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„Wissense, wo se hier sind? Uff de Scheiße von Berlin“

 

Herr Paulke, Marzahner Ureinwohner, hat sein Leben lang geschleppt: Schränke oder Klaviere. Seine Füße sind reparaturbedürftig, seine Sprüche dafür umso flockiger.

© Sean Gallup/Getty Images

Dieser Text ist Teil unserer Mini-Serie „Fußpflege in Marzahn“. Alle Folgen finden Sie hier.

Am östlichen Rand von Berlin, in Marzahn, stehen die Plattenbauten: Elfgeschosser, Achtzehngeschosser, Fünfundzwanziggeschosser. Am Fuß eines solchen Hochhauses liegt unser Kosmetikstudio. Hier arbeite ich als Fußpflegerin. Als ich vor knapp drei Jahren anfing, gehörte Herr Paulke zu meinen ersten Kunden. Während der ersten Behandlung hatte er mich lachend gefragt: „Wissense, wo se hier sind? Uff de Scheiße von Berlin. Dit warn früher allet Rieselfelder, und denn hamse Hochhäuser hinjeklotzt. Wo de Erde uffjebuddelt is, könnset noch riechen.“

Herr Paulke war Erstbezügler, seit 1983 wohnte er hier, ein Marzahner Ureinwohner, ein Prolet, ein Greis nun, mit Anstand im Leib, fatalistischem Witz und Demut gegenüber den Massakrierungen des Alters. Herr Paulke nahm sich einfach nicht so wichtig. In seinem Gesicht herrschte ein asymmetrisches Durcheinander: schielende Augen, Warzen, Altersflecken, der Zahnersatz krumm und schief, ein Sammelsurium aus verschiedenen Zeitaltern. Die Knie total kaputt. Arthrose. Die Füße hatten mir beim Erstkontakt, als ich sie ins Wasser stellte und wusch, einen Schrecken eingejagt. Bald mochte ich sie. Sie waren rundum geschwollen, die Haut braun verfärbt und schuppig, von tausend lilablauen, wirr verlaufenden Adern zerfurcht. Wie verwitterte Steine.

Herr Paulke hat bei Autotrans gearbeitet, der größten Spedition der DDR. Er hat sein Leben lang geschleppt, Schränke, Kühltruhen, Klaviere. Sein Kombinat hat nicht bloß poplige Wohnungsumzüge gemacht, es hat ganze Betriebe von A nach B verpflanzt, Orchester auf Gastspiele ins Ausland begleitet. Das, erzählte Herr Paulke, sei schön gewesen. Ab und zu hätten er und seine Kollegen umsonst ins Konzert gedurft, bevor sie den ganzen Kram wieder abtrugen, auf Lkws luden und in die Heimat transportierten. Als Herr Paulke nicht mehr schleppen konnte, ließ er sich in den Kundendienst versetzen, Ortsbegehungen, Vorabsprachen, Kalkulationen. Als auch das zu schwer wurde, wollte er ins Büro wechseln, was man ihm verwehrte. Herr Paulke nahm finanzielle Einbußen in Kauf und ging mit 57 Jahren in den Vorruhestand. 1989 kam die Wende und für Herrn Paulke der Lymphknotenkrebs, unterhalb des rechten Kiefers. Er wurde operiert und bestrahlt.

Überpünktlich, etwas abgemagert

Als der Krebs unter Kontrolle gebracht war, fingen Herr und Frau Paulke das Reisen an, jedes Jahr zweimal, und Herr Paulke sagte im Rückblick: „Dit war jut, wie wa dit noch abjegriffen haben.“ Er wusste von den Fjorden Norwegens zu berichten, von den Palmen im Tessin, von den Pubs in Dublin. Das Reisen war, als ich Herrn Paulke kennenlernte, schon lange nicht mehr möglich. Sein Aktionsradius verkleinerte sich zusehends.

Jedes Mal, wenn ich Herrn Paulke wiedersah, war er an einer anderen Stelle reparaturbedürftig. Einmal erzählte er, man habe ihm auf der rechten Seite „sone Art Schlauch einjebaut, vom Hals bis inne Leiste, der rejuliert irjendwat und muss ab und zu nachjestellt werden“. Genau wusste er es nicht; er vertraute den Ärzten. Für jeden seiner Arztbesuche musste Frau Paulke telefonisch den Krankentransport bestellen, häufig ging es in Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn, „ins UKB“, sagte er, manchmal aus Versehen „UKW“. Nur die Physiotherapeutin kam ins Haus, zweimal die Woche für zwanzig Minuten. „Die looft mit mir de Treppen ruff und runta, Kniebeujen muss ick machen, uffn Rücken liejen und radfahrn.“ Ich staunte über die Übungen. „Jaja“, sagte Herr Paulke ein bisschen stolz, „allet sone Dinga!“

Als vor eineinhalb Jahren der Krebs im Unterkiefer zurückkam, erzählte mir Herr Paulke von der bevorstehenden Operation, wieder mal im UKB. „Hamse Schiss?“, fragte ich, während ich seine Füße für den Krankenhausaufenthalt in Ordnung brachte. Herr Paulke überlegte kurz. „Wennet klappt, denn klapptet, und wennet nich klappt, denn klapptet nich.“ Sechs Wochen später stand er wieder vor der Tür, überpünktlich, etwas abgemagert: „Essen war beschissen, drei Wochen bloß Suppe, zehn Kilo hab ick valorn. Aba de Zehennägel sind jewachsen.“ Seine Zehen zuckten, als ich überschüssige Nagelhaut entfernte. „Kitzelt, wa?“, lachte ich. „Umso bessa“, lachte Herr Paulke, „denn lebt noch wat!“

Im September 2016 kam Herr Paulke ohne Zähne; die ganze obere Kauleiste fehlte. Wo die Schneidezähne hingehört hätten, glänzten zwei dunkelgoldene Stummelchen. Das provisorische Gebiss benutze er nicht, weil es scheuere, erklärte Herr Paulke. „Banane jeht ooch nich, dit vaklebt allet, wejen Untadruck.“

Beim Lächeln die Lippen geschlossen

Immer wenn ich über Herrn Paulkes flockige Sprüche lachte, zeigte sich eine hauchzarte Regung in seinem Gesicht, eine Mischung aus Unglauben, Stolz und Scham. Er war nicht mehr gewohnt, dass man auf ihn reagierte. Für diesen Augenblick schien die Erinnerung an den jungen, kräftigen Mann auf, der Herr Paulke einmal gewesen war. Der mit den Weibern geflirtet hatte. Er hätte noch gewusst, wie es geht. Er hatte ein gutes Gedächtnis.

Ich cremte ihm an jenem Septembertag vorsichtig die Füße ein, zog die Handschuhe aus und Herrn Paulke Socken und Schuhe an. Er stemmte sich aus dem Fußpflegestuhl. Ich hielt ihm beide Hände hin. Er legte seine hinein. Warme, schlaffe Haut. So angefasst standen wir einander gegenüber, blickten uns an. Es war schön. Es gefiel uns. Es diente auch, aber nicht nur zur Stabilisierung von Herrn Paulkes Kreislauf. Ich hätte ihm gern einen Fussel von der Schulter gezupft, seinen Kragen gerichtet oder ihm ganz kurz die Wange gestreichelt. Ihn über die Serviceleistung hinaus berührt. Herr Paulke hielt beim Lächeln die Lippen geschlossen.

„Es war mir wie immer ein Vergnügen“, sagte ich.

„Mir ooch“, sagte er, schlug die Augen nieder.

Dann sah er über meine Schulter hinweg und durch die Fensterscheibe. „Meene Frau, da isse.“

Herr Paulke hängte sich bei mir ein; wir schlurften in den Eingangsbereich. Ich öffnete Frau Paulke die Tür. Ich gab Herrn Paulke einen neuen Termin, kassierte zweiundzwanzig Euro und bedankte mich für das wie immer großzügige Trinkgeld. Ich ließ das Handtuch und die Brieftasche von Herrn Paulke in Frau Paulkes Beutelchen rutschen, aus dem sie einen Kalender hervorzog, eigentlich nur ein dickes DIN-A-4-Blatt. „Hab ick jekooft, für nächstet Jahr“, sagte Frau Paulke, und dass sie immer wie verrückt hinterher sein müsse mit all den Terminen. Dass man beim Augenarzt erst in drei Monaten einen Termin kriegt. Dass morgen schon wieder die Physiotherapeutin aufkreuzt. Dass ihr künstliches Hüftgelenk nicht mehr mitspielt. Dass sie morgens schwer in die Gänge kommt. Dass sie am besten schnell laufen kann. Dass ihr Mann aber nur langsam laufen kann. Dass es auf dem Markt Räucherfisch gibt. Dass bei Lidl demnächst ein Pfennigpfeiffer einziehen soll.

Mülltüten, Wattepads, Kaffeesahne

Herr Paulke verabschiedete sich, wuchtete den Rollator aus der Tür, schob in langgezogenen, lahmen Schritten davon, die Knie eingeknickt, der Oberkörper gebeugt. Frau Paulke tippelte nebenher. Ich rief: „Bis in sechs Wochen! Passense uff sich uff!“ Herr Paulke hob eine Hand. Umdrehen konnte er sich nicht mehr, zu groß die Mühe, sich fortzubewegen.

Vier Wochen später rief Frau Paulke an. Ihr Mann könne zum nächsten Termin nicht kommen, weil „… er is jestorben“. Erschrocken drückte ich Frau Paulke mein Beileid aus. Gerade seien die neuen Zähne fertiggeworden, erzählte sie aufgeregt, hier vor ihr auf dem Tisch lägen sie, in der Dose. „Zweetausend Euro soll ick bezahlen, und nu hatta janüscht mehr davon. Die kann ja ooch keen andrer nehmen, die Zähne.“

Ich schloss für einen Moment die Augen. Dann radierte ich im Terminbuch Herrn Paulkes Namen aus.

Neulich traf ich Frau Paulke bei Netto. Ich brauchte Mülltüten, Wattepads und Kaffeesahne fürs Studio. Frau Paulke war auf der Suche nach Leipziger Allerlei. Sie sah schmal aus, ging am Stock. Ich fragte, ob sie ihren Mann manchmal auf dem Friedhof besuche. Sie schüttelte den Kopf. „Dit is zu weit. Eenma hat ma mein Sohn hinjefahrn. Da hab ick uff de Bank jesessen. Übrijens, die vonne Kasse warn echt kulant. Für de Zähne von mein Mann musst ick bloß fünfhundert Euro bezahlen.“

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