Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Drei Wochen in der Normalität

 

Wie das Erwachen aus der Kindheit oder aus einem mit skandinavischen Möbeln vollgestellten Traum: Wer nach China reist, muss die europäischen Krustenrüstungen ablegen.

© Ann Cotten


 

In China zu sein! Endlich! Ich setze einen Fuß in meine größte Bildungslücke. Es ist die Schwelle einer U-Bahn-Station. Polierter Granit, mit Blindenleitrillen und Warnansagen auf Chinesisch und Englisch. Peking.

Wie ist es?

Es ist wie aufzuwachen aus der Kindheit oder aus einem mit skandinavischen Möbeln möblierten Traum. Hier sind Erwachsene.

Sie gehen, links, rechts von mir, ihren Gewerben nach, waschen Sachen im Abfluss, führen Pudel spazieren. Sie sprechen ohne die Stützräder der kindlichen europäischen Moralmärchen – so klingen für mich die Melodien der Sprechakte. Ich verstehe kein Wort, aber die Gesten sind nicht fremd. Die Mythen kann ich kaum wahrnehmen, lesbar ist mir der Bereich des Common Sense, der aber sitzt, fühlt sich „normal“ an.

Nehme ich alles als „normal“ an, wo ich hinkomme und versuche, mich daran anzuschmiegen? Ein bisschen, aber in Ländern der Dritten und Zweiten Welt fühlt es sich an, als würde man einer geistigen und körperlichen Akklimatisation an die globale Realität ein wenig näher kommen, wenn man die Augen und Ohren gut aufsperrt. Denn man ist als Durchschnittseuropäerni[1] ja doch ein ziemlicher Wohlstandszombie. In diesem besonderen Fall könnte das realistische Gefühl auch noch eine speziellere Wurzel darin haben, dass wir in Europa von Gegenständen umgeben sind, die in China designt und produziert wurden; hier flutet die Umgebung dazu herein, wie ein Himmel fehlender Puzzlestücke.

Wie ist es?, fragen mich per Mail und auf sozialen Medien Freunde, Familie und Bekannte. Ich antworte ungern und zögernd, bin doch grad angekommen. Staubig, voller Gerüche, smogig, aber nicht unerbittlich.

Es ist wie einzutauchen in ein Bad, und die Komputationen fangen an. Mein Volumen (unter Asiatennni sind Europäernnnie immer etwas zu groß; zugleich macht mich die Masse meine Winzigkeit und Unwesentlichkeit spüren) berechne ich aus der Verdrängung des Umfelds, dazu, aus irgendeinem Wissen im Hintergrund zu destillieren, mein spezifisches Gewicht. Das alles quasimetaphorisch übertragen: mein Gewicht als Mensch, als sogenanntes Individuum.

Nicht groß. Wie eine Wassernuss etwa. Um mich herum fließt alles weiter. Als Tourist schwimme ich wie ein Stück Scheiße an der Oberfläche; die, die hier leben, haben es schwerer.

Als Nächstes will ich wissen: Wie dicht bin ich? Asien stellt mir die Frage oft. Ich passe mich, wie gesagt, gern an Asien an, es gefällt all meinen strukturellen Instinkten – das Funktionieren so dicht besiedelter Städte wie Tokio oder eben Peking scheint zu bestätigen: This is the way to go. Ich lege mit Vergnügen die europäischen Krustenrüstungen ab – Scheinmoral, gewohnheitsmäßige gegenseitige Verachtung, Rumgepose, Fassade Fassade, Bullshit, Arschsein und süßliches Säuseln – und meine dann, nackt mit den Delphinen zu schwimmen, oder was? Was bleibt denn als ich über, wenn ich all das ablege, was mir an meiner Kultur nicht gefällt?

 

© Ann Cotten

 

Das fragte ich schon vor Jahren, in einem Regionalzug durch die japanische Nacht tuckernd, links und rechts Nachtes Schwärze, totale Fremde, könnte All sein, nur dass da, wie ich wusste, lauter Menschen wohnten. Die fast alle in sehr engen und strengen Arbeitsverhältnissen steckten, während ich alleine selbst für den Unterschied zwischen Genie und geistiger Verkommenheit verantwortlich war. Sodass ich mich immer fragte, in Kyoto, in Buxtehude und in Palm Springs, und jetzt in China immer noch frage: Was mache ich hier, warum, zu welchem Zweck, und kann es denn denkbar zu irgendwas führen?

Meist gibt es darauf keine Antwort und ich mache, beunruhigt wie immer, weiter. Ich habe gelernt, dass es nicht auf alles sofort eine Antwort gibt, wenn ja, dann ist es manchmal eine dumme oder eine falsche. Gerade auf die Frage „Was machst du hier?“ bringt die nahe Zukunft eigentlich immer die Antwort. Jedoch wenn sich Muster zu wiederholen beginnen, muss ich dien Navigatorni in mir wieder wecken. Wollen wir wirklich in diese Richtung gehen? Im Ausland, wo Integration zwar als möglich eingetragen werden muss, aber endlose Mühsal bedeutet, und von endloser Heiterkeit abhängig ist, um zu funktionieren, bin ich da denn mehr als eine Maschine, die Nahrung und Wasser vertilgt und halbfertige Gedanken, hastige, schlampige Zeichnungen hervorbringt? Aber wo ist denn Inland für mich?

Ich bin überhaupt nicht dicht, nein, reagiere zu leicht und schnell, korrodiere, bilde neue Substanzen, allerdings selten eine vollkommene Verwandlung; Unentschiedenheit, ob ich nach draußen mich neu mache, oder das Außen ins Innere sauge, es gibt aber kein Innen, ich schwimme brennend wie Aluminium.

Um weniger chemisch extravagant zu sein: Ich im Bad – die erste Metapher scheint anzudeuten, dass, wer oben schwimmt, weniger dicht ist. Ich vermute dahinter vicious circles. Es schwimmen immer dieselben oben, die zu größerer Dichte nicht gezwungen werden, die bildet sich nicht freiwillig.

 

© Ann Cotten

 

Die traditionelle chinesische Kultur hat viel Liebe für bizarr erodierte Steine übrig, die sie mitunter auf kostbare Sockel stellen und schon im Mittelalter zu unvorstellbaren Summen kauften. Auch die Erklärung, diese Steine stellten Schriftzeichen nach, hilft mir nicht, sie gerne zu sehen. Das sollte mich überraschen, denn generell liebe ich alle Arten von Trompe-l’Œil und künstliche Natürlichkeit. Die Gärten mit ihrer artifiziellen Miniaturnatur, den künstlichen Felsen und ausgewählten Kostbarkeiten finde ich, wie jeder, bezaubernd, mag auch, wie ihr Echo in Europa zunächst im Englischen Garten anschwillt, dann wieder im 19. Jahrhundert zurechtschrumpft, etwa im von Louis Aragon besungenen Parc des Buttes-Chaumont in Paris, so als würde jemand über die Jahrhunderte den Fokus einer Linse einstellen. Für Holzimitat aus verstärktem Beton, erfunden Mitte des 19. Jahrhunderts von einem französischen Gärtner, und alle daraus gemachten Treppchen, Geländerchen und Parkbänke schwärme ich über alle Maßen. Auch Steinimitat ist nah an meinem Herzen, etwa diese Landschaften, die sie in Zoos für Bären, Steinböcke und Affen bereitstellen. Wahrscheinlich ist die Manie für von der Natur bizarr geformte Steine genau das Gegenteil. Es ist möglicherweise die Gestalt meines wunden Punkts, der Originalitätssucht.

 

© Ann Cotten

 

Gerade eben kam ich zufällig an einer Ausstellung alter buddhistischer Tongle-Bildrollen vorbei. Alt heißt, 11. bis 19. Jahrhundert. Zentrale Figur ist während dieser ganzen Zeitspanne auf fast allen Bildern eine gerade und gefährlich blickende Gottheit mit mehreren Armen, umarmt von einer Frau, die, auf seinem Schoß, von ihm sexuell aufgespießt, befindlich, ihn mit den Armen umrankt. Unten links und rechts sind häufig Dämonen auf der einen Seite, auf der anderen meditierende Menschen, die hellen, lebenstechnischen Frieden ausstrahlen.

Was mich an diesen Bildern frappierte, abgesehen von den brillanten Farben und dem flirrenden Detailreichtum, war, dass mir einige Entwicklungen parallel zur europäischen Kunstgeschichte zu verlaufen schienen. Die Figuren aus dem 13. und 14. Jahrhundert haben Beinformen, wie ich sie von unserem Mittelalter kenne, die Neigung des Kopfes ist auch ganz dieselbe wie bei den alten deutschen Prinzessinnen der Dome. Durchscheinende Schönheiten, lang und dünnen Körpers, winden sich biegsam im Luftraum, blicken verliebt und verloren zum Himmel oder aufeinander. Mit dem 15. und 16. Jahrhundert kommt etwas Geraderes ins Spiel (und jetzt schieben sich sogar die kantigen Faltenwürfe japanischer Herrscherporträts dieser Zeit vor mein inneres Auge). Die Panzertechnik. Der Faltenwurf. Die Macht. Das Gewand ist nicht mehr tailliert, sondern einem Gebäude nachempfunden.

Im 18. Jahrhundert wird es dann pastoral, Menschen und Tiere machen verschiedene Dinge auf Wiesen, und die Menschen sind von einer unerotischen, nicht tanzenden Nacktheit. Ausgesetzt und kindlich wirken sie jetzt, wie Würmer oder unbeholfen gezeichnete Tiere. Als wäre etwas wie Aufklärung ins Spiel gekommen, eine Korrektheit wie eine Krankheit, die dem kollektiven Rhythmus den Mut nahm, den Tanz als Melodie der Welt erübrigte. Als Erholungsfläche von dieser als poesielos verstandenen Wahrheit dann: Bukolik.

Was ist da plausibler, astrologische Erklärungen oder Erklärung durch gegenseitigen Einfluss? Es reicht vielleicht, künstliche Grenzen im Kopf zu entfernen, der graduelle Übergang, mit entsprechendem Austausch, zwischen Europa und Asien; das, was die Mongolen sahen (die man doch eher als beeinflussendes denn als beeinflusstes Volk im Kopf hat, aber das könnte täuschen, wer sind sie?) – genau das ist der Mainstream. Versuche, alles aus uigurischer Perspektive zu sehen, und es ist viel weniger verwunderlich.

Aber so vieles andere blieb doch getrennt! Die Religionen kultivierten sich parallel dahin. Nur die Gesten fließen über den Globus, grenzübergreifend wie das Meer und die Zugvögel.

 

© Ann Cotten

 

In diesem wirklich mit Euphorie aufblühenden Land (ich schreibe statt Land immer Lanf, und denke Free Lunch) – betrachtet man mal nur diesen Aspekt – jedem Studenten liegt es leicht, wie selbstverständlich auf der Zunge: Wir sind ja ein Entwicklungsland – wenn ich in dieser Umgebung als schwarzes Wölkchen aus Europa herumtanze in gewohntem Pessimismus und in der zynischen Gedankenstimmung europäischer Kulturmenschen meiner Generation, fühlt es sich merkwürdig an. Ich spüre, ich bin ein nutzloser Mensch, ein Auswurf. Aber von was genau?

Könnte man aus dem BIP das Verbrechen herausfällen, wie von Joghurt den Saft, von Metall Schlacke – aber es ist nicht so, es bleibt alles verbunden. Und dann gibt es einen leichten Schmerz in dem allen, zu sehen, wie das Entwicklungsland Trends und Verhalten mit dem so poetischen Eklektizismus der Euphorie zum Spielen aufgreift, Slogans in seinem frisch eingestellten Englisch, mit dem begründeten Selbstbewusstsein, das alles richtiger zu verstehen als die ranzige Gewohnheit der Imperialisten, sprechend holend, wie klares Wasser aus dem Brunnen der Tiefe der chinesischen Geschichte, Bilder und Verkörperungen des neuen Lebens, Marken, Design, angefeuert, wie durch Saugkraft, vom geradezu gierigen Absatz für die immer virtuoser werdenden chinesischen Produkte.

Ein Riesenbaby, als Greis geboren, und jetzt sind alle Teenager, wie die Ossis nach der Wende entdecken sie, was ihren Sinn reizt. Oma, Mama, Papa, Opa, Onkel hören beim Sport in den Parks auf kleinen Taschenradios diejenige Popmusik, die ihr Gefallen erregt. Es sind eher die Jungen, die teils verwirrt oder melancholisch werden, Bedenken witternd, für die es keinen Platz gibt in der Euphorie. Die in der Mitte des Lebens stehen, sind gefestigter – und ihre Erschütterung kommt vielleicht eher in Form einer äußeren Krise, wenn ihre Werte nicht mehr funktionieren. Welche übrigens sehr unterschiedlich sind. Chinesen sind sowohl für ihre präzise Gerechtigkeitsliebe bekannt als auch für rücksichtslosen Egoismus – es kommt eben bei verschiedenen Leuten vor. Häufig in der Variante von Überlebensstrategien, die mehr von einem harten Leben als vom Herzen sprechen. Etwa erzählte Y. von einer Taxifahrerin, mit der er ein langes Gespräch voll echter Sympathie führte, und die ihm am Ende mit Falschgeld herausgab – nach einem federleichten Zögern, das der Passagier im Nachhinein als Gewissenskampf interpretierte.

 

© Ann Cotten

 

Es ist so eine alte und massive Kultur und ein riesiges Land. Im höheren China-Journalismus wimmelt es vor Dekadenztheorien, etwa der, dass China durch die geografische Lage, den Fortschritt und die harmonieorientierte Regierung früh eine große Bevölkerungsdichte erreichte, und also früh lernen musste, große Massen an Menschen zu versorgen und zu verwalten. Der Große Kanal zwischen Peking und Shanghai wurde fast 500 vor Christus angefangen und musste den Norden mit Reis aus dem Süden versorgen. Wobei bei allen Schritten der Versorgung wieder Massen von Menschen beteiligt sind … Bei so großen Prozessen muss die Planung mehr wie Wachstum funktionieren. Nach Gesetzen, die sich im Kleinen und im Großen wiederholen und verschiedenen Bereichen die Verlässlichkeit eines Rhythmus‘, einer Religion verleihen. Vieles, was einem als Westler in die Kategorie „konservativ“ zu gehören scheint, schuldet sich einem feinen überindividuellen Gefühl für die notwendigen Proportionen, damit diese großen gemeinsamen Situationen musikalisch und nicht kakofonisch als andauernder unnötiger Kampf ablaufen (vgl. BER). Auf den Baustellenplanen steht, dass wir alle gemeinsam den Chinesischen Traum träumen. Der Nationalstolz scheint mir, neben der erwähnten, auch olympischen Euphorie, teils der unbeholfene Ausdruck eines Instinkts, dass das alles, das ganze Land und die große Entwicklung, ohne die spezifische, uralt gewachsene und harmoniebedachte chinesische Kultur niemals funktionieren würde. Aber so ein Nationalstolz schwillt gern im Zweifel an, gedeiht in einer Atmosphäre verdrängter Unsicherheiten und Zweifel, wie die ersten Mikroben in der Ursuppe. Etwa in Bereichen, wo Unterdrückung mit ästhetischen Mitteln eine falsche Scham aufzwang, etwa nach Kolonialismus oder in den unterdrückten Klassen. Während aber der euphorische Nationalismus einwertig jubelt und nachdenklich sinniert wie die verliebten jungen Eheleute in einer Linie ihr Soll und Sein betrachten, wird bei uns gern in vorauseilender Rechtfertigungshaltung gebellt, man lasse sich nicht vorschreiben, sich zu schämen, um den Vorhang des Nationalstolzes vorzuschieben, wo von Schwierigkeiten und Unwillen, mit neuen und fremden Realitäten zurechtzukommen, abgelenkt werden soll. Der Nationalismus in der sogenannten Ersten Welt ist eigentlich kaum vergleichbar – nachdem die unteren Schichten auch nicht gerade auf einem aufsteigenden Kometen surfen. In Deutschland hat er etwas gewohnheitsmäßig Trotziges – schließlich muss eien deutschre Nationalistni beharrlich die Augen davor verschließen, dass um siehn herum in seihrnem geliebten Land die Einwandererni schwerere Hürden mit weniger Wehleidigkeit bewältigt. Es ist belastend für das Image der Inländerni, wenn man nur die fleißigsten, kräftigsten, bravsten und bestausgebildetsten Ausländerni ins Land lässt.

 

© Ann Cotten

 

Nach der Lektüre von Agnes Smedley hatte ich die Bilder von elender Armut im Kopf, aber zu essen gibt es in China reichlich, scheint es (wenigstens, solange man nicht hinter die Stromkästen schaut), und alles kreist ums Essen – was wieder daran erinnert, dass die Zubereitung der Nahrung normalerweise schon rein menschheitsgeschichtlich, vor der Industrialisierung der Versorgungsketten und Individualisierung der Angestellten, eine große, Zusammenarbeit und Planung vieler Kettenglieder fordernde, mehr oder weniger vollberufliche Sache war. Essen tut man gemeinsam. Einsam und vor allem auch idiotisch mit einer einzigen Substanz vollgestopft fühlte ich mich, als ich am letzten Abend, als ich mich allein einem Restaurant ausgeliefert fand, und wie erst jetzt, zu Hause in Wien angekommen, im Terror der eigenen vier Wände! Das restliche Leben wirkt manchmal schmal, flüchtig, wie ein Beistrich, neben dieser kollektivmenschlichen Kunst der Ernährung. Einmal war ich morgens in schwerem Regen auf dem Weg zum Bahnhof und geriet vor dem Eingang zur U-Bahn in etwas, was mir wie eine einzige Feier erschien: Alle Menschen frühstückten an rollenden Ständen an einer bestimmten Straßenecke, an provisorischen Tischen auf winzigen Stühlen (übrigens oft von exquisiten Proportionen, die Stühle meine ich – die Menschen sowieso) hockten Mütter mit Kindern, Businessleute, Arbeiter, Beamte, Singles, alle, auf dem Weg zur Arbeit, zur Uni oder in den Kindergarten, flüchtig und lebhaft schlürften sie Nudelsuppe, löffelten Brei oder bissen in Dampfknödel, haphazardly. Es wirkte wie der große Tisch einer großen, im Chaos der verschiedenen Tagesabläufe eingespielten Familie, in der Verträumtheit des Regens auch noch schöner, vielleicht, als sonst.

Müll und Sauberkeit befinden sich knappst nebeneinander. Die Hygiene ist eine des Wissens, wie die Kenntnis von Schriftzeichen, Materialkenntnis, man greift mit präziser Hand nicht daneben, denkt nicht einmal daran.

Freilich, viel Plastik geht dabei drauf. Manchmal ist die Hygiene durch die Seide unserer Zeit, die dünnsten Sackerl oder wenn Sie wollen Tüten, gewährleistet, etwa, indem man sie um die Hartplastikschüsseln für die Nudelsuppe flößt, was mir ein vielleicht nicht vollkommen dummer, aber doch ziemlich gedankenloser Aberglaube erscheint, wie im Supermarkt zu denken, dass Dinge, die aus einer Fabrik kommen und dort verpackt wurden, durch diese Verschweißung garantiert sauber sind. Ein ziemlich symbolisches Vertrauen in die Konzerne, Fabriken und Betriebe, die Religion unserer Zeit.

Die Fabriken sind aber auch beeindruckend. Auf Xinhuanet oder in der englischsprachigen Print-Zeitung China Daily, beides Organe der Regierung, kommen regelmäßig technische Berichte auf eine Art, die mir in europäischen Zeitungen fehlt: respektheischend. Der strenge Fokus aufs Ereignishafte unserer Zeitungen, wo Berichte über laufend funktionierende Verfahren sich als übertriebene Idyllen formulieren („Frau Sabathy ist technische Zeichnerin. Sie zeigt uns eine Skizze auf dem iPad …“), oder mit Superlativen und hochstilisierten Neuerungen schaumschlagen, oder eine Selbsterhöhung durch Kritik herbeischreiben müssen, ziehe ich wenigstens nicht vor. (Die Artikel, wo das Abfeiern der chinesischen Leistungen zu weit geht, sind freilich deutlich zu erkennen.) Ich mag Artikel darüber, wie die Bauern in Xinjiang Trauben trocknen, vor allem, wenn sie knapp und sachlich das Verfahren erklären. Diese Zeitung hat den Effekt, jeden Morgen meinen Respekt zu wecken. Deutsche Zeitungen haben den Effekt, jeden Morgen die Besserwisserei zu streicheln und Gassi zu führen.

Fährt man überland, etwa im superglatten Hochgeschwindigkeitszug, noch besser aber langsam tuckernd in einem alten Schlafwaggon, sieht man die Mülldeponien, in landstrichartigen Dimensionen. Man sieht auch berauschende Berge, saftige Kanäle und schmucke Häuschen – zwischen Nanjing und Suzhou sieht es täuschend aus wie in Holland –, und überall sehr, sehr viele sorgfältig kultivierte, in manueller Größe dimensionierte Gemüsegärten. Chinesennnie leiden bei uns unter der engen Gemüseauswahl – hier müsste etwas Bildung durch den Globus sickern.

Ich indessen leide darunter, dass ich schon lange die „Idee“ habe, es wäre gut, wenn jeder Bürger ein Stück Feld hätte, auch wenn es nicht zur Selbstversorgung reicht, allein zum Ausgleich und für den Realitätssinn, und als eine Art Luxus. Ich leide, weil diese „Idee“ (in Anführungszeichen, weil sie nun wirklich nicht besonders originell ist) nichts vom Geschmack der Naivität verliert dadurch, dass es in China, außer in den Großstädten, tatsächlich so ist, und es den Leuten auch tatsächlich sehr gut zu tun scheint.

Es klingt bei solchen Beobachtungen, als würde ich die Welt verbessern wollen. Wahrscheinlich will ich nur … also, ich habe eine Idee von Pflicht und Ordnung, in der ich gerne leben würde, und die ich nicht schaffe, selbst alleine herzustellen. Ich brauche Hilfe! Nur gemeinsam kann ich dicht werden! Natürlich ist mein Leben viel zu unregelmäßig, das ist meine selbst verschuldete Unmündigkeit, hier schon mal geprügelt. Wegen einer obsessiven Arbeitsweise und unregelmäßigen, schwer zu definierenden Terminen habe ich es nicht einmal annähernd täglich in den Garten meiner Mutter geschafft, als sie einen mietete, nicht einmal wöchentlich, obwohl ich, wenn ich dort war, sorgfältig jätete. Vielleicht allzu sorgfältig … Es wäre das alles nie so weit gekommen, wenn die Ordnung, die ich mir wünsche, herrschte. Ich stünde nicht vor der merkwürdigen, etwas beschämenden Aufgabe, mir freiwillig künstliche Pflichten zu erfinden.

 

© Ann Cotten

 

Es sind alle so brav und ich liebe das und würde gern auch so sein. Wie in Godard-Filmen manchmal. Die Konzentration. Der gemeinsam wahrgenommene Raum der Schönheit eines Moments. Die richtigere Einschätzung vom Wert von Bildung, vom Ernst der Uni und des Lebens, keine popkulturell bis zur unkenntlichen Lehre reproduzierte Antihaltung. Meine so anstrengende Gewohnheit von Skepsis, Ekel, und immer das Andere machen zu müssen, habe ich ja gelernt. Und ich würde diesen Individualismus und Suprematismus, der mir tief anprogrammiert ist, so gerne los. Es ist verdammt anstrengend, sich immerzu von allen Regeln, die man als Einschränkungen der persönlichen Freiheit empfindet, freikämpfen zu müssen, nur um, endlich alleine und frei, in Melancholie und kreisende Gedanken zu verfallen. Sie kreisen um meine Unnützheit, darum, dass ich mit 35 immer noch aus Träumen und lauter nicht zu Ende verfolgten Interessen bestehe, ehrgeizig rumkletternd im Wertesystem der Kunst, ohne daran zu glauben, ohne wahren Kern also, um den ich trotz aller Anpassungsleistungen gravitieren könnte, mich hat ein Kern nie interessiert. Aber so wie es ist, kann ich niemandem erklären, wer ich bin. Ein hohler Charakterpanzer. Eine Kakerlake. Überlebt. Millionen Jahre Evolution überlebt, zu was? Zu mehr überleben.

 

© Ann Cotten

 

Die Materialmisere und die Materialpracht. Materialbewusstsein, wo man hinschaut.

Der enge Kanon, eng wie die klassischen Seidenkleider für Damen.

Die Dialekte, die hohe, komplexe Sprache der Dichtung, und die falschen Töne der oft unbeholfen wirkenden, unsystematischen Propaganda. Das ist für Propaganda ideal – aus Sicht derer, die mit ihr leben müssen.

Im alten Regierungspalast von Nanjing (einem luftigen Bau mit durch reizende Gänge und Innenhöfe verbundenen hellen Gebäuden, umgeben von einem Garten) hängt eine große Antinarkotika-Ausstellung. China hat vielleicht das älteste Drogenproblem der Welt, und auch erfolgreich bekämpft, jedoch nie ganz besiegt – bleibe wachsam! In der Ausstellung hängen künstlerisch anspruchsvolle und vielfältige Plakate gegen Drogenmissbrauch, in verschiedenen traditionellen chinesischen Kunsttechniken wie dem roten Scherenschnitt, Kalligrafie und Malerei, aber auch, ähnlicher als bei uns, in sich an Jugendkulturen anbiedernden Stilen. Vor zwei Jahren las ich Arthur Waleys Übersetzung von Auszügen aus dem Tagebuch von Lin Tse-Hü (in der damaligen Transkription), dem Beamten, dem aufgetragen wurde, mit dem von den internationalen Händlern angeheizten Opiumschmuggel endgültig aufzuräumen. Er machte einen guten Anfang, vernichtete große Massen von Stoff und teilte den schmuggelnden Diplomaten diplomatisch, aber deutlich mit, dass chinesische Gesetze auch für sie gelten (sie waren anderer Meinung) – und dann gab es eine kleine Hafenrauferei, die von den Amerikanern und Engländer zum Anlass genommen wurde, den Opiumkrieg anzufangen.

Die Kontinuität der Verhaltensmuster ist erschreckend. Nur könnten die Machtverhältnisse diesmal wieder geografisch umgekehrt angeordnet sein. Die USA haben ein Drogenproblem – etwa ein Drittel der Bevölkerung, sagt man, ist nach irgendwelchen Substanzen süchtig (ganz zu schweigen von der nicht ausschließlich chemischen Sucht nach dem kurzen Befriedigungsrhythmus von billigen Produkten und Rhetoriken) – und China ist in der Lage, seine Handelsinteressen durchzusetzen. Was China übrigens in Afrika tut, hat immerhin das Gesicht, den Gestus von Solidarität, und nicht die Lions-Club-Attitüde der Hilfe von oben herab. Kann sein, sie versuchen jetzt dort, was die Welt bei ihnen selbst in den letzten Jahrzehnten gemacht hat. Eine Mischung, eben, aus massivem Technologieschub und Ausbeutung.

Für eine dekadente, überreife Zivilisation schaut das alles bemerkenswert frisch aus.

 

© Ann Cotten

 

[1]   Polnisches Gendering: Alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende

_______________

Sie möchten keinen Freitext verpassen? Es gibt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.