, fünf Eschen und elf Scheinakazien im Rahmen der Verkehrssicherheit“ gefällt werden müssen, da sie „ihre Standfestigkeit“ verloren haben. Während dieser Tage rechneten wir stündlich damit, dass der Baum verschwindet. Es waren ohnehin düstere Tage, es waren die Tage der Trump-Depression, aus denen dann später die Trump-Komödie wurde, bis schließlich gar kein Genre mehr dazu passte, was Trump sich alles so ausdachte. Obwohl es ja gerade solche Leute wie Trump sind, die Einrichtungen wie das Grünflächenamt oder überhaupt gleich das Bezirksamt Mitte, Abteilung Weiterbildung, Kultur, Umwelt, Natur, Straßen und Grünflächen am liebsten vom Erdboden verschwinden lassen möchten. Für einen Augenblick spielten wir sogar mit dem Gedanken, mal beim Grünflächenamt anzurufen und uns zu erkundigen. Wir hätten die vielen Tippfehler und die vielen fehlenden Kommata in dem Rundschreiben der Behörde als Anlass nehmen können, nach „unserem Baum“ zu fragen. Aber wie furchtbar, wie unglaublich spießbürgerlich wäre das denn gewesen?

Wir haben L. schon davon erzählt: „Es ist nicht so wie in der Sonnenallee. Bei uns in der Straße legen die Leute um die Bäume, die vor ihren Häusern stehen, kleine Minigärten an.“ Manche von ihnen mit Drahtkonstruktionen oder kleinen Miniaturholzzäunen. So sind sie gegen Übergriffe besser geschützt. (Es löste in uns kein Triumphgefühl aus, dass es gerade diese Bäume erwischte, sodass die Miniaturgärten mit ihren Osterglöckchen schon bald ihr klägliches Dasein in der Nähe eines Stumpfes fristen mussten, den das Grünflächenamt wie zur Abschreckung auf dem Bürgersteig zurückgelassen hatte.) „Seid ihr verrückt?“, fragte L. in seiner Antwort. Er meinte nicht uns, er meinte die Deutschen allgemein, obwohl er nichts anderes versucht, als sich in einen von ihnen zu verlieben, um endlich Wurzeln in diesem Land zu schlagen. Er will aber nicht einsehen, dass es auch hier Kräfte gibt, die alles zu zerstören versuchen, so wie es auch schon Lenin probiert hat, vor dessen Name sich die Mittelklasse schon immer fürchtete, der aber jetzt in der Gestalt von Trump-Berater Stephen Bannon die „Demontage des administrativen Staates“, seine endgültige „Dekonstruktion“ und Zerstörung betreiben will. „Na und“, sagte L. „Dann ist es wenigstens vor eurem Haus sauber und ihr habt nicht den ganzen Dreck in eurer Wohnung herumfliegen.“

Die Zerstörung des Staates ist vorläufig noch mal aufgehalten worden. Denn für einige von uns fängt der Staat mit Europa an oder hört mit Europa auf. Wir sind schon längst so weit, dass wir uns unseren Staat ohne Europa gar nicht mehr vorstellen können oder wollen. Jeder Handschlag wird jetzt argwöhnisch beobachtet, jeder Tweet analysiert und wir schwanken zwischen vager Zuversicht, Realitätsverdrängung und absoluter Verzweiflung. Noch eben war Katar ein Land, dem man kaum Sympathien entgegenzubringen brauchte, jetzt erscheint es auf einmal schutzbedürftig und geopolitisch von größter Bedeutung. Die Untersuchungen des Grünflächenamtes kamen zu dem Ergebnis, „dass der Holzabbau in den Wurzelbereichen und Teilen des Stammes so stark fortgeschritten ist, dass die Bäume im belaubten Zustand umstürzen werden“. Wie schlimm ist das denn? Könnte auch Europa, das Europa des Neoliberalismus, das Europa von Angela Merkel und Schäuble einfach ganz von allein umfallen? Davor müsste es doch selbst L. nur grausen. Also dann lieber die Ebereschen und Scheinakazien fällen und Platz für Neues schaffen. L. würde dann sicherlich auch endlich die Einladung zum Abendessen annehmen, die er sonst bei seinen seltenen Besuchen in Berlin immer ausschlägt, um bei gemeinsamen Freunden abzusteigen, die keine Bäume vor der Haustür stehen haben.

Aber vielleicht stehen die Bäume ja für etwas ganz anderes. Damals, als man sich in Deutschland noch die Französische Revolution zum Vorbild nahm, fällte man keine Bäume, sondern pflanzte welche. Es waren die sogenannten Freiheitsbäume, die gepflanzt wurden, um die Bevölkerung daran zu erinnern, dass sie „frei“ geworden war. Mitte des 18. Jahrhunderts versuchte man in Deutschland auch frei zu werden, jedenfalls in Ernstweiler, Wolfstein, Ludwigswinkel, Annweiler, Nollenberg, Edenkoben oder in Mörzheim, Münchweiler und Hohenmühlbach, wo überall zwischen dem 28. April und 23. Mai 1832 Freiheitsbäume gepflanzt wurden. L. würde sagen: „Es ist verrückt.“ Aber L. schlägt unsere Einladungen aus, oder er hat Ausreden. Neulich war das Abendessen schon fest eingeplant, als es auf einmal handstreichartig zu einer Änderung bei der Planung von L.s Besuchstagen kam und dem Essen der rituelle Besuch einer Filmvorführung von Beauty and the Beast vorgezogen wurde.

Unsere letzte Hoffnung war der Frühling und dass unser Baum dann in Blüte stehen und L. der Schönheit der Natur nicht würde widerstehen können. Aber dann blühte unser Baum gar nicht richtig. Die Stümpfe vor den Häusern mit den Nummern 9, 10 und 12 betrachteten wir eine Weile mit einer gewissen Demut, und wir hatten auch keine Angst mehr vor dem Krähennest, das sich mit unserem kleinen Balkon auf Augenhöhe befindet. Demut ist eine gute Haltung, vor allem wenn man in Berlin lebt. (Als ich neulich den Müll wegbrachte, Bio-, Plastik- und Papiermüll in drei verschiedenen handlichen Säckchen getrennt, begegneten mir auf dem Weg zu den Mülleimern zwei weiße Katzen. Sie gehören dem kroatisch-nepalesischen Paar im Erdgeschoss, das wahrscheinlich froh gewesen wäre, wenn der Baum gefällt worden wäre und sie dann mehr Licht gehabt hätten. Die Katzen starrten mich in ihrer Katzenhaftigkeit so sonderbar an, dass ich beinahe die Müllsäcke fallen gelassen hätte. Die Frage aber ist: Wer hat mehr Angst voreinander? Wir vor ihnen oder die Katzen vor uns? Oder hat überhaupt jemand wirklich Angst? Ich ging schließlich einfach weiter, und die Katzen jagten davon. Und dann sah ich es: In den Biomülleimer hatte jemand versehentlich Plastikmüll hineingeworfen und ich tat etwas wirklich Furchtbares. Es geschah in der Intimsphäre unseres durch Tannenbäume und Büsche vor den Blicken der eigenen Nachbarn abgesicherten Müllplatzes. Ich korrigierte den Fehler, holte den Plastikmüllsack aus der Biomülltonne und ließ meinen eigenen Biomüll in die jetzt leere Tonne fallen, schloss den Deckel und lief, als wäre nichts gewesen, Richtung Bushaltestelle, die sich in unmittelbarer Nähe des Untersuchungsgefängnisses befindet. (Und das darf auch niemand wissen: Dass unsere Straße direkt zum Untersuchungsgefängnis führt, in dem es wahrscheinlich überhaupt keine Bäume gibt.)

Ganz am Ende ihres Rundschreibens bemerkte das Grünflächenamt noch: „Die Bäume werden durch Jungbäume ersetzt um die entstehenden Lücken in den beiden Straßen so schnell wie möglich wieder zu schließen. Mit freundlichen Grüßen. W. L.“ Die Kommata fehlten und die Unterschrift von W. L. bestand aus einem einzigen nach rechts unten abknickenden Strich. Aber es stimmte: Wenig später wurden die übrig gebliebenen Stümpfe der Ebereschen und Scheinakazien ausgegraben und von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Grünflächenamts durch neue Bäume ersetzt. Wir dachten sofort an L. und dass er jetzt sagen würde: „Wahnsinn … Diese Deutschen …“ Wir warten jetzt einfach mal ab. Vielleicht blüht unser Baum ja am Ende doch noch oder die neuen eingepflanzten Ersatzbäume entwickeln einen besonderen Reiz. Jedenfalls haben wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich auch geopolitisch alles irgendwie wieder beruhigt. Auch L. wird dann zu uns kommen und unseren Baum und unser ganzes wunderbares Leben hier wertschätzen und lieben lernen. Ganz sicher werden wir ihn bald bei uns begrüßen und ihm unseren Baum zeigen können. (Wenn es so weit ist, fahren wir vorher allerdings noch schnell in die Sonnenallee, um ein paar libanesische Spezialitäten zu besorgen.)

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