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Erinnern kann auch cool sein

 

Wir brauchen eine Erinnerungskultur an den Holocaust, die einen emotional erreicht und nicht zur Abwehr zwingt. Sie muss das Alte mit dem Gegenwärtigen verbinden.

Copyright: Alex Grimm/Getty Images

Vor ein paar Monaten postete ich auf Facebook ein Gesuch, in dem ich nichtjüdische Deutsche fragte, ob sie an einem Workshop zur Nachkommenschaft der Täter des Nationalsozialismus teilnehmen möchten und deshalb sie darum bat, die Akten ihrer Großeltern und Urgroßeltern zu beantragen. Ich erhielt Hunderte von Nachrichten. Nachrichten, in denen diese nichtjüdischen Deutschen erzählten, sie wüssten gar nicht, dass sie überhaupt Akten beantragen können, dass sie es schmerzlich bedauern, nichts über ihre Großeltern und deren politische Verbindungen zu wissen, dass sie diese diffuse Schuld leid seien, und dass sie aufarbeiten möchten, was bis dato niemand aufgearbeitet hat. Das Deutsche Bundesarchiv war so genervt von den vielen Anrufen, dass man mir ausrichten ließ, ich solle aufhören, diese Deutschen auf ihre Großeltern anzusetzen. Es wäre alles nicht so leicht, wie ich behaupte, die Akten zu bekommen, dauere sowieso bis zu einem Jahr und überhaupt, ist das denn nicht alles ewig her? Wozu das Ganze?


Ein ungestilltes Bedürfnis nach Vergangenheit

Ich war erleichtert. Ich war erleichtert, dass sich so viele meldeten. Ich war erleichtert, dass meine Intuition richtig gewesen ist, es ein ungestilltes Bedürfnis gibt, nämlich auf nichtjüdischer Seite, etwas über die eigene Biografie zu erfahren. Ein Bedürfnis, diese persönliche Lücke zu schließen, eine Lücke, die sich uns auf so gut wie jeder deutschen Unternehmensseite offenbart: dass es keine Geschichte zwischen 1933 und 1945 gibt. Jedenfalls keine persönliche und keine unternehmerische, sondern immer nur eine übergeordnet politische, die alle damals lebenden Deutschen völlig entpolitisiert. Als sei da eben ein Trupp Außerirdischer gelandet und habe alle geliebten Juden umbringen lassen. Aber so war es ja nicht.

Wenn die nichtjüdischen Deutschen in zweiter oder dritter Generation reflexartig und unaufgefordert ständig auf ihre nicht vorhandene Schuld verweisen, dann natürlich, weil sie da etwas spüren, was sie nicht nur nicht spüren wollen, sondern, was sie natürlich auch nicht spüren müssten. Diese diffuse Schuld entspringt der Vermutung, dass da eben jemand in der eigenen Familie den Auslöser gedrückt, ein Grab ausgehoben oder Zyklon B nach Auschwitz transportiert hat. Und darum zu wissen, wäre eine Katastrophe, aber auch eine große Erleichterung, weil das diffuse Schuldgefühl verschwinden würde. Aus einer Vermutung entstünde eine Tatsache, oder diese Vermutung würde widerlegt werden. Was auch immer passierte, der Unwissende würde zum Wissenden und könnte sich mit dem neugewonnen Wissen auseinandersetzen, sich dazu verhalten und langfristig etwas über zivile Verantwortung in einer Gesellschaft lernen.

Vor ein paar Tagen forderte die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, man müsse KZ-Pflichtbesuche einführen, und ich dachte sofort: Gibt’s die nicht schon längst? Ich kenne niemanden, wirklich niemanden, der zwischen 15 und 99 Jahren alt ist und noch niemals in einem KZ war. Und trotzdem haben diese zumeist in der Schulzeit stattgefunden KZ-Besuche nicht dazu geführt, dass man sich nun nicht mehr „Ey, du Jude“ als Beleidigung in der Schule hinterherruft. Ich würde sogar meine Hand dafür ins Feuer legen, dass der Pöbler vor dem Berliner Restaurant Feinberg’s mindestens einmal in seinem Leben ein KZ gesehen hat. Aber ich würde auch meine Hand dafür ins Feuer legen, dass der Pöbler vorm Feinberg’s sich nicht mit seiner eigenen Familienhistorie auseinandergesetzt hat.

Ich weiß, ich weiß. Es gibt da eine große Angst, genau das zu tun, weil man befürchtet, derjenige, der Opa plötzlich auf einem Foto mit SS-Uniform und Hitlergruß sieht, würde irgendwie patriotische Gefühle bekommen und selbst beginnen, hinter verschlossenen Vorhängen vor dem Spiegel Opi zu imitieren. Aber ich glaube, dass diese Befürchtung unbegründet ist und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie nicht zur Heroisierung oder Idealisierung von Straftaten führt. Ich glaube daran, dass große Fehler gemacht wurden, wenn es um die Aufarbeitung mit der deutschen Vergangenheit geht. Es muss ein Umdenken stattfinden, um die Probleme, die wir jetzt schon mit Antisemitismus haben, angehen zu können.

Die Idee, ein KZ-Besuch würde zu Empathie und dem Rückgang von Judenhass führen, so wie Schlachtbankvideos auf Facebook alle zu Vegetariern machten, ist eine Wunschvorstellung. Jeder reagiert auf unmenschliches Leid unterschiedlich. Jeder reagiert auf Tod unterschiedlich. Und nicht jeder, der genervt und rauchend im KZ in der Ecke steht, ist ein empathieloses Arschloch und die weinende Einserschülerin eine moralische Instanz, der es nachzueifern gilt. Das ist zu kurz gedacht.

Ups, wir haben ein Problem

Als im Sommer 2015 mein Debütroman Winternähe erschien, verortete so gut wie jeder Journalist, mit dem ich sprach, Antisemitismus in eine Zeit, die irgendwie hinter uns liegt. Während meiner Lesungen reagierten die Zuhörer auf die von mir im Buch geschilderten antisemitischen Übergriffe mit Verwunderung. Ob Journalisten oder Leser, sie alle hielten die Schilderungen für Übertreibungen, die die Verkaufszahlen hatten hochtreiben sollen. “Antisemitismus? Gibt es nicht!“, war die allgemeingültige Antwort.

Heute, zweieinhalb Jahre später, den Jungen in der Steglitzer Schule später, die Antisemitismus-Dokumentations-Debatte später, den Pöbler vorm Feinberg’s später und die verbrannten israelischen Flaggen, die anlässlich der Trumpschen Jerusalem-Botschaft-Quatsch-Äußerung auftauchten später, bemerken fast alle, dass wir sehr wohl ein Antisemitismusproblem in Deutschland haben, auch wenn das den meisten sehr sehr unangenehm ist. Diejenigen, die ein Problem mit Flüchtlingen haben, richten ihre Finger auf die vielen Neuankömmlinge der letzten drei Jahre. Diejenigen, die rechtsgesinnt sind, schimpfen auf den linken Antizionismus. Diejenigen, die links sind, mahnen die unmoralischen Rechten ab. Alle, ausnahmslos alle, instrumentalisieren dafür medial Juden.

Es ist kaum zu glauben, wie oft ich in diesem Jahr zu meiner „Angst vor den Flüchtlingen“ befragt wurde. Es ist kaum zu glauben, wie oft ich zu Björn Höckes „Denkmal der Schande“ befragt wurde. Und es ist kaum zu glauben, wie oft ich nach den linken Israelhassern befragt wurde. Immer wissend darum, dass da vor mir gerade einfach nur die andere Seite steht, hoffend darauf, dass ich ihnen mit meiner Aussage in die Hände spiele. Meine Antwort war ausnahmslos: Mir ist es ehrlich gesagt scheißegal, woher der Antisemitismus kommt, welche Hautfarbe, Gesinnung und politische Überzeugung der Antisemitismus hat. Einfach, weil er weder besser oder schlechter abhängig von irgendeiner Seite ist. Einfach, weil die Beispiele der Antisemitismus-Debatten des letzten Jahres zeigen, dass er auf allen Seiten existiert und es nicht ausreicht, ihn jetzt einer Seite in die Schuhe zu schieben, sondern zu begreifen, dass da 70 Jahre lang etwas schiefgegangen ist. Sonst hätten wir das Problem nämlich nicht.

Antisemitismusfreie Zukunft

Am 27.1. ist der Internationale Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus. Die allgemeine Reaktion auf einen solchen Tag, auf Mahnmäler und bedeutungsschwangere Reden ist in etwa dieselbe, als sähe man auf Tinder das Selfie eines Typen mit einer Hantel in der Hand. Man swipt eiskalt nach links. Unsere große und wichtige Aufgabe, meine große und wichtige Aufgabe, und die aller Zugehörigen der dritten und vierten Generation auf jüdischer sowohl nichtjüdischer Seite ist, Erinnerungskultur so zu gestalten, dass man nach fucking rechts swipt. Dass Erinnern nicht nervt, sondern einen etwas lehrt. Dass Erinnern einen emotional erreicht und nicht emotional zur Abwehr zwingt. Dass Erinnern auch lebensorientiert und nicht ausschließlich leichenbasiert ist. Dass Erinnern Spaß macht, auch wenn es möglicherweise sehr wehtut.

Solange man jüdische Zeitzeugen durch deutsche Schulen peitscht und jedes Kind denkt, da sitzt der letzte Jude Deutschlands vor mir, weil man versäumt, diese Kinder mit jungen, lebenden Juden, ja mit jüdischem Leben, das es sehr wohl in Hülle und Fülle in Deutschland gibt, in Kontakt zu bringen; solange man die Opferbiografien studiert und die Täter stilisiert und so von der eigenen Historie abschneidet; solange man in KZs marschiert, aber niemals eine Klassenfahrt nach Tel Aviv organisiert – solange wird der Versuch, Antisemitismus zu verhindern, scheitern. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus muss komplex sein. Sie muss das Alte mit dem Gegenwärtigen in Verbindung bringen, um so für die Zukunft zu lernen. Sie muss Täter und Opferbiografien gleichermaßen studieren, um etwas über Zivilcourage zu lernen. Sie muss die transgenerationale Weitergabe von Traumata auf beiden Seiten thematisieren. Die neue Erinnerungskultur muss dazu führen, dass ich keine E-Mail mehr bekomme, in der ein nichtjüdischer Deutscher fragt, ob er mit mir einen Kaffee trinken könne, er habe schließlich noch nie eine lebende Jüdin kennengelernt.

Das ist alles nicht super einfach, aber machbar. Wir müssen nur endlich damit beginnen!