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Humanismus darf keine Illusion sein

 

Mit Egoismus, Panik oder Wut reagieren viele auf die Unsicherheit der Gegenwart. Ist eine Utopie möglich, die dem Einzelnen wieder Halt und eine geistige Behausung gibt?

© Ryan Young//https://unsplash.com

Mein Onkel erkrankte als Kind schwer an der Lunge. Er wurde von Opole in ein Krankenhaus in Głuchołasy gebracht, wo er über mehrere Monate in einem Bett lag und mit dem Tod rang. In den 1960ern herrschten in Polen die kommunistischen Kader, durch die Planwirtschaft war das Land stark verarmt, die Krankenhäuser waren schlecht ausgerüstet. Mein Onkel erinnert sich an diese Zeit aus zwei Gründen: Zum einen sieht er vor sich, wie morgens regelmäßig einer der Ärzte an seinem Bett, das aus Platzgründen in einem Gang stand, im weißen Kittel vorbeigeht und in seinem Arm ein Baby trägt. Diese Babys, das sehe ich ganz deutlich vor mir, erzählt er mir, in seinem heutigen Wohnzimmer in Bamberg sitzend, hatten blaue Gesichter. Ihre Haut war wie aus blauem Wachs. Ihre Augen waren zugekniffen, die Münder zusammengepresst. Ich weiß nicht, wohin die Ärzte diese toten Babys brachten. Jede Nacht träumte ich, wie sie aus dem Fenster auf einen Haufen geworfen wurden.

Seine zweite Erinnerung aus diesen Monaten im Krankenhaus ist die an seine Mutter, meine Großmutter väterlicherseits. Sie arbeitete damals als Leiterin des Sekretariats einer Baufirma in Opole. Jeden Tag nach der Arbeit fuhr sie mit einem kleinen polnischen Fiat die 70 Kilometer von Opole nach Głuchołasy. Meine Mutter hat mich jeden Tag besucht und saß an meinem Bett, bis ich einschlafen konnte, sagt mein Onkel. Es gibt keinen Menschen, den ich heute mehr vermisse.

Diese Geschichte begleitet mich schon lange. Sie scheint mir, der ich heute in Berlin lebe, in der Welt des Jahres 2017 und also 25 Jahre nach dem Ende der totalitären Herrschaft des Kommunismus in Europa, etwas über das Leben zu sagen, von dem ich ehrlich gesagt ziemlich wenig verstehe.

„Nicht Swedenborgs Theologie entscheidet über seine Bedeutung, sondern sein Bemühen um eine Deutung der Heiligen Schrift und die Schaffung eines verbalen Raumes“, schrieb Czesław Miłosz in seinem Buch Das Land Ulro. „Dem Stil nach zwar völlig unpoetisch, ist Swedenborgs Werk, ähnlich der Divina Comedia, eine große Honigwabe, die von den Immen der Imagination einer gewissen Notwendigkeit entsprechend gebaut worden ist. Denn der Mensch bedarf einer Behausung, und es genügt ihm nicht ein Dach über dem Kopf im physischen Sinn; sein Geist braucht Bezug und Richtung in der Vertikalen wie in der Horizontalen. Daher spricht man wohl auch von erbaulicher Lektüre.“ Miłosz fragt in Das Land Ulro, ob der naturwissenschaftlich gebildete Westeuropäer, der nach der Dekonstruktion der Religion durch den Atheismus und nach den Erfahrungen des Holocausts und der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts geistig entwurzelt wurde und in einem All schwebt, in dem alles zufällig und anhand von kalten Naturgesetzen geschieht, für sich eine geistige Behausung zu erschließen kann, in der er als Einzelner wieder Halt findet. Das Land Ulro aus einem Gedicht von William Blake ist eine geistige Landschaft des Todes, ein Waste Land, in dem es keine Hoffnung gibt, sondern in dem Sinnlosigkeit herrscht, weil der Mensch verstanden zu haben glaubt, dass es nur Materie und Naturgesetze und ökonomische Abläufe gibt, und dass nach dem Tod das Nichts kommt, und dass somit das Leben selbst absurd ist.

Wachsende Unfreiheit des Einzelnen

„Die Galeere ist für uns alle bestimmt“, schrieb Imre Kertész in seinem Galeerentagebuch. „Ihr habt sie gebaut, und wir fahren gemeinsam darauf, die Wasser aber, auf denen wir treiben, könnt ihr nicht beherrschen. Warum also tut ihr so, als seien Kapitän, Steuermann, Erster und Zweiter Offizier und Besatzung nötig?“ Kertész, ein Überlebender des Holocausts, schrieb dies unter der kommunistischen Diktatur in Ungarn. Zur gleichen Zeit etwa schrieb im Westen Michel Foucault, dass der Humanismus eine Illusion sei, die verschleiern solle, dass der oder die Einzelne kein Subjekt der Freiheit ist, sondern ein Objekt des gesellschaftlichen Systems, in das er oder sie eingebettet ist.

2017 könnte man fragen, ob der globalisierte Kapitalismus nicht eine besonders perfide Form der ins Private dringenden Objektivierung und Beherrschung des Einzelnen darstellt. Zwar rettet der durch ihn vorangetriebene technische Fortschritt Leben und erhöht den Lebensstandard – die Zeit der an Lungenkrankheiten sterbenden Kinder, wie sie mein Onkel noch erlebt hat, ist heute in Europa vorbei. Aber er erzeugt auch eine Illusion der Freiheit und Individualität, die als moralische Utopie verkauft wird. Es zeigt sich, dass der moderne Kapitalismus nicht notwendigerweise gemäß humanistischer Werte agiert und die menschliche Würde fördert, sondern nur neue Märkte erschließt und neue Abhängigkeiten schafft. Jede Regung gegen den Markt, jeder Verzicht auf ein Antreiben des ökonomischen Wachstums, wird sofort selbst wieder vermarktet.

Interessanterweise richtet sich die aufwallende Wut über die wachsende Unfreiheit des Einzelnen und seine unsichere Zukunft im globalisierten Kapitalismus nicht etwa gegen die eigene geistige Haltung im Rahmen der kapitalistischen Lebensweise. Sie richtet sich gegen die Demokratie, die angeblich nicht in der Lage ist, die Interessen der Individuen zu verteidigen. Sie richtet sich auch gegen die Bürger anderer Staaten und Kulturen oder anderer religiöser Überzeugungen. Als wäre die Apokalypse nahe, wird allerorts Huntingtons Kampf der Kulturen beschworen, es werden unberechenbare Egoisten und Chauvinisten an die Macht gewählt, oft aus dem trotzigen Gefühl heraus, dass jetzt auch schon alles egal sei, dass es gar nicht mehr schlimmer kommen könne.

Kants Republik der Weltbürger scheint bedroht. Kant schrieb 1795, dass die Menschheit notwendig zu einer Weltgemeinschaft zusammenwachsen müsse, die auf den Prinzipien der Freiheit und Gerechtigkeit organisiert sei. Das schreibe nicht die Willkür, sondern ein aus den transzendentalen Bedingungen der menschlichen Vernunft und Existenz abgeleitetes moralisches Gesetz vor. Kant sah am Ende der Geschichte den ewigen Frieden, verwirklicht durch eine Republik der freien Geister, die im Bewusstsein einer globalen Schicksalsgemeinschaft leben, in der kein Volk sich in einen vollständig abgegrenzten Raum zurückziehen kann. Eine solche Republik sei notwendig, weil auf einer kugeligen Erde, auf der wir einander nicht ausweichen können, der Friede unsere einzige Überlebenschance darstelle.

Die Stimme der Verantwortung

Die Idee des Kantschen Völkerrechts und einer Weltregierung ist heute in der Institution der Vereinten Nationen verwirklicht. Aber schon Hegel fand die Schwachstelle in Kants Argumentation: „Die Kantsche Vorstellung eines ewigen Friedens durch einen Staatenbund, welcher jeden Streit schlichtete und als eine von jedem einzelnen Staate anerkannte Macht jede Misshelligkeit beilegte und damit Entscheidung durch Krieg unmöglich machte, setzt Einstimmung der Staaten voraus, die auf moralischen, religiösen oder welchen Gründen der Rücksichten überhaupt immer auf besondern souveränem Willen beruhte und dadurch mit Zufälligkeit behaftet bliebe.“ Dass Hegel hier einen wunden Punkt getroffen hat, sieht man daran, wie schwer die Weltgemeinschaft sich tut, eine einstimmige Entscheidung zu treffen und durchzusetzen. Es wird sich immer ein Egoist finden, der gegen eine zwar auf die Gemeinschaft bezogen vernünftige, aber auf ihn selbst bezogen unliebsame Entscheidung sein Veto einlegen wird.

In der Tat scheint die Zukunft, unsere Zukunft auf diesem Planeten, im Lichte dieser Tatsachen düster. Das Paradies der Moderne, das Kant sich im ewigen Frieden ausgemalt hat, scheint nicht verwirklichbar. Was ist ein Egoist? Auf europäischer Ebene gibt es, so scheint es, ausschließlich Egoisten. Die europäischen Staaten versuchen im Rahmen der EU ihre Interessen durchzusetzen, und aus der Sicht eines jeden dieser Staaten sind alle anderen Staaten nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Ein Egoist scheint jemand zu sein, der zwar die Stimme der Vernunft und des moralischen Gesetzes in sich hört, aber er vertraut nicht darauf, dass die Welt gut ist und dass er auf die Bereitschaft zu moralischem Handeln seitens der anderen Weltbewohner zählen kann. Bin ich gut, werde ich nur betrogen, denkt er. Er hört die Stimme der Verantwortung, aber seine Welt ist eine, in der diese Stimme das eigene Unglück, so man auf sie hört, vermehren wird.

Mir scheint, dass der Egoist im Land Ulro lebt. In einer Welt, die einen Raum der miteinander konkurrierenden Subjekte darstellt, deren größter Fehler gegenseitiges Vertrauen wäre. Der Mensch ist in dieser Welt einer, der aus ideologischen Gründen andere Menschen in Gaskammern umbringt oder vor laufender Handykamera köpft, vergewaltigt und verbrennt. In dieser Welt gibt es keine Hoffnung. Diese Welt wird regiert vom Tod, der von vornherein in der Materie implementiert ist, und im Gesetz vom survival of the fittest, dem wir uns fügen müssen. In dieser Welt lohnt es sich nicht, vernünftig und selbstlos zu handeln. Man verdrängt sein Gewissen lieber. Weil man kein Vertrauen in die anderen Handelnden hat, erklärt man das Prinzip, demnach der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, zum Naturgesetz. Und im nächsten Schritt glaubt man selbst an dieses Naturgesetz.

An einem Spätnachmittag im November letzten Jahres betrat ich, einer ungewohnten Regung folgend, eine Kirche.

Um mich herrschte, nachdem ich durch eine hölzerne Schwingtür und unter dem Steinbalkon hindurch in den Hauptraum getreten war, eine mir schon längst in Vergessenheit geratene Stille. Der Duft des weit vorn neben dem Altar flackernden, Schatten an die Steinwände und gegen die Säulen des Seitenganges werfenden Meeres aus Opferkerzen, das violett leuchtende Fenster hoch oben über dem Eingang über mir und die Bänke, die nur als Konturen aus der Dunkelheit der langen Halle in Reihen herausragten, waren mir plötzlich vertraut. Im violett, grün und rot gefärbten Glas der Fenster entdeckte ich Bilder von Gestalten mit Bärten und in langen Umhängen – eine hielt ein Schwert in der Hand, eine andere hielt ein Buch vor der Brust, eine dritte hob eine Hand mit zwei erhobenen Fingern.

Panik vor der Zukunft

Ohne es zu wollen, wurde ich in diesem Augenblick Teil des Ganzen, aber in doppelter Weise: Als derjenige, der ich war und in diesem Moment hier stand, im Jahr 2017, und als das Kind, das ich einmal gewesen sein musste in den 1980er Jahren im sozialistischen Polen. Dieses Kind existierte nur als von diesem Ort in mein Gedächtnis für einen Augenblick zurückgerufene Erinnerung, in diesem steinernen Innenraum eines Raumschiffs, das nicht nur durch diese Stadt, in der ich seit ein paar Jahren lebe, sondern durch den Kosmos flog, mit unendlich hoher Geschwindigkeit, sodass durch die Relativität der Zeit bedingt der Urknall und die Geburt der Sterne und Planeten über die Entstehung des Menschen gefaltet wurden, und damit über mein Leben, angefangen mit meiner Kindheit, aber auf zirkuläre Weise, sodass sie auch mit der Auslöschung all dessen und der Überführung in etwas anderes in Berührung kam, jenseits des Weltalls.

Den Raum an den Bankreihen entlang zu durchschreiten und sich dabei in einer Art von Rückfall die Frage zu stellen, ob all die Geschichten wahr sein konnten: Von der Versteinerung der sich umdrehenden Frau Lots, die sich doch in der Erzählung von Orpheus spiegelte. Von der Hochzeit von Kana. Hatte der historische Jesus existiert und hatte er wirklich Wasser in Wein verwandelt? Wie war seine Jugend gewesen in dem steinigen und staubigen Landstrich, in dem jeder Olivenbusch und jede rosa Blüte mit ihren Staubgefäßen und Kelchblättern wie ein Königreich für sich aussehen? Sich diese Fragen zu stellen, ganz konkret, nach 25 Jahren, in deren Verlauf ich vergessen hatte, dass sie sich mir als Kind mit unendlich großer Dringlichkeit vor alles geschoben hatten, zumindest für die kurze Zeit während der Vorbereitung auf die Erstkommunion, bevor dann neue Fragen auftauchten, etwa ob Tanja Schell, schon in Bamberg, schon nach der Auswanderung aus der Stadt meiner Kindheit, in mich verliebt sei und mit mir gehen wolle.

Ich ging durch die Schwingtür zurück in den Vorraum und wollte schon durch das Hauptportal in den Abend hinaustreten. Da entdeckte ich im Vorraum eine kleine Holztür, die offen stand und einen Zugang zum Turm ermöglichte. Ich zwängte mich zwei Minuten lang durch einen engen Wendeltreppenschacht aufwärts und erreichte ein Stockwerk, auf dem einst die Kirchenglocken gehangen haben mussten. Ich stand plötzlich in einem Raum mit Holzboden. Von hier aus konnte man auf einen Balkon hinaustreten und einen Blick über die Dächer und die beleuchteten Gebäude der Stadt werfen.

Ich stellte mich an eine zweite Tür, die viel kleiner war und zur anderen Seite des Turms ging und mit einer Leine abgesperrt war. Von hier hatte ich Einblick unter das Ziegeldach des Hauptkörpers der Kirche. Ich schaute auf die sich unter dem Ziegeldach in einem stickigen Zwischenraum vor mir erhebenden Außenwände der Hauptkuppel und der etwas kleineren Altarkuppel. Sie wölbten sich – sie sahen aus wie aus Lehm geklebt, hatten keine Streben, sondern waren ganz glatt, wie zwei weiß getünchte Steinöfen eines Pizzabäckers. Zwischen der Tür, an der ich stand, und den Kuppeln verliefen befestigte Gehwege aus Holzlatten, die, vielleicht weil sie nur von Handwerkern benutzt wurden, nicht von Geländern begrenzt wurden und für Besucher abgesperrt waren.

Als ich aus der Kirche heraustrat, trat ich in eine Welt, die mir für einen Augenblick aller Ganzheitlichkeit beraubt schien, und in der Angst herrschte, ja Panik vor der Zukunft. Ich trat in eine Welt, die sich, wie mir in diesem Moment vor Augen stand, aus einem existentiellen Grund am Rande des Wahnsinns befand.

Unendliche Glückseligkeit

Welche Voraussetzungen sollte unser Zuhause auf diesem Planeten bieten? Es muss zu allererst Sicherheit gewährleisten für die Zukunft – und das meint in unseren heutigen Gesellschaften die sichere Aussicht auf Arbeit, Rente, gut funktionierende Sozialsysteme und Straßen, auf denen man spazieren gehen kann, ohne sich bedroht zu fühlen oder angegriffen zu werden. Ein Zuhause müsste aber für mich noch etwas anderes bieten. Es müsste in diesem Zuhause tatsächlich, wie Miłosz schreibt, auch einen geistigen Raum geben, der in einen metaphysischen Raum hineinreicht. Metaphysisch in dem Sinne, wie Kant es in seinen drei Fragen formuliert hat, die er in der Kritik der reinen Vernunft stellt: „Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun?“ Kant beschreibt das grundsätzliche Problem der menschlichen Vernunft, die über bestimmte Grenzen hinaus keine Gewissheit erlangen kann, weshalb sie sich in allen Jahrhunderten Bilder und Erzählungen erfindet, um das hinter diesen Grenzen Liegende zu imaginieren. Diese Bilder und Erzählungen sind Fantasiegebilde. Aber die Grenze selbst gibt es, sie ist real. Die Welt existiert und kommt von irgendwoher. Auch vor dem Urknall muss es etwas gegeben haben. Aber weder die Unendlichkeit ist vorstellbar noch ist ein Anfang vorstellbar, vor dem es nichts gegeben hat.

Für mich gibt es in der europäischen Weltliteratur einen besonders berührenden, befreienden Moment. Es ist der Moment in der Göttlichen Komödie, in dem Dante und Vergil sich nach dem Durchschreiten der neun Kreise der Hölle am Oberschenkel von Luzifer entlang durch das Loch zwängen, das der Herrscher der Dunkelheit dort unten, am tiefsten Punkt nicht nur der Erde, zu dem sie abgestiegen waren, sondern eines ganzen Kosmos, mit seinem Körper wie ein Pfropfen verstopft. Sie drücken sich durch dieses Loch, und plötzlich stellt sich für sie und auch mich, den Leser, das ganze Weltbild auf den Kopf. Es vollzieht sich eine Drehung aller Bezugspunkte in mir. Der Augenblick, da sie sich durch dieses Loch zu zwängen versuchen, zieht sich scheinbar unendlich in die Länge, und es steht plötzlich in Frage, ob sie es schaffen werden. Aber dann überwindet das Luftbläschen den Scheitelpunkt der Wasserwaage und strudelt mit dem Wasser auf die andere Seite. In dem Moment, da ich meinen inneren Gleichgewichtssinn wiedererlangt habe, stehen die zwei Helden auf einem Sandstrand, mit dem Berg des Purgatoriums über sich und darüber dem blauen Himmel, der in seiner Tiefe in das Weltall übergeht, in dem die Sterne der Heiligen und das Reich von Jesus Christus sowie der Königin der Ewigkeit, der Heiligen Jungfrau, funkeln. Dort oben, so meint Dante, erwarte sie unendliche Glückseligkeit. Für Dante verkörperte sich diese Glückseligkeit nicht zuletzt in Gestalt seiner großen Liebe Beatrice, die in seinem realen Leben um das Jahr 1300 jung verstorben war und die auf ihn dort oben nun, als eine der reinen, heiligen Hofdamen der Mutter Gottes wartete. Beatrice vereinte seine ganze Hoffnung auf Erlösung in einer Person in diesem himmlischen Oben des Daseins.

Die Erleichterung spüre ich an dieser Stelle der Lektüre wohl bemerkt, obwohl ich überhaupt nicht religiös bin. Ich stamme zwar aus einem römisch-katholischen, aber auch skeptischen, naturwissenschaftlich geprägten Elternhaus und habe selbst eine Naturwissenschaft studiert. Trotzdem bin ich erleichtert.

Gerade noch passierte ich mit Vergil die lasterhaften, verlogenen Bischöfe und Herzöge und Richter und Händler aus Dantes historischem Florenz, die sich gegenseitig in einem brodelnden Becken mit heißem Pech übergießen und verbrennen, wieder Fleisch ansetzen und von Neuem mit dem Überguss beginnen. Ich ging durch den Kreis der Maßlosen, in dem diese sich gegenseitig das Gehirn herauslöffeln, das sofort wieder nachwächst. Durch alle neun Kreise ging ich und glaubte bald, dass es nur noch Strafe gibt, nur noch Selbstsucht, Hass, Neid, Brutalität, Terror, Verstümmelung, Gängelung, Vergewaltigung, Totschlag, Mord, ethnische Säuberungen, Volksverhetzung, Eigennutz, Lüge, Verrat. Ich meinte schon, diese Hölle, diese Ewigkeit aus Schmerz, sei das eigentliche Dasein des Menschen. Und dann stehe ich vor der Kreatur, die all das Böse verkörpert in einem einzigen Punkt – dem Erdmittelpunkt, dem im geologischen, emotionalen und im kosmologischen Sinne tiefsten Punkt aller Existenz. Ich nähere mich dieser Kreatur, ich drücke mich an sie und klettere an ihrem Oberschenkel entlang hinab, im warmen Hauch ihres Atems, schon jeder Hoffnung entledigt, schon ganz und gar dem Tod geweiht. Plötzlich aber kippt die Welt, Oben wird zu Unten, Unten wird zu Oben, und ich stehe am Strand des Purgatoriums, atme frei, und um mich legen die Seligen in ihren Booten am Ufer an. Sie betreten glücklich den schmalen Pfad zwischen den Felsen und steigen über die neun Kreise des Purgatoriums, des Läuterungs- und Säuberungsbergs, zum ersten Kreis des Himmels hinauf, wo das ewige Leben auf sie wartet. Und man könnte auch, wenn man von dem historisch durch das katholisch-christliche Weltbild eingefärbten Vokabular abstrahiert, sagen: zu einem Gebiet der Hoffnung, der Zuversicht hinauf.

Niemand garantiert einen guten Ausgang

Vor der Weltgemeinschaft liegen ohne Zweifel große Herausforderungen. Die Konflikte, die sich aus dem Klimawandel und der Überbevölkerung ergeben, zum Beispiel. Das ökonomische Wachstum, das uns Europäern unendliche Möglichkeiten der hedonistischen Selbstverwirklichung noch in den 1990er Jahren versprach (und erst recht den Osteuropäern, für die der kapitalistische Westen ein nicht zugängliches Paradies dargestellt hatte), hat in Europa neue Formen der Ungleichheit hervorgebracht. Gleichzeitig kommen die globalen Konflikte in Person der Schutzsuchenden aus Afrika und dem Nahen Osten vor unserer Haustür an und erinnern uns daran, dass die menschliche Existenz kein friedliches Paradies per se ist. Wenn ich hier in Berlin in eine U-Bahn steige, denke ich oft, dass ein junger Mann oder eine junge Frau zusteigen könnten, ein islamischer Amri oder ein christlicher Breivik, um so viele Menschen wie möglich zu töten. Ich frage mich dann, ob ich nicht lieber die nächste U-Bahn abwarten sollte. Die Zukunft scheint unsicher. Nichts ist garantiert. Aber nie war etwas garantiert. Jetzt können wir dieses Faktum der menschlichen Existenz lediglich wieder sehen, da sich der Schleier der Euphorie nach dem Zusammenbruch der totalitären Systeme in Europa wieder lüftet und das eigentliche Problem sichtbar wird.

Das eigentliche Problem ist, dass der Mensch frei ist. Freiheit ist etwas Schönes, solange man sie nicht hat und sie will. Aber sie bedeutet auch moralische Verantwortung. Die Verantwortung ergibt sich aus der Tatsache, dass man als freier Mensch selbst entscheiden muss, wie man handelt. Das gilt auch für die Menschheit im Ganzen. Niemand garantiert uns einen guten Ausgang der Geschichte. Wir müssen selbst dafür sorgen, dass die Welt ein guter Ort wird, an dem alle in Würde, Freiheit und Frieden zusammenleben können.

Die Utopie einer toleranten, friedlichen und Schutz bietenden Weltgemeinschaft ist die einzige Vision, an deren Ende noch Menschen leben. Die Utopie derjenigen, die meinen, wir befänden uns im Krieg und müssten Homosexuelle, Ausländer und Andersdenkende oder -glaubende „ausschaffen“, um das eigene Leben zu schützen, errichtet gerade das Land Ulro. Es ist eine ekelhafte Welt, in der ich nicht leben möchte. Im Land Ulro hört der Egoismus nicht auf zu herrschen. In den völkischen Paradiesen wird die Angst weiterregieren, da sie dort die einzige Reaktion auf die Abwesenheit von Garantien angesichts einer unbestimmten Zukunft darstellt.

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