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Es ging immer um die Befreiung der Frau

 

Politikerin und Sexsymbol: Ilona Staller, Cicciolina, ist im selben ungarischen Plattenbauviertel aufgewachsen wie ich. Ein Treffen mit der Ikone meiner Kindheit.

© Giuseppe Cacace/Getty Images

Sie ist in Kőbánya, einem Viertel in Budapest, geboren, heißt Ilona Staller, und ich habe sie vor einigen Wochen in Rom inmitten netter südlicher Häuser in einem Café getroffen. Traumkörper meiner Kindheit und Weltpolitik einer Frau von uns. Sie stellte etwas dar, das lange als Tabu galt, heute sind diese Tabus zu herrschenden Bildern in den Medien geworden. Wir sind satt, sagt meine Freundin, eine Kulturwissenschaftlerin, die mit uns am Tisch sitzt – diese Bilder regieren die Liebe. Frauen sind stets Objekte in der Politik der Pornografie.

Damals verliefen die Grenzen anders. Durch Ilona Staller aber bekam Intimität eine Bühne. Es ist machbar, dachten und lächelten wir hinter dem Eisernen Vorhang. VHS-Kassetten aus Italien, in jedem Haushalt. Genau wie die Männer schauten auch wir Frauen zu und rieben uns die Augen, es war auf üble Weise anziehend. Doch: Eben auch ein Hauch von Befreiung war immer dabei in Cicciolinas rosa-nackter Erscheinung. Die andere Seite der Befreiung hieß Sexindustrie und Sexarbeit, Liebe für Geld und als Konsum. Eine Frauenkarriere für Osteuropa: Keine Panik, die reichen Fischköpfe aus dem Westen kommen ganz sicher, wenn du Glück hast, heiratet dich einer von ihnen. Dann kannst du fortgehen.

Heute drehe sich das Ganze um, sagt mir Cicciolina gleich zu Beginn unseres Gespräches, und dass sie gern wieder nach Hause würde. Sie fühle sich wohl dort, wo sie geboren sei, würde am liebsten wieder nach Kőbánya zurückkehren. Rom gefällt ihr nicht mehr, die Zeiten, die Menschen, die sie damals so leidenschaftlich geliebt haben und die sie begeistert hat, gibt es nicht mehr. Niemand lacht, niemand zeigt sich ihr gegenüber glücklich, sie seien kalt geworden.

Sexarbeit ist Heimat

Kőbánya – das Wort bedeutet Steinbruch. Arbeiterviertel mit Bierfabriken und einem Gefängnis, der größte jüdische Friedhof („Kozma utca„) Europas, nebenan in Köztemető („Öffentlicher Friedhof“) auch eine Ruhestätte für die Opfer des Kommunismus (die Parzelle 301) aus dem Jahr 1956. Revolutionen sind hier Vergangenheit. Wie 1968. Sex ist keine Revolution mehr, niemand regt sich auf, und „Sexarbeit“ ist Alltag in der Gegend. Man denkt, der Kommunismus wäre völlig verschwunden, aber er war nie richtig da. Er war ein Ideal in den Köpfen, aber die Realität waren die wirklichen Körper.

Cicciolina war immer schon die bekannteste Frau meiner Heimat. Anziehend und weltberühmt. Seit meiner Kindheit beobachtete ich sie, wann immer ich konnte. Ich war gerade in der Pubertät (in den 1980er-Jahren), als sie häufig im Fernsehen auftrat. Sie hatte Humor und strahlte Offenheit aus, sie stellte unsere Vorstellungen auf den Kopf, und sie hatte recht. Was sie uns spiegelte, waren die wahren Wünsche der Gesellschaft. Ilona präsentierte ihren nackten Busen, ihren Kopf zierte ein Rosenkranz und immer hatte sie andere Kuscheltiere dabei. Sie hatte ihre eigenen Ideen und sprach voller Überzeugung und unverstellt über sie. Sie war eine Erscheinung, etwas ganz Neues und dennoch heimisch, denn Porno und Sex sind hier zu Hause. Sexarbeit ist die Heimat. Was sie machte, war linke, radikale Politik. Den Idealen der 1968er entsprechend.

Heute dominiert im Osten Europas eine Art staatlich verordneter Antifeminismus. Umso wichtiger ist der Widerstand dagegen. Und Cicciolina ist wieder da, sie ist präsent in den Medien, man will sie wieder auf der Bühne sehen, im Radio ihre Stimme hören. Sie arbeitet jedes Wochenende, mal in Rom, mal in Budapest. Die Pornografie allerdings hat heute einen anderen Stellenwert. Niemand glaubt mehr an die Bedeutung der freien Sexualität. Selbst das Bürgertum hat alle Grenzen überschritten.

Brücken zwischen Ost und West

Ich wollte sie unbedingt einmal persönlich erleben. Jetzt sitzt sie uns gegenüber, lächelt, nett, aufmerksam. Wir lebten salamisozialistisch, totlangweilig, unterdrückt, abgegrenzt, und dann kam plötzlich ihre Darstellungskunst. Bedienung der Intimität. Auf der Bühne in der Showkugel, im Aquarium. Aber ich wollte sie nicht in ihrer Nacktheit (die heute ohnehin nichts mehr bedeutet), sondern in ihrer Existenz als Politikerin, als eine Frau, die die anderen befreien will, die über freie Bordelle redet. Sie ist die Politikerin der Pornografie. Wie viel Freiheit hat das, was sie darstellte, gebracht? Was passierte nach der Nacktheit? Was hat sie erreicht? Wo lagen die Grenzen ihrer Freiheit, des schrägen Ost-Feminismus einer sozialistischen Superfrau? Sie redet gern darüber, no problemo.

Im Frühling 1990, als die russischen Soldaten Ungarn bei Kiskunhalas verlassen haben, war sie da. In einem auffälligen grünen Kleid, aus eigenem Interesse, aber doch im Namen ihrer Partei, der Radicali Italiani, winkte sie und lächelte die strengen Soldaten an. Die Wendezeit war die zweite Befreiung – sie sieht sie immer noch als das größte Ereignis in ihrem Leben, als Beginn des freien Handelns. Als die Möglichkeit, wieder Brücken zwischen Ost und West aufzubauen. Ja, die Journalisten mögen es nicht, wenn sie heute zu positiv über Osteuropa spricht. Sie merke das. Mafia und Diktatur, es gibt keinen Unterschied, Italien und Berlusconi oder Ungarn und Orbán, Sex oder Politik, sie redet kein Wort mehr darüber, sie weiß zu viel, sie kennt diese Welten. Mit Haut und Haar, nackter Haut und blonden Haaren.

Sie sieht aber nicht ein, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa noch groß sein sollen. Der Westen soll freier sein? Wovon? Solche Dinge sagt sie durchaus. Wir sprechen über die Ausbeutung der Frau, über #metoo, über die zahllosen Kinderpornofilme auf Handys, zu jeder Zeit sichtbare BDSM, über Transgender, Körper- und Geschlechtsumwandlung für Kids. Es gibt keine Ästhetik mehr, wiederholt sie. Die Ikonen sind digitalisiert. Natürlichkeit, Tiere und Rosenkranz – das waren ihre Symbole. Echte Natur. Wieso nicht Kőbánya? Sie will wieder in Budapest leben. Sie hätte immer noch eine Showkugel, in der sie sich nackt präsentieren kann – darin ist sie frei, weil sie die Freiheit zeigen kann. Eine Zauberkugel und ein Traum.

Die Männer haben tausendmal mehr kassiert

Kőbánya bedeutet zehnter Bezirk. Für die Arbeiterklasse bedeutet der Name Kőbánya ein Bier. Ich bin ebenfalls dort aufgewachsen. Wie sie acht Jahre lang in die Schule gegangen, in einem Plattenbaugebiet. Kiserdő, in diesem Wald hatte man die ersten sexuellen Erfahrungen, ja, die Kiserdő, ich kenne sehr wohl die Büsche in dem kleinen Wald. Heute leben dort am Rande der Stadt Obdachlose und Drogensüchtige, die Prostitution floriert. In der Kádár-Zeit war die Kiserdő gepflegt und sauber.

Auf einmal erzählt Cicciolina Szenen aus ihrer Kindheit, wie sie jahrelang von dem dicken Freund ihres Stiefvaters belästigt worden ist, wie sie fliehen wollte von zu Hause. Weg. Egal mit wem, einfach nur weg. Ich weiß, wovon sie spricht. Es gab da diesen Schwimmtrainer im zehnten Bezirk. Er streichelte, küsste und prügelte uns. Es gab keinen Unterschied zwischen den Kindheiten im ungarischen Plattenbaugebiet. Es gab nur einen Ausweg – weg von hier.

Aber was geschah, wenn man es geschafft hatte, wegzukommen? Nichts Besseres, weißt du, sagt sie, ich heiratete einen wirklich hässlichen Italiener, landete im Jahr 1971 in Milano, und was war dort? Nichts, er hatte nichts, ich musste arbeiten, denn ich wollte, dass wir mindestens eine Toilette in der kleinen, grauen Wohnung hatten. Nacktaufnahmen habe ich schon in Budapest machen lassen, ich war schön, sie mochten mich bei der staatlichen Werbeagentur, MTI. Ich dachte, ich bin frei, und landete beim Pornofilm. Ich habe viel Geld verdient, aber die Männer haben durch mich noch tausendmal mehr kassiert. Heute würde ich das nicht mehr dulden, ich würde vieles anders machen mit Männern.

Ein italienischer Traum

Grün sein, freie Sexualität leben, die Liebe zur Kunst und zum Körper zelebrieren – die Ideen 1968er, wohin sind sie verschwunden? Statt freier Sexualität gibt es heute einen neoliberalen Markt der Sexarbeit, ohne Grenzen. Die Frauen kommen aus der Ukraine, Rumänien, Bulgarien. Was ist feministisch an freier Sexualität? Wahrscheinlich nichts. Die jungen Mädchen landen mit 15 oder 16 schon im „Sexworking“. Ja, in Ostungarn (Nyíregyháza, Ózd), genau dort gibt es die größte Bereitschaft, Prostitution und Menschenhandel zu organisieren, genau dort, wo heute Viktor Orbán und die Fidesz die meisten Anhänger haben. Ja, ja, von von dort stammen sie alle, die jungen und hübschen Blonden.

Wir trinken Cappuccino, essen Kekse und weiße Schokolade. Ilona Staller erzählt über ihre vier Wohnungen in Rom, die sie vermietet. Sie lebt davon, seit Jahren wohnt sie allein und hat zehn Tiere. Sie liebe Tiere und die Natur.

Kőbánya sei ein Steinbruch. Sei aus Sand und Freiheit gebaut, wie es in den Achtzigerjahren in einem bekannten ungarischen Wendelied gesungen wurde, die Gruppe hieß Bikini. Es wird hart und viel gearbeitet im Steinbruch. Sei Sex auch eine Arbeit wie alle anderen? Cicciolina sagt eindeutig ja, dann spricht sie von ihren Vergewaltigungen. Ihre Stimme bricht. Sie weiß, es ist oft die pure Ausbeutung, und BDSM-Pornos sind ekelhaft, und wenn Kinder zum Sex gezwungen werden, das sei furchtbar. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie nie damit angefangen. Doch ist sie bis heute von der Legalisierung der Bordelle überzeugt und davon, dass sie ihr Leben in der Pornoindustrie richtig geführt hat. Sex sei ihre Arbeit gewesen, immer tagsüber, zwischen 11 und  17 Uhr. Dabei habe sie oft daran gedacht, was sie am Abend zu Hause noch erledigen muss: einkaufen, kochen, Dinge reparieren, Wäsche waschen. Sie wollte die Hausfrauen befreien und ihnen ermöglichen, anders über Sex zu sprechen. Sie sei Pornostar und Politikerin, sie kennt beide Seiten. Ob es „P“ oder „P“ heißt, ist fast egal.

P und P. Weißt du, sagt sie, es gibt viele Lügen darüber, was guttut und wie Sexualität schaden kann, genauso wie Politik den Menschen schaden kann. Pina heißt übrigens Möse im Ungarischen. Dieses P sollte eine große Verantwortung haben …

1989, Cicciolina sitzt im Parlament. Federico Fellini ist begeistert von ihr, nennt sie eine Bombe, „Cicciolina ist ein italienischer Traum“. Jean Baudrillard behauptet, sie sei eine Ikone wie Michael Jackson oder Madonna – sie sei die künstliche Sexualität, eine Idealform. Gegen Prüderie, gegen alle gewohnten Reflexe arbeitete sie jahrelang und tut es noch immer. Heute ist es die neue PC-Prüderie der westlichen Welt, die im Osten vorbehaltlos übernommen worden ist.

Bedienen und Wünsche erregen

Was hat es deine Seele gekostet, in Kőbánya aufgewachsen zu sein? Alles. Ich wollte alles tun, sagt sie, um der Armut zu entkommen, und auch meine Mutter wollte, dass ich es schaffe. Wir waren sehr arm, vier Geschwister, dazu ein Stiefvater. Der Stiefvater war es auch, der Ilona gezwungen hat, den Italiener zu heiraten. Am Vorabend der Hochzeit habe der noch im Auto ihre Freundin gevögelt. Obwohl Cicciolina seit 1971 in Italien lebt, erst in Mailand, dann in Roman, spricht sie ihre Muttersprache ohne Akzent. Auch ihr Sohn, Ludwig Koons, spricht Ungarisch. Wir reden über ihre Mutter, die Hebamme war, eine schöne Frau, sie schrieb Tagebücher und Märchen, eine perfekte Erscheinung, Eleganz, vier Kinder – geschieden und ohne Geld. Ihr hat sie nie von dem dicken Freund des Stiefvaters erzählt. Erst kurz bevor die Mutter starb, hat sie ihr offenbart, was passiert ist. Die Mutter habe geweint. Es war Ilonas größtes Geheimnis, denn man schweigt und schämt sich, wenn einem als Kind so etwas widerfahren ist. Meine Mutter hat immer zu mir gehalten, erzählt sie, auch als ihr Sohn zur Welt gekommen sei und als sie aus den USA haben fliehen müssen, wegen der Drohungen von Jeff Koons und dessen Familie.

Was also hat die nackte Natürlichkeit befreit? Die Frauen bedienen – das bleibt. Auch ich habe etliche Männer bedient, die mich ausgenutzt haben, sagt sie, Politiker, Künstler, Pornofilmdarsteller. Jeff Koons verdiene noch heute das meiste Geld mit Fotos von ihr, mit seinen Cicciolina-„Made in Heaven“-Bildern.

Ilona ist nett, wenn man sie trifft, zugewandt. Cicciolina bedient gern, erregt Wünsche. Nicht weil sie bedient, ist sie anziehend, sondern weil sie von Natur aus ist wie eine Dienerin. Es ist ihre Überlebensstrategie geworden.

Über die Zukunft redet sie auffallend positiv. Wieso? Europa ist nicht tot? Nein, nur die Ästhetik der Sexualität hat etwas nachgelassen, sagt sie. Und dass sie eigentlich selbst längst gestorben sein müsste. 1987, als sie aufhörte Pornofilme zu drehen, starben viele ihre Kolleginnen, an Aids, Drogen, Depressionen. Für sie lief es anders, es gibt ein Karma, behauptet sie, man hätte Chancen, sie habe sie genutzt.

Ilona Staller sieht heute viele Dinge anders. Cicciolinas Vergangenheit wird sie aber nie verleugnen. Auch damals hat sie es nicht getan, als die Kollegen der Radicali Italiani sie dazu bewegen wollten. Sie wird nie schlecht über Pornofilme reden, die sie gemacht hat. Aber was heute als Porno gilt, das hasst sie wirklich. Sie könnte kotzen. Die befreite Sexualität, die sie erreichen wollte, gibt es nicht. Die Ausbeutung der Frau hat sie nicht überwunden.

 

Ich danke Orsolya Bajusz, Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin, mit der ich Cicciolina in Rom besuchte.

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