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Die Anti-Trump-Stadt

 

Toleranz und Rassismus, Armut und Reichtum existieren in New York nebeneinander. Aber man spürt den Willen, die sozialen Ungerechtigkeiten zu überwinden. Trotz Trump

Nicolai Berntsen/Unsplash

Seit Anfang Oktober bin ich in New York, wohne wie alle Stipendiaten aus Deutschland, der Schweiz, Österreich in den Silver Towers an der berühmten Bleecker Street, gleich hinter dem berühmten Washington Square Park, um den die Gebäude der berühmten New York University verstreut liegen. Von meinem Fenster im siebten Stock sehe ich rechts auf die Houston Street, wo das angesagte und schicke Viertel SoHo (für: South of Houston Street) beginnt, links, leicht nach hinten versetzt, die Häuserzeile des Broadway, noch etwas weiter hinten das Bayard-Condict-Building von 1899, einziges Gebäude und erster Stahlträgerbau in New York City des vor allem für Chicagoer Bauwerke berühmten Architekten Louis Sullivan. In einem Radius von ungefähr fünf bis zehn Gehminuten liegen: der Earth Room und der Broken Kilometer von Walter De Maria, der Ort, wo sich Edward Hoppers Wohnhaus und Atelier befand, wo John Dos Passos Manhattan Transfer geschrieben hat, die Adresse, wo Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs sich regelmäßig in einer Buchhandlung trafen, wo im von Jimi Hendrix gegründeten Electric Ladyland Studio legendäre Plattenaufnahmen entstanden. Wenn ich aus der Lobby meines Wohnturms trete, stehe ich vor einer riesigen Picasso-Skulptur aus Beton. Laufe ich links die Bleecker Street zur MacDougal Street runter, komme ich zum Cafe Reggio, in dem Bob Dylan zu sitzen pflegte. Gehe ich rechts bis zum Ende der Straße, stehe ich vor einem Klamottenladen, in dessen Räumen einmal das CBGB war, die Zentrale von New Wave und Punk. Auch Mark Twain hat in der Gegend eine Zeitlang gelebt, auch Andy Warhols zweite Factory lag nicht weit von hier, auch Jean-Michel Basquiat hat um die Ecke gewohnt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Die US-amerikanische Kultur des 20. Jahrhunderts wäre hier gleichsam zeichenhaft auf engstem Raum verdichtet, wären denn Zeichen vorhanden. Sind sie aber nicht, zumindest nicht viele. Nur weniges ist in Relikten erhalten (auf Mark Twain zum Beispiel weist immerhin ausnahmsweise eine Bronzeplakette hin, der Klamottenladen benutzt die alten Plakate des CBGB als Deko), das meiste ist spurlos verschwunden. Hätte ich nichts gelesen, keine Hinweise erhalten, wäre mir kaum etwas aufgefallen.

Die Ursache für New Yorks Trend zur Auslöschung der eigenen Geschichte ist simpel und plausibel in dieser superteuren Stadt: Es geht ums Geschäft. Läden müssen dicht machen, ältere Häuser neuen, größeren, höheren weichen. Die Betreiber des CBGB konnten sich irgendwann in den Nullerjahren einfach die steigenden Mietkosten nicht mehr leisten. Aber als Reklame-Accessoire sind ihre Poster immer noch gut. Überhaupt beschäftigt mich, je länger ich hier bin, immer stärker das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Geschichte und Gegenwart. Als ich ankam, hoffte ich etwas zu erfahren über das neue Donald-Trump-Amerika. Sehr schnell stellte sich heraus, dass hier in Manhattan davon so gut wie nichts zu spüren ist. Und alle New Yorker, mit denen ich gesprochen habe, waren stolz darauf. Trotz Trump Tower, vor dessen Eingang sich die Polizei förmlich eingegraben hat, trotz Trump Center an der Wall Street. Auf Staten Island womöglich, wo es ländlicher zugeht, wurde mir erzählt, in der einen oder anderen Ecke von Brooklyn vielleicht. Aber hier? – Fand ich Trump-Devotionalien gerade einmal im Postkartenständer: „Make America Great Again„, prangte da über einer Abbildung von Trump, seinen Vize Mike Pence und dem Weißen Haus, vor die jemand (aus Scham oder um zu verhindern, dass die Karte verkauft wird oder beides) eine andere Postkarte gesteckt hatte. Stattdessen bekam ich hier, im Greenwich Village, Flyer von RefuseFascism.org in die Hände gedrückt, Aufrufe zu Protestkundgebungen unter dem Motto: „This Nightmare must end„.

Verschmelzungsprozesse

Direkt unter den Fenstern meiner Wohnung, wo man früher auf Tennisplätze und eine Aschenbahn hinunterblickte (an einer Stelle ist noch ein kleiner Rest der roten, mit weißen Linien geteilten Kunststoffbeschichtung zu erkennen), wo die Sportstudierenden der NYU ihre Vor- und Rückhand trainierten oder unermüdlich ihre Bahnen drehten, liegt derzeit der Krater einer gigantischen Baustelle. Während meiner Denkpausen schaue ich dem Ballett der riesigen Bagger und Maschinen zu. Anfangs gab es noch enorme Presslufthämmer, die mein Hochhaus zum Wackeln brachten und Einbußen für die Konzentration bedeuteten, sodass ich zum Arbeiten in die Library auswich. Doch längst ist es für einen Maschinenpark dieses Ausmaßes erstaunlich ruhig geworden. Scheinbar passiert nämlich nicht viel dort drunten. Zumindest ist kaum etwas zu sehen. Trotzdem wird ständig rangiert und gewuchtet und umgeschichtet. Löcher werden auf-, dann wieder zugegraben, Beton wird durch ein zwanzig Meter hohes Rohr in den Boden und die Seitenwände der Grube gepumpt. Ab und zu wird ein enormer zylindrischer Stutzen oder ein kolossaler Stahlbalken senkrecht bis zum Anschlag ins Erdreich gerammt.

Das geht nun seit über zwei Monaten so. Mir ist klar, dass es bei all diesen Vorarbeiten im Untergrund um Statik geht. Und die wird auch nötig sein. Am Bauzaun hängen Modellzeichnungen des „work in progress„: ein mächtiger Stahl- und Glasriese, der dann natürlich die fantastische Aussicht aus meiner Wohnung für immer (oder bis zum nächsten Abriss) verstellen wird. Vermutlich wird, wenn das Fundament gesichert ist, das eigentliche Gebäude in der allerkürzesten Zeit emporschnellen. So gehöre ich wohl zu den letzten Glücklichen, die ihre Stipendiatentage nicht im Schatten einer fünfzehn Meter entfernten Hausfront verbringen. Was mich aber, während ich das Maschinenballett unter meinem Fenster beobachtete, weit mehr interessierte, war das gewissermaßen Sinnbildliche des Vorgangs, genauer gesagt, war meine Bereitwilligkeit, ihn als Sinnbild für den „Geist“ dieser Stadt aufzufassen. Vielleicht lag es ja einfach an der Gleichförmigkeit und Wiederholung, dass ich bald anfing mich zu fragen, ob mir dieser tägliche Anblick etwas – und wenn ja, was eigentlich – sagen wollte darüber, wie New York „funktioniert“.

Denn das hatte ich natürlich auch bald verstanden, nachdem die erste touristische Besichtigungseuphorie abgeflaut war, dass das Leben im Big Apple keineswegs so vertraut, so Europa-ähnlich ablief, wie es mir in den ersten Tagen erschien. Auch der Verschmelzungsprozess von Menschen aus allen Weltgegenden ging im Melting Pot New York nur bis zu einem gewissen Grad und nicht weiter. Vermischung und Abgrenzung schließen einander nicht aus, Integration und Segregation finden gleichzeitig statt. Es war jedenfalls alles viel komplizierter, ambivalenter, vielschichtiger, als ich es erwartet hatte.

Das Urteil als Baustelle

Mein Blick, meine Lesart änderte sich mit der Zeit jedenfalls. Anfangs, etwa wenn ich in der Subway saß, nahm ich in erster Linie die schier unfassbare Vielfalt der Menschen in Hautfarbe und Sprachen wahr. New York als eine Art umgekehrtes Babylon: Auch hier wird in den Himmel gebaut; aber Gott straft die Menschen nicht, indem er ihnen die Fähigkeit nimmt, miteinander zu reden; sie reden bereits in tausend Zungen und entwickeln, während sie von überallher kommen, um am Turmbau mitzuwirken, erst hier ein gemeinsames Fundament des Kommunizierens. Mit der Zeit jedoch meinte ich zunehmend deutlicher zu beobachten, dass an diesem Fundament zwar unübersehbar und seit Langem gearbeitet wird, dass dessen Ausbau aber doch noch ein ganzes Stück entfernt ist von der Fertigstellung. Immer öfter fielen mir kleine Unterschiede auf. Dass Wachdienstleute beispielsweise, von denen es in Manhattan nur so wimmelt, meistens Afroamerikaner und Latinos sind. Dass nördlich des Central Park Schmutz und Elend zunehmen, die Atmosphäre aggressiver wird. Dass andererseits kostenlose öffentliche Veranstaltungen der New York University von auffallend wenig dunkelhäutigen Menschen besucht werden.

Es ist nicht zuletzt diese Ambivalenz, diese Latenz, dieses Unsichtbare, das dann doch immer wieder hervorbricht und sichtbar wird, um gleich darauf schon wieder zu verschwinden, das New York City in meinen Augen so außerordentlich und einzigartig macht. Man ist ständig hin und hergerissen. Nie wird man fertig mit der Einschätzung und Bewertung seiner Eindrücke und Erfahrungen. Genau wie New York selbst bleibt auch das eigene Urteil eine Baustelle, ein ewiges work in progress. Dies charakterisiert den „Geist“ dieser Stadt vielleicht mehr als alles andere.

Aber das Fundament zu beachten, kann dennoch helfen, die gesellschaftlichen Dynamiken hier zu begreifen. Gleich in der ersten New York Times, die ich mir am Kiosk holte, fand ich eine Besprechung des neuen Buchs von Ta-Nehisi Coates‘ We Were Eight Years in Power. Ich besorgte es mir umgehend im Bookstore, wo es bereits in Stapeln auflag. Coates wird nach Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison in den USA als Nachfolger James Baldwins gehandelt und ist hier (anders als in Deutschland, wo die literarische Tradition des kritischen Essays, die es zu Hans Magnus Enzensbergers Zeiten noch gab, seit Langem kaum noch Beachtung findet) eine bedeutende intellektuelle Instanz. Auch das ist eben Teil der Ambivalenz: Unvorstellbar, dass im Stadtbild einer deutschen Universitätsstadt Sätze von zeitgenössischen Schriftstellern in die Fenster geklebt würden – in diesem Fall in die Fenster der New York University Sätze von Chimamanda Ngozi Adichie aus ihrem Roman Americanah, der auch in meinen Essayband Erschütterungen über Literatur und Globalisierung eine maßgebliche Rolle spielt. Ta-Nehisi Coates jedenfalls, der sein Buch in der 125th Street in Harlem beginnen lässt, brachte mir nicht nur wieder in Erinnerung, was für ein außerordentliches Ereignis Barack Obamas Präsidentschaft für die Vereinigten Staaten von Amerika angesichts der Tatsache darstellte, dass in Teilen dieses Landes bis vor fünfzig Jahren noch Apartheid herrschte. Er zeigte mir darüber hinaus die historische Kontinuität auf, mit der noch jeder politische Durchbruch gegen den Rassismus mit einem desto drastischeren Rückschlag beantwortet wurde.

Überwindung rassistischer Grenzen

Dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Präsidentschaft Obamas und der Wahl Trumps, scheint auf der Hand zu liegen. Für Coates besteht er jedoch nicht deshalb, weil Obama etwas falsch gemacht hätte. Im Gegenteil, sagt Coates, seien er als Präsident, seine Familie und sein Führungsstab der lebende Beweis, ja geradezu Reklame dafür gewesen, wie leicht Afroamerikaner restlos im amerikanischen Mainstream aufgehen, in dessen Kultur, Politik und Mythen integriert werden könnten. Nicht schlechtes, sondern „good Negro government“ sei stets das Problem in der Geschichte des US-amerikanischen Rassismus gewesen. Dessen zentraler Konflikt breche seit dem Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder dann auf, wenn das Weißsein allein plötzlich nicht mehr ausreiche, die früheren Sklaven an der Machtübernahme zu hindern („taking up residence in the castle„, wie Coates schreibt). Deshalb sei auf jede Überwindung rassistischer Grenzen mit großer Wucht und beinahe automatisch der Aufstieg rechter weißer Konservativer erfolgt (Ta-Nehisi Coates führt dafür jede Menge historische Beispiele an), und Donald Trump nur ein bislang letztes Glied in einer langen Kette.

Ethnische Konflikte, Sklaverei, tiefste soziale Klüfte zwischen unermesslichem Reichtum und unvorstellbarem Elend prägen, ja, konstituieren die US-amerikanische Geschichte. Vermutlich sind es Erschütterungswellen dieses Grundkonflikts am Fundament der Gesellschaft, die auch in einer Anti-Trump-Stadt wie New York City einmal mehr, einmal weniger deutlich zu spüren sind. Aber es gehört eben auch zu dieser Gesellschaft, dass New York als Anti-Trump-Stadt möglich ist, dass der Kampf gegen Rassismus und soziale Diskriminierung geführt wird und gleichfalls die Geschichte der Vereinigten Staaten konstituiert. Und dass auch dieser Kampf noch lange nicht abgeschlossen, sondern ebenfalls ein work in progress ist. Auch die öffentliche intellektuelle, selbstkritische Debatte geht weiter, nicht zuletzt im Deutschen Haus an der New York University, meinem großartigen Gastgeber. „Was ist los? Reflexionen über Wahrheit, Politik, Demokratie und Sprache“ lautete der aufschlussreiche Titel einer Tagung, auf der das Verhältnis von Geist und Macht in Zeiten populistischer Politikkultur diskutiert wurde.

Und dies ist am Ende der entscheidende Eindruck, den ich von New York, aus den USA unter Donald Trump mit nach Hause nehmen werde: Die Dynamik zur Überwindung des Unrechts in der Gesellschaft ist intakt. Der kulturelle Prozess, der jede emanzipatorische Vertiefung demokratischer Prinzipien begleitet, geht weiter und wird auch die Regierung dieses Präsidenten überstehen. Denn diese Kultur ist da, auch wenn sie immer wieder wie von der Bildfläche verschwunden scheint.

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